Für einen Moment stand die Zeit still und jeder der beiden Männer hing seinen eigenen Gedanken nach. Die Zeit raste um 30 Jahre zurück. Zurück in ihre Jugend. Zum Little Blue, einem schmutzigen kleinen Fluss südwestlich von Westport, im Süden von Kansas auf der Missouri-Seite.
Still rief sich den Tag ins Gedächtnis. Seine Einheit, die 21. Kansas-Miliz, hatte den Befehl erhalten, die Union um General Totten zu unterstützen. Zusammen bildeten sie eine Armee von 35.000 Mann, die sich den Konföderierten unter General Price entgegenstellte. Davor waren Stills Mitkämpfer, Sklavereigegner wie er, lediglich ein lose organisierter Haufen unter dem Banner von James Lane gewesen und zumeist nur in Verteidigungsbereitschaft gestanden gegen die Übermacht derer, die für den Erhalt der Sklaverei kämpften. Immerhin hatten sie aber auf die Guerilla-Methoden von Quantrells Armee reagiert, die erst kürzlich die Gemeinde Lawrence, eine in der Nähe gelegene Hochburg der Sklavereigegner, niedergebrannt hatte.
Obwohl der 36. Breitengrad (die südliche Grenze Missouris) als nördlichste Grenze des Sklaven-Südens galt, wurde Missouri im Jahre 1820 der Union der Sklavenstaaten zugerechnet – ein Kompromiss, um die Aufnahme von Maine in den Bund der sklavenfreien Staaten auszugleichen. 1855 hob das Kansas-Nebraska-Gesetz die Unantastbarkeit der Grenze am 36. Breitengrad auf und öffnete damit auch die nördlichen Territorien für die Sklaverei. Doch noch 1862 wurde die Angelegenheit heiß debattiert.
Siedler beider Lager, Befürworter und Gegner der Sklaverei, hatten ihr Leben in der Erwartung und Hoffnung aufs Spiel gesetzt, dass die Politik sich zu ihren Gunsten drehen werde. Die Anspannung wuchs. Scharmützel unter Nachbarn entlang der Grenze zwischen Missouri und Kansas waren häufig und die täglichen Routinearbeiten erforderten erhöhte Wachsamkeit. Still erinnerte sich an unschöne Momente, als seine Truppe während eines Manövers in den Wäldern auf Konföderierte traf.
Religiöser Eifer ließ den Wirbelsturm an weltanschaulichen Ideologien und politischen Überzeugungen noch stärker aufbrausen. Prediger wie John Brown und Henry Ward Beecher stachelten die Minderheit der Sklavereigegner zu einem wahren Kreuzzug an. Beecher predigte sogar das Anlegen von Waffenlagern, die man Beecher-Bibeln nannte. Brown brachte Verwandte und Nachbarn ins Spiel, die wie Kämpfer bewaffnet waren.
Mit seinem Streben nach höheren Werten, zu denen auch Freiheit für alle Geschöpfe Gottes gehörte, trat Still in die Fußstapfen seines Vaters Abraham Still, eines umherziehenden Methodistenpredigers, der sich mit seinen Überzeugungen bei den meisten Methodisten nicht gerade beliebt gemacht hatte. Die Familie war daher sicherheitshalber nach Baldwin, Kansas, eine Gemeinde Gleichgesinnter, umgezogen. Allerdings war die Sicherheit auch dort nur relativ. Missouri und Kansas wurden zu einem Schachbrett nationalpolitischer Interessen.
Leidenschaften und Fanatismus brodelten auf beiden Seiten, denn alle Grenzland-Siedler waren Menschen von starkem Charakter, ausdauernd und voller Visionen. William Clarke Quantrell, der die Meinung der Mehrheit in Kansas vertrat, startete einen Feldzug und brandschatzte und plünderte im August 1855 die Freistaatengemeinde von Lawrence, nördlich und östlich von Baldwin. Brown organisierte einen Gegenschlag durch seine Gefolgsleute und metzelte Familien der Sklavereibefürworter am Pottawatomie Creek nieder, schleppte die unbewaffneten Bewohner in die Nacht hinaus und quälte sie brutal mit Kavallerieschwertern.
So waren die Zeiten damals. Die Wunden verheilten nur langsam und nicht Wenige verbrachten jahrelang ihre Nächte in Höllenqual, unfähig, die entsetzlichen Bilder der Vergangenheit mit denen zu teilen, die neben ihnen lagen.
Noch immer durchforschten beide, Still und Freeman, das Gesicht des jeweils anderen und stießen dort auf die disziplinierte Kälte unterdrückter Erinnerung.
Still war Hauptmann und Wundarztassistent. Seine Einheit aus Freiwilligen, wenngleich nur Begegnungen mit ähnlich kleinen Truppen gewohnt, bedrängte erfolgreich die Übermacht des unmittelbar vor ihr stehenden Feindes, fand sich jedoch im Eifer des Gefechts plötzlich jenseits der Frontlinien der sich zurückziehenden Konföderierten wieder – abgeschnitten von der Union Force.
