um – allerdings in seiner ganz typischen Art. Er versammelte die Kompanie und forderte sie heraus:
»Ich möchte wie gesagt nicht, dass irgendeiner von euch den anstrengenden Marsch, der vor uns liegt, auf sich nimmt und sich weiter in diesen schrecklichen Konflikt begibt, wenn er dem nicht gewachsen ist. Sollte irgendjemand zu krank, zu zaghaft oder zu schwach sein, sich uns anzuschließen oder sich aus irgendeinem anderen Grunde nicht in der Lage fühlen, die Härte und die Gefahr zu ertragen, muss er nicht mitkommen. Aber all jene, die sich bereit erklären, mit mir durch jede Strapaze oder Gefahr zu gehen, treten sechs Schritte vor.
Na, wie viele von euch folgen mir? Wie viele haben den Ehrgeiz, die Entschlossenheit, die Sache durchzuziehen?«
Darauf folgte ein Moment der Stille und der Besinnung. Viele neigten ihre Köpfe und durchforschten ihre Seelen. Bilder von ihren Familien stiegen in ihnen auf, die Angst vor erneuter Verwundung und Erschöpfung, Hunger – das Grausen vor weiterem Töten – viele schreckten davor zurück.
»Wie viele? Sechs Schritte vortreten!«
Stille, Zögern, dann trat der Erste vor, weitere folgten. Alles in allem trat ein Drittel der Männer vor.
ABB. 04: MARY VAUGHN, CA. 1855
»Sehr gut, Jungs. Doch wir haben andere Befehle. Wir alle gehen nach Hause!« Still brach in ein schallendes Gelächter aus, das sich schnell durch die Truppe fortsetzte. Freudige Gewehrsalven wurden abgegeben, Hüte in die Luft geschleudert, Pferde wieherten.
Hauptmann Brandon an Stills Seite bemerkte: »Gut gemacht, Major!«, und ritt davon. Still zügelte sein unruhiges Reittier und schaute einen Moment den wegziehenden Männern gedankenverloren hinterher. Dann lenkte er sein Ross durch ein sanftes Ziehen westwärts.
Derlei Erinnerungen strömten auf Still ein, während er nun hier in Kirksville saß und die frühe Maisonne genoss. Dankbar dachte er an die Stimme, die ihn damals zurück ins Bewusstsein gebracht hatte. »Danke, Mary, dass du an jenem Tag für mich da gewesen bist. Danke, dass du heute für mich da bist.« Das Leben ist so vollkommen und so eigenartig, dachte Still. Nach all der Zeit – man schrieb mittlerweile das Jahr 1899 – und trotz seiner glücklichen zweiten Ehe mit Mary Turner schien seine erste Frau Mary Vaughn immer noch eine Seelenverwandte und tägliche Begleiterin für ihn zu sein. Er sprach oft mit ihr und es schien ihm ganz natürlich.
Ein goldener Morgen
Die Strahlen der sommerlichen Morgensonne ergossen sich durch das Blattwerk. Obwohl dem jungen Drew Still, jetzt sieben, der Weg durch die Wälder Virginias bekannt war, erschien er ihm an diesem Morgen unwirklich. Ein zäher, kühler Dunst zerstreute das Licht und verlieh der Waldluft eine köstliche Frische. Alles schien wie verzaubert. Der Junge blieb verwundert von der stillen Schönheit des Ganzen stehen. Welch großartiges Werk eines allwissenden und freigebigen Schöpfers! Als er sich auf den Weg durch die Schlucht zu einem Bach machte, der unter der Steinbrücke hindurchfloss – ein Pfad, den er mit seinen Brüdern Edward und James schon oft gegangen war – fühlte sich dieser Ort ganz anders an. Ein seltsames Gefühl. Angst überkam ihn, eine dunkle Vorahnung. Lauerte etwas auf ihn? Eine reale Angst – in dieser Gegend gab es Bären und Luchse, sogar Pumas. Doch irgendetwas zog ihn weiter.
Ebenso gefährlich waren Begegnungen mit den kriegerisch Gesinnten unter den Ureinwohnern des Landes. Die Familie Still und ihre Nachbarn rund um Jonesville teilten sich die Wälder mit den Cherokee-Indianern. Auf den Spuren der Entdecker »Long Hunter«, Daniel Boone, Bigfoot Spencer und anderer hatte man 1775 begonnen, eine Straße durch die Wildnis in Richtung Westen zu bauen. Das Heimatland der Indianer erwies sich als ideales Farmland für die Weißen. Die Gemeinde rund um Jonesville erfuhr die meisten Neuigkeiten von denen, die diese Strecke bereisten und hier eine Rast einlegten, um für ihre Weiterreise nach Cumberland Gap ihre Vorräte aufzustocken. Nach den 40 Jahre zurückliegenden Kriegen hatte seitens der Ureinwohner eine gewisse Toleranz geherrscht, doch seit der Verabschiedung des Indianer-Umsiedlungsgesetzes von 1830 wuchs ihre Unruhe. Was später »der Pfad der Tränen« genannt werden sollte, war zwar immanent, aber dennoch nicht voraussehbar.
