Emil Angehrn

Sein Leben schreiben


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      Alle Probleme des Umgangs mit der Zeit werden im Alter verschärft erfahren. Man könnte das Alter zu den von Karl Jaspers besprochenen Grenzsituationen zählen, in denen die Grundverfassung des menschlichen Daseins exemplarisch hervortritt.12 Für das Alter betrifft dies das Schwinden der Zeit ebenso wie die Herausforderung, sein Leben zu gestalten und sich darin gegenwärtig zu werden, eine Herausforderung, die mit voranschreitender Lebenszeit dringlicher und schwieriger zugleich wird. Entsprechend kommt dem Akt des Erinnerns, der sich dieser Herausforderung stellt, gesteigerte Relevanz zu. Es ist zu verdeutlichen, worin diese Verschärfung besteht und was sie für das Problem der Erinnerung bedeutet.

      Verschärft ist als erstes das Vergehen der Zeit; dies durch den zweifachen Umstand, dass immer weniger Lebenszeit übrig bleibt und dass das Verrinnen der Zeit immer unaufhaltsamer, endgültiger wird. Ja, vielen scheint die Zeit immer schneller vorüberzugehen, nicht wegen der Annäherung an das bevorstehende Ende, sondern wegen der schwindenden Lebensdynamik, der zunehmenden Monotonie des Verlaufs. In eigenartiger Metamorphose wandelt sich die Beschleunigung des potenzierten Tätigseins in den Sog des Leerwerdens und Entgleitens. Einhergehend mit dem Verlust der Lebenskraft scheint der Zeitmangel, das Bewusstsein der begrenzten Frist akuter, es fehlt mit der Initiative auch die Zeit für eine Gestaltung der Zukunft. Immer mehr Pläne müssen unerfüllt bleiben, am Ende droht, wie Proust befürchtete, auch die Zeit zum Lebensrückblick dem Menschen zu entgleiten. Der Wettlauf mit der Zeit tangiert nicht nur inhaltliche Lebensprojekte, sondern ebenso die reflexive Bemühung um ein Zurechtkommen mit seiner Lebenszeit, die Verfügbarkeit von Sinnressourcen und Gestaltungsmöglichkeiten. Parallel zum realen Entschwinden verschärft sich das Bewusstsein der sich entziehenden Zeit; das Leiden entspringt der existentiellen Zeitnot wie ihrem lastenden Gewahrwerden. Die Verknappung der Zeit überlagert sich mit ihrer Unumkehrbarkeit, der Endgültigkeit des Lebensverlaufs, die ein Neubeginnen, eine korrigierende Wiederholung untergräbt. Mit dem Alter, so Thomas Rentsch, »radikalisiert sich die Zeitlichkeit des menschlichen Lebens«, intensiviert sich die Erfahrung der Endlichkeit, die nicht nur die Begrenztheit der verbleibenden Zeit und Lebenskraft bedeutet, sondern auch die zunehmende Unabänderlichkeit, die Unaufschiebbarkeit der gesetzten Frist und Endgültigkeit der geronnenen Lebensgestalt.13 Das Bewusstsein der nicht-realisierten Vorhaben verbindet sich mit den unterlassenen Möglichkeiten und verpassten Chancen in einer Schließung der Zukunft, welche der Gegenwart ihr Lebenspotential entzieht.

      In solcher Wahrnehmung treten allgemeine Züge der Zeitlichkeit des Lebens hervor, die erst der alternde Mensch in ihrer Stringenz erfährt. Erst ihm werden die Unwiederbringlichkeit des Vergangenen, die Endlichkeit und Irreversibilität der Zeit zum unabweisbaren Teil des eigenen Lebensvollzugs, wie generell erst der alternde Mensch das Problem des Alters, auch das des Todes, in seiner existentiellen Tragweite erfasst. Erst die »grausame Entdeckung« des eigenen Alterns, so Proust, macht deutlich, dass das Alter »von allen Wirklichkeiten vielleicht diejenige ist, von der wir im Leben am längsten eine rein abstrakte Vorstellung haben.«14 Aufdringlich wird dieses Bewusstsein im Erleben des körperlichen Verfalls, aber ebenso in der Dissoziation von einer Welt, die zunehmend nicht mehr die eigene ist. In eindringlichen Passagen hat Jean Améry Linien dieser Erfahrung ausgezogen, Phänomene der sozialen Vereinsamung ebenso wie des kulturellen Alterns beschrieben, des Nicht-mehr-Verstehens von Techniken und Kommunikationsformen, auf welche sich einzulassen der alte Mensch, ohne Hoffnung auf wirkliche Partizipation, gleichwohl genötigt ist. Es sind Erfahrungen der Emigration aus einer Welt, die nicht mehr die eigene sein wird (wie selbst die respektvollen jungen Zuhörer dem gealterten Sartre »seine letzten Lebensjahre rauben – durch die bloße Tatsache ihres Jungseins und ihres Hinausschreitens in eine Welt, die ihnen und nur ihnen gehört«).15 Ausgeschlossen aus der Welt, vorausgreifend von der Gesellschaft verabschiedet wird »nur, was die Zeichen des Nichts schon auf der Stirn trägt.«16 Der Entzug der Zukunft ist Kehrseite des inneren Verlusts, den das Alter körperlich und seelisch austrägt. Darin überlagert sich das Schwinden der Zeit mit dem Nahen des Todes, jener schlechthinnigen Negativität, die in der Logik des Lebens keinen Ort zu haben scheint und sich der verstehenden Assimilation widersetzt.17 Es ist das Gewahrwerden des unwiderbringlichen Verlusts, das Stehen vor dem Nichts und Verlieren seiner Welt und der geliebten Menschen, das auch vom Todkranken und Sterbenden als Erschütterung, als tiefe Angst und unüberwindlicher Schmerz erlebt werden kann.18 In der Konfrontation mit ihm wie mit dem Erleben (und den äußeren Symptomen) des Alterns ist der Mensch zweifach herausgefordert, sowohl im Bemühen um Sinn wie im praktischen Verhalten: zwischen sinnhafter Integration und Entfremdung, bejahender Anerkennung und Revolte. Im Alter sich selbst zu sein verlangt den diffizilen Ausgleich zwischen Würde, Endlichkeit und Lebenswillen.

