Emil Angehrn

Sein Leben schreiben


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Integration entzieht. Gerade das Eigene kann uns fremd, in besonderer Weise verdeckt und undurchdringlich sein. Doch ungeachtet der Widerspenstigkeit ihres Gegenstandes bleibt Erinnerung grundlegend durch die Intention des Verstehens und des Sich-über-sich-Verständigens geleitet. Erinnerung ist ein Bemühen um Aneignung und Selbstwerdung, eine Gegenwehr dagegen, dass Vergangenes, das Teil unserer selbst ist, uns undurchschaut und äußerlich bleibe. Auch wenn sie den Umweg über das Andere und die historische Objektivität nimmt, ist Erinnerung im Ganzen ein Zusichkommen und Sichselbsterfahren. Sie kommt, wie Dieter Henrich formuliert, der »Sammlung des Lebens« zugute, indem sie »auf alles, was Lebensbedeutung hatte, zurückkommt, um an ihm festzuhalten« und ihm Eingang »in das ›Innere‹, das Zentrum des eigenen Lebens« zu verschaffen, »von dem her sich die Lebensbedeutung des Erinnerten aufbaut und bemisst.«15 Dieses Insichgehen ist eine Komplementärbewegung zum Zurückgehen in der Zeit und Heraufholen des Vergangenen in die Präsenz. Das Zueigenmachen des Gewesenen, des Vergessenen und Entschwundenen, ist eine Dimension der Überwindung äußerer und innerer Fremdheit. Die temporale Ver-Gegenwärtigung des Vergangenen, die sinnhafte Strukturierung und Gestaltung, die lebensweltliche Aneignung und die historische Selbstverständigung sind ebensoviele Facetten der Erinnerung als integrativem Moment des Lebensvollzugs.

       3.3 Ganzheit und Identität

      Solche Erinnerung greift auf das Leben als ganzes aus, um darin sich selbst gegenwärtig zu werden, sich zu erkennen und seinem Leben eine bestimmte Gestalt zu geben. Es ist ein Zurückholen und Wiederaneignen dessen, was uns ohne Gedächtnis unaufhaltsam entgleitet, was wir selbst verlassen, zunehmend aus uns abgedrängt haben, was sich uns verbirgt und uns schrittweise fremd geworden ist. Es ist ein Wiederaufnehmen des Lebens von seinem Anfang her, ein Wiedererwecken dessen, was uns und sich selbst abhanden gekommen ist, was sich vielleicht nie entwickelt hat und sich nie zu eigen war, ein Nachholen des nicht gelebten Lebens, wie es in der Kindheitserinnerung aufscheinen kann.16 Solche Aneignung vollzieht sich nicht im Immediatismus einer Selbstpräsenz im Gewesenen, sondern in einer produktiven Neukonstellierung des durch den Lebensverlauf gestifteten biographischen Zusammenhangs. Sie ist der Umweg, über welchen sich die erkenntnismäßige Erschließung und reflexive Aneignung des Lebens vollzieht. Das Schreiben des Lebens ist das konkrete Medium der entziffernden Lektüre, der in der Rückschau durchgeführten Hermeneutik des Selbst. In ihr verschränkt sich die temporale Synthesis, welche die Ohnmacht des auseinanderfallenden Lebens überformt, mit der Verständigung über sich, in welcher das Subjekt seine Bestimmtheit und Ganzheit findet.

      Ein Leitbegriff, unter dem das Ineinander von Selbstwerdung und Erinnerung zur Diskussion steht, ist der Begriff der Identität. Menschen gewinnen über die Erinnerung ihre Identität. Geschichte gilt als Substrat der Identitätsbildung, der Herausbildung der jeweiligen Gestalt und Eigenheit, Historie als Medium der Vergewisserung, der Darstellung und interpretativen Konstruktion eigener und fremder Identität. Allerdings sind solche Formulierungen so explikationsbedürftig wie der Begriff selbst. Der Zusammenhang von Erinnerung und Identität ist unter vielfachen Facetten im Feld der Sozial-, Kultur- und historischen Wissenschaften zum Thema geworden.17 An dieser Stelle soll indes nicht vom breitgefächerten kulturwissenschaftlichen Diskurs, sondern von formalen Unterscheidungen ausgegangen werden, die sich im Kontext der Philosophie mit dem Begriff verbinden. Als basale Unterscheidung fungiert normalerweise die zwischen numerischer und qualitativer Identität.18

      Die numerische Identität steht für die Unterscheidung des einen von anderen seiner Art, die heraushebende ›Identifikation‹ des Einzelnen unter anderen. Dass Menschen durch Geschichte ihre unverwechselbare Besonderheit erwerben, dass sie sich erinnernd ihrer Singularität, ihres Unterschiedenseins von anderen vergewissern, ist ein Grundgedanke der historischen Kultur, der sich in deren Methodologie widerspiegelt; die neukantianische Gegenüberstellung von Natur- und Geschichtswissenschaft ordnet der letzteren das Interesse am Individuellen (Rickert) beziehungsweise die individualisierende Betrachtung (Windelband) zu. Auch Gesellschaften und kulturelle Gebilde spezifizieren sich im Laufe der Zeiten und werden durch das, was ihnen geschieht und was auf sie einwirkt, in ihrer Eigenart geprägt. Für zeitlich existierende Entitäten hat die ›Individuation‹– neben der vorgegebenen, etwa genetischen Singularität – wesentlich mit der durchlaufenen und angeeigneten Geschichte zu tun.

