Emil Angehrn

Sein Leben schreiben


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Leben strebt danach, Leben zu erhalten und weiterzuführen. Sein ursprüngliches Wollen gilt dem Leben, seine ursprüngliche Abwehr der Erosion, die der inneren Schwäche des Lebens, aber auch der auflösenden Macht der Zeit geschuldet ist. Es geht in dieser Abwehr nicht nur um das simple Vorübersein, um den einfachen temporalen Sachverhalt, dass etwas, was einst war, jetzt nicht mehr ist. Es geht zugleich um den substantielleren Verlust, dass etwas, das einst wirklich und Teil des Lebens war, sich in Nichts aufgelöst hat, dass etwas, um das es den Menschen ging und das dem Leben wichtig war, seine Bedeutung verloren hat, nicht mehr die Gegenwart prägt und eine Zukunft eröffnet; es geht darum, dass ein vergangenes Erlebnis, eine vergangene Tat nichtig geworden ist. In gewisser Weise ist das Zunichtewerden durch den Gang der Zeit nicht nur ein späteres Nicht-mehr-Sein, sondern wirkt es zurück, löst es das Vergangene selbst in seinem Sinn und Gewesensein auf. Dass etwas umsonst war, dass es gar nicht wirklich war, ist die tiefste Angst, die Urangst im Erleben der Vergänglichkeit aller Dinge. Weit davor entfernt, nur unserem Bewusstsein zu entschwinden, vergessen zu werden und auf immer vergessen zu sein, droht Vergangenes an ihm selbst dem Nichtsein, der Nichtigkeit anheimzufallen. »Vergänglichkeit und Vergeblichkeit als Zwillingsschwestern des Vergessens« – so umschreibt Christa Wolf den Horror vor dem Vergessen und den unaufhaltsamen Verlust, gegen den sie anschreibt.5 Die Kultur des Gedächtnisses ist kein bloßes Dispositiv im Raster der Temporalität, keine bloße Gegenbewegung zur Urprozessualität alles Seienden. Sie ist ein ursprünglicher Protest gegen das Vergehen und das Bemühen um eine Rettung, die dem Leben, der Welt, dem Selbst zugute kommen will.

      Der erste Reflex jenes Horrors vor dem Vergessen, jener Urangst vor dem Entschwinden ist das Festhalten. Alles aufschreiben, damit es nicht verloren geht, damit nichts ohne Zeugnis und ohne Spuren bleibt, so lautet das erste Gebot des Gedächtnisses. Wenn die Pflicht des Nichtvergessens und das fundamentale Interesse des Erinnerns im kulturellen Diskurs in vielfältiger Weise mit den Inhalten des Gedächtnisses, der Unerledigtheit dessen, was nicht preisgegeben werden darf, verschränkt wird6, so gibt es vorgängig dazu den elementaren Widerstand gegen das Vergehen und das Vergessen als solches. Dennoch ist das Gebot des Festhaltens und Aufschreibens erst eine abstrakte Anweisung, ein leerer Reflex, der nur unzulänglich auf die Frage nach dem Wozu der Erinnerung antwortet. Alles niederschreiben, alles registrieren ist kein Ideal, kein inneres Ziel des historischen Sinns. Es entspräche in seiner Formalität dem, was Arthur C. Danto als Zerrbild einer ›Idealen Chronik‹, einer simultanen und integralen Registrierung von allem, was geschieht, gezeichnet hat7 – das Gedächtnis als eine Art universaler Festplatte, auf der alles Reale protokolliert und als Dokument niedergelegt wäre. Es wäre eine leere Verdoppelung, die offenkundig nicht nur der Praxis der Historie, sondern auch dem lebendigen Interesse, das wir am Erinnern nehmen, fremd ist. Zur Historie gehört nicht nur die konstitutive Selektivität, die aus der Vielfalt der Daten eine bestimmte Geschichte konfiguriert, wie schon alles Wahrnehmen und Sprechen unhintergehbar perspektivisch ist. Zum Erinnern gehört darüber hinaus der konstitutive Bezug zum Subjekt, für welches die Vergegenwärtigung des Vergangenen ihr bestimmtes Profil und ihre lebensweltliche Relevanz gewinnt.