Der Kampf tobte heftig, aber Drew – so hieß Still zu Hause – und sein Maultier tricksten die Kugeln aus. Einige Patronen durchlöcherten zwar Stills Mantel, er selbst blieb jedoch unverletzt. Doch dann, war es nun Rücksichtnahme, Zufall oder Ungeschick, erschoss der Gegner statt Drew dessen Maultier, das im Niederfallen aber seinen Besitzer unter sich begrub. Verkrampft und benommen vor Schmerz lag Drew eine Weile reglos. Im wurde klar, dass er sich nicht mehr verteidigen konnte. Die Kameraden hatten ihn als vermeintlich Toten zurückgelassen – und nun erwartete ihn wohl der Tod. Nur nicht bewegen jetzt! Das war seine einzige Chance, Klinge oder Kugel des Feindes zu entgehen. Langsam glitt sein Geist aus diesem Zustand von Schock und verzweifeltem Zaudern in zeitlose Bewusstlosigkeit hinüber.
»Alles wird gut, komm einfach nur nach Hause …«, flüsterte eine sanfte Stimme in die Stille seiner Seele.
»Mary?«
Der Geist seiner verstorbenen Frau schien ihn zu trösten.
Drew, immer noch betäubt und reglos in der hereinbrechenden Dämmerung liegend, fragte sich, warum. Die knatternden Schüsse und der Gestank von Schießpulver, Dreck, Schweiß und Blut durchdrangen seine Sinne in einem Wirbel eingetrübten Bewusstseins. Das enorme Gewicht des Maultiers drückte ihn zu Boden, während ein heißes Brennen wie Feuer sein rechtes Bein hinunterkroch. Als der Kugelhagel ein wenig nachließ, begann er, sich zu sammeln.
»Bin ich erschossen worden? Wer hat gesiegt?«, fragte er sich. Doch es wurde ihm klar, dass es, solange er lag, keine sicheren Antworten gab.
Drückende Stille hatte sich über die Lichtung gebreitet. »Drew, steh auf, rette dich! Du hast noch einiges zu vollbringen.« Wieder weckte eine vertraute Stimme den todesmüden Mann, doch als er sich umschaute, sah er niemanden. War es wirklich seine Frau, die da sprach? Seine liebe, verstorbene? War es Mary? Aber nein, natürlich nicht! Hatte ihn die Todesangst verrückt werden lassen? Und doch: Die Stimme schien so klar, so nah. Während Drew weiter lauschte, öffnete sich sein Blick und ließ das grauenvolle Bild ein, das sich ihm ringsum bot. Sterbende, wohin man auch sah. Ihr Ächzen und Stöhnen ersetzte nun das Pfeifen und Knattern der Gewehrsalven. Allmählich wich der Schlachtenrauch dem milden Dunst der Dämmerung. Die Nacht zog herauf. Ihr Atem machte Drew seine missliche Lage bewusst und weckte seinen Überlebenswillen. Höchste Zeit, zu handeln! Er vernahm die Stimme seines Vaters: »Du musst dich jetzt um dich selbst kümmern, mein Junge.« Zum Glück war Drew auf dem schlammigen Feld unter der weichen Flanke des Maultiers eingeklemmt und konnte so nach langem Bemühen erst seine Schultern und dann Brust, Becken und Beine unter dem erschlafften Tier hervorziehen.
Als er sich mühsam hochrappelte, wurde er seiner Verletzungen gewahr. Glücklicherweise hatte er nur Prellungen und keine Knochenbrüche oder Schusswunden erlitten. Ein dumpfer Schmerz in der Leistengegend sollte sich allerdings später als schwerer Leistenbruch herausstellen, der ihn für den Rest seines Lebens quälen würde. Zwar hatte seine Truppe Price zum Rückzug gebracht, doch hüben und drüben hatten viele ihren Einsatz mit einem hohen Preis bezahlen müssen und waren nicht wie er glücklich mit einem zerschossenen Mantel davongekommen. Unter den Nachbarn, die Drew auf beiden Seiten der Front wiedererkannte, war jedenfalls keiner, dem seine Hilfe noch etwas genützt hätte.
Es war weniger Zeit verstrichen, als er gedachte hatte. Seine Männer erwarteten einen Befehl. Er rief nach dem Trompeter, um die Truppen in geschlossene Reihen zu sammeln, bestieg eines der erbeuteten Pferde und folgte mit seinen Leuten der zurückweichenden feindlichen Armee, ohne jedoch einen erneuten Angriff zu forcieren. Am folgenden Morgen setzten sie die Verfolgung fort und es kam über den Tag hinweg zu kleineren Scharmützeln. Schließlich ließ man den Feind entkommen.
Als Freeman nun auf dem Untersuchungstisch des Krankenhauses saß, musste auch er an diesen Tag denken. Er und seine Nachbarn hatten mit Quantrell und den Konföderierten sympathisiert. Die meisten waren gen Westen in Richtung Freiheit gezogen, eine Freiheit, die ihnen von den Gründervätern des Landes versprochen worden war. Doch die Regierung im Osten schien gespalten zu sein. Teilweise traten die Argumente für eine Unterdrückung der Schwarzen vor staatsrechtlichen Belangen in den Hintergrund. In Illinois rief Stephen Douglas: »Lasst