      Diese Unterschiedenheit von anderen ist in klassischen Debatten zur personalen Identität eng mit der Identität-über-die-Zeit verwoben, mit der Frage, ob jemand über die Zeiten hinweg derselbe geblieben ist, beziehungsweise der Frage, inwiefern zwei zeitlich auseinanderliegende Konfigurationen Instanzen desselben – desselben Staats, derselben Tradition – sind. Die Selbigkeit (entsprechend der basalen Wortbedeutung von identitas, idem) steht ihrerseits in privilegiertem Konnex mit Geschichte und Erinnerung, sofern sie auf deren spezifische Selbstbezüglichkeit verweist. Im Sich-Erinnern an eigenes Tun und Erleben begegnet sich der Mensch in seiner unvertretbaren Selbigkeit: Er selbst ist es, der die Frage nach der Vergangenheit stellt, der sich in verblassten Erinnerungen an seine Kindheit, in verlorenen Hoffnungen, erlebten Freuden, überstandenen Schmerzen wieder erkennt, sich darin als er selbst gegenwärtig wird. Was in moralischer Hinsicht, im Blick auf Schuld und Verantwortung, von offenkundiger Relevanz ist, ist ebenso für das allgemeine, affektive Betroffensein durch die eigene Geschichte als Geschichte meiner selbst von Belang. Auch wenn Erinnerung und Gedächtniskultur sich nicht im Bezug auf das Eigene erschöpfen, sondern gerade im Verhältnis zum Anderen und Fremden eine genuine Dringlichkeit besitzen können, kommt ihnen im Selbstbezug des Selben eine spezifische Gestalt und ein besonderes Interesse zu. Der Mensch hat nicht einfach eine Geschichte, er hat seine Geschichte, die ihn betrifft und die er erzählt.

      Komplementär zur numerischen steht die qualitative Identität zur Diskussion. Sie steht für die Gleichheit verschiedener Individuen derselben Art beziehungsweise die Identifikation von etwas ›als etwas‹ (als Exemplar einer Spezies, Träger einer Berufsrolle). Nicht wer (von allen) wir sind, sondern was bzw. wie wir durch die Geschichte geworden sind, als was wir uns erinnernd erkennen, steht in Frage. Erinnerung gilt hier, jenseits der Individualität und der Selbigkeit über die Zeit, dem inhaltlichen Reichtum dessen, wozu Menschen im Laufe ihres Lebens geworden sind. Das Interesse des Erinnerns gilt nicht der abstrakten Vergewisserung des Unterschiedenseins von anderen und Mit-sich-Identischseins, sondern demjenigen, was wir im Durchlaufen unserer Geschichte erfahren, getan und erlitten haben, was wir als Resultat dieses Prozesses geworden sind. Es ist das Interesse an einer materialen Aneignung der Geschichte, die unter ganz verschiedenen Kriterien wahrgenommen und beurteilt werden kann: im Blick auf den Wert der Erlebnisse und Taten, auf die Verknüpfung der Episoden unseres Werdens, die Gestalt oder Brüchigkeit des Lebenslaufs, die Entwicklung und Gerichtetheit, Konsistenz oder Widersprüchlichkeit der Geschichte. Im Spiel ist dabei sowohl die inhaltliche Seite des Gedächtnisses, das zur Grundlage historischer Selbsterkenntnis wird, wie der Formaspekt der erinnerten Geschichte, die zwischen Schlüssigkeit und Zerstreuung, Ganzheit und Fragmentierung oszillieren kann. Es ist eine offene Frage, wieweit wir zum einen uns mit den Phasen unserer Geschichte identifizieren können, wieweit wir vergangene Handlungen und Widerfahrnisse mit unseren Wünschen und Werten, mit unserem Selbstbild in Übereinstimmung bringen, sie als eigene anerkennen und als Teil unseres Selbst integrieren können, zum anderen aber auch, in welcher Weise die Geschichte einen Zusammenhang bildet und zur Grundlage eines gelingenden Selbstverhältnisses im Ganzen des Lebens wird. Die Rede von geschichtlicher Identität bezieht sich zumeist auf diese ›qualitative‹ Seite, auf die Frage, wie jemand durch seine Geschichte geprägt worden ist, von ihr seine Eigenart, seinen Charakter erhalten hat.

      Bei alledem drängt sich die Frage auf, wie das Verhältnis zwischen der Geschichte und dem Subjekt, das durch sie bestimmt wird, näher zu fassen ist. Gibt es eine Identität des Subjekts, welche der Geschichte voraus- und zugrundeliegt, oder bildet erst der Sinnzusammenhang der erzählten Geschichte den Rückhalt und Kern der personalen Identität? Lassen sich die Einheit der Geschichte und die Identität dessen, von dem die Geschichte handelt, auseinander halten? Wenn diese Trennung bei Artefakten und historisch-kulturellen Gebilden (romantische Kunst, deutsche Nation, literarische Figuren) vielfach obsolet scheint, so erweist sie sich bei Personen und Kollektiven als uneindeutig und durchaus klärungsbedürftig. Sie verweist