idealtypisch bei der Person als Geschichts-›Subjekt‹ ansetzen, so ist ihr die Geschichte als dasjenige zugehörig, das von ihr bewirkt, von ihr erlitten, von ihr vergegenwärtigt wird. Der Geschichte vorausliegend ist das Subjekt hier zunächst insofern, als es mit einem raum-zeitlich bestimmten, körperlichen Substrat verbunden ist, das nicht als solches durch die Wendungen der Geschichte generiert wird. Offen hingegen ist, in welcher Weise die Identität des Subjekts, sofern sie nicht in der numerischen Identität des Körpers aufgeht, sondern das konkrete Unterschieden- und Sosein der Person meint, mit der Gestalt und der Einheit einer Geschichte verflochten ist. Sozialpsychologische wie sprach- und erzähltheoretische Argumente sprechen für eine starke Interferenz beider Seiten, die Ricœur auf die Formel bringt, dass »die Identität der Geschichte die Identität der Person ausmacht«.19
Allerdings ist es möglich, diesen Zusammenhang nach beiden darin enthaltenen Schritten kritisch zur Diskussion zu stellen: im Blick auf die Verflechtung zwischen Selbstsein und Lebensgeschichte wie auf den Konnex von faktischem Lebenslauf und erzählter bzw. erzählbarer Geschichte.20 Es steht außer Frage, dass eine Phänomenologie des Selbst auch Dimensionen des Selbstverhältnisses zu erschließen hat, die nicht auf die Lebensganzheit ausgespannt sind und ihren Impuls nicht aus der Kraft der Erinnerung beziehen. Und ebenso kann eine Analyse der existentiellen Zeitlichkeit und Geschichtsaneignung auch unabhängig von der bestimmten Form der narrativen Lebensbeschreibung durchgeführt werden. Die Einheit des Lebenslaufs geht nicht auf in der erzählten Geschichte. Entsprechend nimmt die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang nicht von einer Philosophie des Selbst und liegt ihr demonstrandum nicht in der strengen Hinführung vom Selbst über die Erinnerung zur Lebenserzählung. Vielmehr setzt sie bei deren Verschränkung, bei der Sehnsucht nach Erinnerung und dem Wunsch der Lebensbeschreibung an, um deren interne Motivkonstellation aufzuhellen. Gleichwohl gehört es zur leitenden Intuition und zum Duktus der vorliegenden Untersuchung, die nicht-kontingente Verbindung dieser Schichten und Motive des Selbstseins aufzuzeigen. Sie soll in der konkreten Erkundung dessen, was Erinnerung ist und was sie leistet, schrittweise hervortreten.
3.4 Räume und Formen der Erinnerung
(a) Objektive und subjektive Erinnerung
Bevor wir die Stadien der ins Auge gefassten schreibenden Selbsteinholung des Lebens näher ins Auge fassen, seien vorausgreifend grundlegende Dimensionen benannt, in denen Erinnerung sich vollzieht. Eine fundamentale Unterscheidung, welche die Gedächtnistheorien durchzieht, ist die zwischen subjektiven und objektiven Anteilen im Erinnerungsprozess – zwischen Äußerlichkeit und Innerlichkeit, Gedächtnisspeicher und Erinnerungsakt, Sedimentierung von Spuren und Wiedererkenntnis. In der deutschen Sprache lässt sich die Polarität mit der Distinktion von Gedächtnis und Erinnerung assoziieren, wobei ›Gedächtnis‹ zum Teil eher im Sinne des Archivs, des Raums und Trägersubstrats der Reminiszenz, teils eher im Sinne der vorhandenen Quellen und objektivierten Spuren verstanden wird. In dieser Bedeutung figuriert die Unterscheidung in einer der ältesten Gedächtnistheorien, in der aristotelischen Schrift De memoria et reminiscentia, als Unterscheidung zwischen dem Niederschlag des vergangenen Erlebens in einem Erinnerungsbild, das uns passiv gegenwärtig ist, und dem aktiven Vollzug des Wiedererinnerns als erneuerter Wahrnehmung dessen, wovon wir in unserem Gedächtnis das Zeugnis bewahren.21 Mit der Relation von mneme und anamnesis verbindet Aristoteles die Frage, die sich auch außerhalb des erinnerungspsychologischen Kontextes stellt, wie nämlich eine anwesende Affektion für ein Abwesendes, ein Gegenwärtiges für ein Vergangenes stehen kann. Aristoteles’ Antwort führt über den Bild-Charakter der uns innewohnenden Vorstellung; in einem weiteren Horizont verbindet Paul Ricœur damit den Rätselcharakter der Spur, die zugleich als Wirkung und Zeichen (»un effet signe«)22 auf ihren Ursprung bezogen ist. Indem er den Begriff der Spur, der bei verschiedenen Autoren – Husserl, Freud, Derrida, Lévinas – einen zentralen Stellenwert besitzt, nach den Haupttypen der kortikalen, psychischen und dokumentarischen Spur diversifiziert und in den Räumen der Neurologie, der Psychologie und der Geschichte verortet, erweitert er den objektiven Charakter des Erinnerns über die Bewusstseinsdimension hinaus.23
