betraf, so seine Bedenken, aber nun war er schließlich da. Ja, er war verzweifelt, aber – durfte er noch einmal hoffen? Wie tausend anderen schien auch ihm die Osteopathie diese letzte Hoffnung zu sein. Doch die alte Beinverletzung barg eine noch größere Belastung als nur die Schmerzen und das Hinken. Jene tiefere Wunde schwärte sogar noch nach all den Jahren. Würde Still diesen geheimen Teil bei seiner Befundaufnahme erkennen? Diese Frage und eine Art Scham nagten an Johns Gewissen.
Beklommen bewegte sich Freeman auf das Krankenhaus zu. Es schien beeindruckender als die meisten angrenzenden Gebäude. Als er näher kam, fühlte sich der eingefasste Schotter unter seinen Füßen ungewohnt an und seine ebenmäßige Oberfläche erleichterte das Gehen ungemein. Jemand wusste, was er tat, als er diesen Ort gestaltet hat, dachte Freeman. Zu Hause bestand seine Welt aus Wagenradfurchen in einer mit Erdhörnchenlöchern gespickten Prärie. Betrat er nun eine neue Welt?
Drinnen schufen die frisch geölten Holvertäfelungen und die großen Fenster eine Aura von Helligkeit und Frische – trotz der Anwesenheit von so viel Krankheit. Strom und fließend heißes und kaltes Wasser in allen Zimmern erschienen Freeman als ein Gipfel an Modernität. Seine Stimmung hob sich ein wenig, während er durch die Eingangshalle ging.
Familien auf Wartebänken, Patienten auf dem Weg zu ihren Zimmern oder in Rollstühlen sitzend – die Gründe für ihr Hiersein waren offensichtlich. Es ging sehr geschäftig zu, obwohl viele wie Freeman sowohl Zweifel als auch Hoffnung in sich trugen. Die etablierte Medizin war immer noch auf einem sehr primitiven Stand. Das Mikroskop wurde zwar allgemein genutzt, doch Diagnosen erstellte man anhand äußerlicher Symptome.
Herkömmliche Medikamente waren rar und nur wenig weiter entwickelt als die Kräuterheilkunde. Nach dem Bürgerkrieg gab es viele Verluste und Behinderungen. Morphium schien man dem Opium vorzuziehen. Es führte jedoch ebenfalls zu Abhängigkeit und versklavte viele, die die Versklavung ihrer Mitbrüder bekämpft hatten. Die Medizin machte reiche Versprechungen, brachte aber nur spärliche Tröstungen – und groß war die Zahl der Patienten, die unter dem Chirurgenmesser starben.
Doch hier wurde, so sagte man, eine andere Methode angewandt. Die Leute sprachen über »unblutige Operationen« und über »die Nutzung der Selbstheilungskräfte des Körpers«. Operationen mit dem Messer galten nur als letzter Ausweg, um Leben zu retten. Diese kühnen Behauptungen verflüchtigten sich angesichts der etablierten Medizin. Und doch brachte die Wabash-Eisenbahnlinie täglich Hunderte, die auf Besserung, wenn nicht gar auf Heilung hofften.
»John Freeman? Mr. John Freeman!?«
Freeman nickte der Dame an der Anmeldung zu.
»Bitte kommen Sie zu mir herüber«, bat Sally Taylor mit angenehmer Stimme.
»Das macht dann 9 Dollar Anzahlung für die ersten drei Anwendungen in der ersten Woche. Danach kostet die Behandlung 25 Dollar im Monat. Wenn Sie sich zum Bleiben entschließen, wird die Anzahlung von Ihren Gebühren für den ersten Monat abgezogen. Sie können im Poole Hotel einkehren, oder wenn Sie es wünschen, eine Privatpension aufsuchen, was recht geeignet wäre, sollte sich Ihr Aufenthalt doch als etwas länger erweisen, als Sie erwarten. Ma Scott’s ist recht gut, falls sie dort ein Zimmer frei haben. Das Hotel würde Sie 10 Dollar im Monat kosten. Ein Gästezimmer bei jemandem oder eine Privatpension kostet Sie 3 bis 5 Dollar. Also, Sie haben die Wahl. Sie haben noch Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, doch jetzt sollten wir uns um Ihre Angaben und die Anzahlung kümmern.«
Nachdem alles erledigt war, fuhr Sally fort:
»Vielen Dank, hier ist ihr Beleg; diese junge Dame wird Sie dahin bringen, wo Sie hinmüssen.«
»Guten Morgen, Mr. Freeman, bitte kommen Sie mit mir. Ich bin Ihre Schwester, Miss Shreve.«
Schwester Shreve, an die geschäftige Betriebsamkeit und den Tagesrhythmus dieses Ortes gewöhnt, führte den Gast den weiten Gang hinunter bis zu einem Untersuchungszimmer. Freeman nahm dort zunächst auf einem Stuhl Platz und beäugte gründlich den von einem großen Fenster beherrschten Raum, in dem noch ein zweiter Stuhl und ein Schreibtisch standen. Das Zimmer war erfüllt von Luft und Licht und lag, wenngleich es die Brise und etwas von der Geschäftigkeit der Stadt hereinließ, doch hoch genug über der Straße, um eine private Atmosphäre zu behalten.