      Zum Tragen kommt die wesensmäßige Reflexivität von Geschichte und Gedächtnis, als Vergangenheitsbezug von einem, um dessen Vergangenheit – und um das es im Vergangenheitsbezug – geht. Idealtypisch ist dies die Erinnerung von Subjekten, die sich auf ihre Geschichte besinnen, ihren Lebenweg abschreiten und nachzeichnen; analog wie beim Individuum findet dieser Rückbezug beim Kollektiv statt. Zwar ist die selbstbezügliche Perspektive nicht alternativelos und noch weniger in sich geschlossen. Es gibt gute Gründe, auch in der Geschichte von Subjekten gerade die objektiven Spuren und gegenständlichen Sedimentierungen als Faktoren des Werdegangs und der historischen Prägung ernst zu nehmen und herauszuarbeiten. Nicht umsonst hat Sigmund Freud die Archäologie als Leitmetapher für die Sondierung der Tiefenschichten und Entwicklungsformen der Seele gewählt, und Walter Benjamin hat im gleichen Geiste das Erdreich, »in dem die alten Städte verschüttet liegen«, als Bild für das in der Sprache aufbewahrte Gedächtnis verwendet.8 In historisch-vergangenheitsbezogener Erkundung ist die Integration der Außenperspektive, das Sichabarbeiten an dem, was nicht vom Subjekt kommt und ihm nur partiell zugänglich ist, grundlegend für die Erschließung des Selbst. Gleichwohl bleibt auch die objektivierend-distanzierende Betrachtung an das Selbstverhältnis zurückgebunden, bildet sie einen – wesentlichen – Umweg auf dem Wege der Selbstverständigung.9 Erinnerung geht nicht im Raster der retrospektiven Rekonstruktion objektiver Fakten und Prozesse auf. Auch die Geschichts- und Gedächtniskultur hat ihren primären Fokus nicht notwendig in der wissenschaftlichen Erforschung vergangener Zeiten und Geschehnisse. Ihr Interesse und ihre Leistung können ebenso, wie Y. Yerushalmi mit bezug auf die jüdische Erinnerungskultur festhält, auf die Verständigung über den ›Sinn‹ der Geschichte, die interpretierende Selbstsituierung in der Zeit gerichtet sein.10 Der Sinn aber ist nicht ein objektives Integrationsschema in der Konfigurierung der Teile eines Ganzen (wie in der Beschreibung der Funktion eines Mechanismus), sondern die Deutungsperspektive, unter welcher Subjekte Geschehnisse in ihrer Lebensrelevanz durchdringen und als Teil des Lebens – ihres Lebens – aneignen.

       3.2 Das Lesen des Lebenswegs

      So gelangen wir von der Erinnerung zurück zur Beschreibung des Lebens. Den Weg des Lebens zu gehen, ihn weiter zu gehen, ihn als durchlaufenen gegenwärtig zu halten und ihn erinnernd zu wiederholen, sind die auseinandertreibenden Zeitformen, in denen es dem Menschen in seinem Leben um sein Leben geht. Dass unter ihnen der Erinnerung ein herausgehobener Stellenwert zukommt, hängt zuallererst damit zusammen, dass in ihr das Leben zu einer besonderen Präsenz für sich selber gelangt. Seneca hat dies in seinen Reflexionen über die Kürze des Lebens im Kontrast zur inneren Unruhe der ›Beschäftigten‹ betont, welche »keine Zeit haben, auf Vergangenes zurückzublicken« und ihr Leben in der verrinnenden Zeit »in einen Abgrund« entschwinden sehen: Demjenigen aber, der »alle Phasen seines Lebens ruhig zu durchlaufen vermag«, wird die Erinnerung zu einem dauernden, »heiligen und geweihten Teil« der Zeit, in welchem »alle Tage aus der Vergangenheit gegenwärtig werden.«11

      In ungezählten Varianten spiegelt sich das Pathos dieser Selbstpräsenz in den Zeugnissen der Tagebücher und Sudelbücher wider, in den Familienalben und Gruppenerzählungen, Lebensnotaten und Weblogs, in denen Millionen ihr tägliches Leben artikulieren, es anderen präsentieren und in den unermesslichen Speicher des Internet, das Gedächtnis der Menschheit einschreiben.12 Dabei geht es um mehr als um das temporale Festhalten gegen die Verflüchtigung des Geschehens und das Zerrinnen der Zeit. Zumal die deskriptiv-narrative Niederschrift steht im Dienste einer Kontinuitätssicherung und inneren Strukturierung, die auf der Bedeutsamkeit der Episoden, ihrem Ort im Leben der Menschen beharrt und darin mit der eigenen Gestalt- und Einheitsbildung des Lebens kommuniziert, an welche sie anschließt, die sie überformt und ablöst, auf die sie zurückwirkt. Schon das Leben selbst kann in dieser Sicht als eine Art »Biographie-Arbeit« erscheinen13, als ein Zusammenfügen der »Zeit-Stücke«, »hinter unserem Rücken«, aber wie »nach unserem geheimen Bedürfnis«, »spannungsreicher, sinnvoller, geschichtenträchtiger« als wir es vermocht hätten, so dass sie sich unvermerkt in »gelebte Zeit«, vielleicht in ein Schicksal, »jedenfalls in einen Lebenslauf« verwandeln.14 Diesen erinnernd heraufzurufen, ihn neu zu gestalten und gegenwärtig werden zu lassen ist ein privilegiertes Medium der Bezugnahme auf sein Leben und der Begegnung mit sich selbst.

      Jenseits der temporalen Kontinuität und synthetisierenden Strukturierung geht es dem Erinnern um einen Selbstbezug, in welchem das Subjekt seiner selbst gewahr wird. Erinnerung ist ein Gang der Selbsterkenntnis, des Vertraut- und Bekanntwerdens mit sich, welcher vielfältigen Wegen, Umwegen und Wendungen folgt und die Schranken der externen Beobachtung wie der Introspektion übersteigt. Es ist ein Weg der Annäherung, der nicht eindeutig ist und nicht offen gebahnt vor Augen liegt, sondern in vielen Operationen der indirekten Erschließung, der erklärenden Rückführung und des konstruktiven Entwerfens Horizonte des Verstehens aufspannt, Bilder schafft und Sinnformen erprobt. Wie historische Erkenntnis generell das Durchdringen komplexer Verflechtungen voraussetzt, so ist historische Selbstverständigung mit der Vielschichtigkeit und Dunkelheit des Selbst konfrontiert. Sich über seine Geschichte kennenlernen heißt auch sich mit Zonen der Fremdheit und Unübersichtlichkeit