Unter mehrfachen Hinsichten haben die Kulturwissenschaften die materielle, gegenständliche Seite des Gedächtnisses zur Geltung gebracht. Verwiesen sei auf die von Sigmund Freud verwendete Metaphorik der Archäologie, die ihm als Bild dafür dient, »dass im Seelenleben nichts, was einmal gebildet wurde, untergehen kann, dass alles irgendwie erhalten bleibt, und unter geeigneten Umständen […] wieder zum Vorschein gebracht werden kann«, ähnlich wie die archäologische Grabung in der verborgenen Tiefe einer Stadt deren Vorstadien, Wandlungen, Konstruktionen und Zerstörungen sichtbar macht.24 Das konnotationsreiche Bild des Verschüttens, Verdeckens und Aufbewahrens im Erdreich, des Ausgrabens und Rekonstruierens lässt sich in Kontexten des Psychischen, Sozialen und Geschichtlichen mit Assoziationen des Zertrümmerns und Zerfallens, aber auch des Zurechtrückens und Refigurierens in die Erinnerungsdynamik einzeichnen. Walter Benjamin hat in seiner Berliner Chronik, in welcher er Erinnerungsbruchstücke aus den Kindheits- und Jugendjahren versammelt, die Metapher des Ausgrabens aus dem Erdreich übernommen und in eine umfassendere topographische Schematik eingefügt, als deren Hintergrund man auf die klassische, in die Antike zurückreichende topographische Methode der ars memoriae verweisen kann. Erinnerung macht sich nach Benjamin fest an Orten und Räumen, sie beleuchtet »weniger die Bilder der Menschen als die der Schauplätze«.25 Anstelle der Zeit- und Ablauffiguren, welche den Fluss des Erinnerns modellieren, dominieren Raster der Räumlichkeit und Äußerlichkeit, in denen das Gedächtnis seine Bezugnahme und Formbildung verankert. In Überlagerung mit der Idee des Erdreichs assoziiert das topographische Gedächtnis gleichzeitig »die Verbindung mit den Toten dieses Bodens«, die Kultur des Totengedenkens.26 Nach anderer Hinsicht verknüpft es sich mit Aspekten sinnlicher Materialität, die den Erlebnissen und Begegnungen ihre Färbung geben und sie im Speicher des Gedächtnisses deponieren (wie die »Mauern und Quais, der Asphalt, die Sammlungen und der Schutt, die Gatter und Squares« zum Erkennungszeichen von Paris werden). Nicht die Kette von Ereignissen, sondern die Konstellierung von Objekten, das Versunkensein in eine Dingwelt fundiert dann den Raum gelebten Erinnerns.27 Dabei geht es, wie Benjamin in einer Reflexion über »Ausgraben und Erinnern« festhält, nicht einfach um das punktuelle Fixieren der Dinge und Orte, sondern um die »sorgsamste Durchforschung« der Schichten, in denen die Residuen und Dinge abgelagert sind, die Nachzeichnung des Umgrabens und Findens, das sich der verschütteten Vergangenheit nähert, um sie zum Sprechen zu bringen und in Bildern auferstehen zu lassen. Wahrhafte Erinnerung gilt nicht nur dem Fundobjekt, sondern gleichermaßen dem Grabungsbericht und »dem, der sich erinnert«.28
Räumlichkeit ist Paradigma der Äußerlichkeit, und dies in zweifacher Hinsicht, als das in sich und gegenseitig Äußerliche, die Dimension des partes extra partes, und als das dem Subjekt gegenüber Andere und Äußere. Die Räumlichkeit und Materialität des Erinnerns steht für die Dimension der Zerstreuung und Zersplitterung wie für das dem Subjekt Fremde und Unerkannte, das Abwesende und Undurchdringliche; sie ist der Raum des Bruchstückhaften, der Splitter und Trümmer, die vergessen und bezugslos nebeneinander liegengeblieben sind, doch unversehens aus ihrer Bedeutungslosigkeit auftauchen, Erinnerungen heraufrufen und zu Knotenpunkten einer lesbaren Geschichte mutieren können. Dekonstruktion hat die Figuren der Verräumlichung, der Spaltung und Abdrift generell als Gegenkonzepte zur ganzheitlichen Kontinuität des Sinns stark gemacht, die Medialität und Äußerlichkeit anstelle der Innerlichkeit subjektiven Meinens und Nachvollziehens als Raum der Bedeutung expliziert. Sinngenese und Verstehen transzendieren den Binnenraum des Selbstbezugs, und dieses Überschreiten gewinnt im Feld von Gedächtnis und Erinnerung ein besonderes Profil und Gewicht.
Die Dialektik von subjektiver und objektiver Verortung tangiert die Herkunft wie den Akt der Reminiszenz. Es gibt Bilder, die auftauchen, Dinge, Stimmen und Atmosphären, die an etwas erinnern; weithin hat Erinnerung mehr mit spontaner Assoziation als einem intendierten Zurückholen aus der Zone des Abwesenden zu tun. Auch thematisch geht Erinnern nicht im Sicherinnern auf, sein Modell ist nur zum Teil das individuelle, bewusste Zurückdenken an eigenes Tun und selbst Erlebtes. Entgegen der psychologisierenden Orientierung am Wieder-Erleben früherer Widerfahrnisse und Handlungen – dem »landläufigen Erinnerungsbegriff«29