      Wenn wir diese Konstellation auf unser Leitthema zurückbeziehen, so geht es um die Frage, wieweit in der Situation des Alters das Leben in der Zeit gelingen kann. Zunächst scheinen im Maße der verschärften Zeitnot die Bedingungen eines gelingenden Selbstseins in zweierlei Hinsicht erschwert. Auf der einen Seite verliert die Selbsteinholung, um deren Möglichkeit sich schon Proust angesichts der entschwindenden Zeit geängstigt hatte, ihren Raum und ihr lebenszeitliches Fundament. Das Hinausschieben des Alters, Verdrängen des Todes, welches die natürliche Haltung des tätigen Lebens prägt, setzt sich im Fernhalten der Lebensreflexion ins Alter hinein fort. Auf der anderen Seite verbindet sich das Altern mit der Erosion jener Lebenskraft, die zugleich mit der Sinngebung zur temporalen Strukturierung der Existenz befähigt. Es ist der Verlust der lebensweltlichen Quellen, deren der Mensch zur narrativen Synthetisierung und inhaltlichen Gestaltung seines Welt- und Selbstbezugs, zur Aneignung seiner Lebenszeit bedarf. So geht er der Zeit auf zwei Ebenen zugleich verlustig, auf der Ebene der sich real entziehenden, sich verflüchtigenden Zeit ebenso wie seiner eigenen Fähigkeit, die konkrete Ordnung der Lebenszeit zu stiften, Kommendes aufgehen zu lassen und Vergangenes zu vergegenwärtigen. Das Junktim zwischen der Kraft des Bewahrens und jener des Gestaltens, das die Erinnerungsarbeit durchzieht, bestätigt sich in ihrem Absterben. Zugleich mit der Zeit schwindet das Vermögen der temporalen und sinnhaften Strukturierung. In dieser Überlagerung verhärtet sich das Schwinden der Zeit, wird es zum unwiederbringlichen Verlust, strahlt es zuletzt auf das Leben als ganzes aus, welches brüchig, leer wird, dem Menschen nicht mehr in lebendiger Gegenwart zueigen ist.

      Der sich vertiefenden Negativität des Zeitlichen antwortet die Gegenutopie einer wiedergefundenen Zeit, welche nicht nur vergangene Zeiten, sondern die innere Macht der Lebensform wiedergewinnen will. Dem Entschwinden der narrativen Kraft steht der Wunsch eines weitergeführten, zur Vollendung geführten Erzählens, eines Sicherzählens bis ans Ende gegenüber.19 Im Negativen wie im Positiven verschränkt sich die Erfahrung des Alters mit der Herausforderung der Zeit und dem Interesse des Erzählens und Sich-Erzählens. In den Blick kommen Leitbilder, die sich jener Negativität der Zeit wie deren Radikalisierung im Alter entgegenstellen: Bilder des erfüllten, befriedeten Alters wie des Ganzseinkönnens und Zusichkommens in der Zeit. Ihren umfassenden Horizont bildet die Erinnerung.

       II.

Die Kunst der Erinnerung

       3. Die Aneignung des Vergangenen

       3.1 Der Widerstand gegen das Vergessen

      Erinnerung ist die Gegenkraft zur Ohnmacht des Lebens. Sie widersetzt sich dem Verrinnen der Zeit, sie hält Vergangenes fest und befestigt den Zusammenhalt des Gewesenen mit dem Jetzt. Ihre erste Tat ist das Bewahren, ihr tiefster Impuls der Widerstand gegen das Vergehen. »Nichts ist vergessen und niemand ist vergessen«, so lautet das erste Bekenntnis des historischen Gedächtnisses – gegen das Zunichtewerden des Vergänglichen, sein Unsichtbar- und Unwirklichwerden, sein Entschwinden aus der Welt der Menschen. Der Satz – eine Zeile der russischen Lyrikerin Olga Bergholz – steht für ein Versprechen und eine Forderung angesichts des Abgrunds der Zerstörung und des gewaltsamen Verstummens1 – unter anderen Umständen auch für eine Beschwörung angesichts des verdrängten Gedächtnisses.2 Auch losgelöst von solchen Bezügen kann er als Leitidee der Historie dienen, deren Grundhaltung, vorgängig zu allen besonderen Zwecken des Gedenkens, der Pietät des Bewahrens3 entstammt und deren treibendes Motiv durch den Wunsch, dass Vergangenes