Wozu der Behandlungstisch und der kleine Hocker dienten, schien klar. Doch es gab auch einen merkwürdigen neumodischen Apparat. Er wirkte auf Freeman, als sei er halb Stuhl, halb Mausefalle, mit einer Art von verstellbaren Polstern entlang der Rückseite. Die Schwester bemerkte seine Neugierde.
»Machen Sie sich keine Sorgen, er beißt nicht und wird auch nicht für irgendeine Folter genutzt. Es ist ein Spezialstuhl, den Dr. Still erfunden hat, um exakt dort anpassend einwirken zu können, wo es nötig ist. Der Doktor wird Ihnen während der Behandlung alles genau erklären. Nun müssen wir noch ein paar Formulare ausfüllen, bevor er kommt.«
ABB. 03: BEHANDLUNGSRAUM IM OSTEOPATHIE-KRANKENHAUS IN KIRKSVILLE, CA. 1905.
Die Schwester füllte ein Formular mit Standardfragen über akute Beschwerden, eventuelle andere Erkrankungen, Diäten und bisherige medikamentöse Behandlungen aus und fragte dann mit fester Stimme: »Gibt es noch irgendetwas anderes, das wir über Ihre Krankengeschichte wissen sollten?«
Freeman zögerte und geriet ins Schwitzen »Da gibt es noch etwas, was ich aber lieber mit Dr. Still besprechen möchte.«
»Bitte, Sir«, redete die Schwester ihm gut zu, »es ist für den Doktor sehr hilfreich, wenn er alle Informationen schon vorher erhält.«
Freeman murmelte: »Ich glaube, das bespreche ich besser mit Dr. Still.«
»Aber Sir …«, begann die Schwester eine Spur strenger.
Freeman vergaß seine guten Manieren und schlug seinen gewohnten Farmaufseher-Ton an, indem er mit erhobener Stimme beinah schon ein bisschen aggressiv klarstellte: »Ich weiß, was Sache ist, Miss. Und ich weiß, was ich will. Ich glaube, dass ich das besser mit Dr. Still direkt bespreche!!«
Ängstlich erwiderte die Schwester »Gut, ganz wie Sie wünschen.
« Sie wies den Patienten an, seine Straßenkleidung hinter einem Wandschirm gegen den dort bereitgelegten Untersuchungskittel zu tauschen. Dann drehte sie sich um, betätigte die Klingel und huschte hinaus.
Freeman saß allein in der spannungsgeladenen Stille. Nach ein paar Minuten – ihm erschienen sie wie eine Stunde – öffnete sich die Tür und Dr. Still, fast sechs Fuß groß, hager, gepflegtes Äußeres und wohl etwa so alt wie Freeman, trat ein.
»Guten Morgen, Sir. Mr. Freeman, wie ich höre.«
»Guten Morgen Doktor. Ja, Freeman, John Freeman.«
Still nahm am Schreibtisch Platz, strich sich über seinen rauen Bart und warf einen kurzen Blick auf die Notizen der Schwester.
»Nun, lassen Sie uns mal sehen. Hüfte und Rücken, hmmm …«
Der Doktor hielt inne und betrachtete seinen Patienten lange. Freeman war beeindruckt von der Intensität dieses Blicks, von der Kraft, die hinter den durchdringenden grauen Augen stand.
»Soviel ich sehe, begann das also vor ein paar Jahren mit Schmerzen in einem Bein. Aber Sie haben doch noch etwas auf dem Herzen, Bruder. Was macht Ihnen noch zu schaffen?«
Jahre hatte Freeman auf diesen Moment gewartet hatte – und jetzt wusste er nicht, wo beginnen. Ja, da war dieser Schmerz, die Frustration, die mit dem Verlust an Jugend und Männlichkeit einherging. Aber die eigentliche Wunde saß noch tiefer. »Doktor, ich brauche Hilfe für mein Bein, aber da ist noch etwas anderes, über das wir vorher sprechen sollten. Eine andere Verletzung.«
»Ja, Bruder, was ist es?«
»Bevor