Doch ein 7-Jähriger lässt sich von solchen Überlegungen der Erwachsenen nicht abschrecken. Die von jener Schönheit und Stille geweckte Neugierde und Begeisterung trieben Drew an. Normalerweise wurden Ausflüge in die Wälder geplant und von ihm in Begleitung eines Familienangehörigen unternommen. Doch an diesem Morgen war er spontan aufgebrochen. Er wollte weitergehen und entdecken. Seine Füße bewegten sich vorsichtig, die Augen und Ohren nahmen alles ringsum wahr. Während er den gut ausgetretenen Pfad entlanglief, strichen seine Finger über weiche Blätter. Steinchen rieselten durch das Laub auf seine Schultern herab und verrieten die Anwesenheit eines Grauhörnchens, das flink über das Ende eines schmalen Astes huschte, den Zweig mit seinem Schwanz umschlingend und nach reifen Walnüssen suchend. Drew konnte das Ingweraroma der zerbrochenen Schalen riechen. Das leichte Rascheln der Blätter dort oben verriet die Position des pelzigen Gesellen. Hätte er sein Gewehr dabeigehabt, wäre das Tierchen wohl auf dem Mittagstisch gelandet. Drew bewegte sich und das trockene, goldene Laub der Walnussbäume knisterte unter seinen Schuhen. Das Hörnchen erschrak und sprang auf einen höheren, sicheren Ast. Es stieß einen Warnruf aus und die Antwort seiner Kameraden lenkte den Jungen ab, als sie über die Lichtung huschten. Dann war alles wieder still.
Ganz einfache Dinge schienen an diesem Morgen wundersam. Das Hörnchen hatte einen Schwanz; wie praktisch. Drew war neidisch. Es war schwierig auf Bäume zu klettern. Das Hörnchen war klar im Vorteil. Der Eichelhäher hat Flügel. Der kleine Drew, ein geschickter Jäger, hatte jedes dieser Geschöpfe schon einmal fachmännisch zerlegt und dabei seine individuelle Anatomie erforscht. So unterschiedlich sie lebten, so starben sie. Fell oder Gefieder – absolut verschieden. Die Knochen einigermaßen ähnlich, doch offensichtlich auf ihre Anforderungen angepasst. Jedes schien die unterschiedlichen Launen ein und desselben Schöpfergeistes widerzuspiegeln. Wie weise.
Drew erreichte den Bach und hielt an der steilen Böschung inne. Sein Ziel war der geheime Treffpunkt auf dem Felsvorsprung unterhalb der natürlichen Brücke. Er folgte dem Bachlauf, der leise vor sich hin plätscherte durch die Felsen in den grünen Tunnel aus Unterholz. Da vorne lag das erweiterte Flussbett und hinter ihm das Naturwunder der steinernen Brücke. Drew setzte sich auf einen moosbewachsenen Stein am Flussufer, genoss die Kühle und den wiederkehrenden Ruf der Walddrossel in der Ferne. Er stocherte mit einem Stock in der spiegelnden Wasseroberfläche des Bassins, drehte kleine Steine auf dem Grund des Baches herum und scheuchte einen Krebs, der sich durch Schwanzschläge fortbewegte, von einem Versteck ins nächste. In der tiefen Stille des Morgens warfen die Wände des Tales das Echo der rollenden Steine und des aufspritzenden Wassers zurück.
Schließlich erreichte er die Brücke, einen natürlichen Tunnel aus Kalkstein, und setzte sich in den Schatten der Felshöhle. Spuren durchgesickerten Grundwassers hinterließen sonderbare Muster im Felsen und gaben ihm einen Einblick in den unterirdischen Teil der Welt. Seine Brüder und er pflegten sich Abenteuergeschichten zu erzählen von indianischen Heldentaten, Früchte ihrer lebhaften Vorstellungskraft, wenn sie in ihrem Versteck oberhalb des Flusses zusammensaßen. Über diesem Platz schwang ein Geheimnis.
An jenem Morgen konnte er, in seine Träumereien versunken, schon bald nicht mehr Äußeres und Inneres unterscheiden und die Sonnenwärme vermischte sich mit der Wärme ehrfürchtiger Bewunderung in seiner Brust. Er begann ein Zwiegespräch, in dem er dem Schöpfergeist für all diese Gaben, diese Welt, sich selbst und seine Familie dankte.
Drew stand auf und lief ein Stück weit den Pfad hinunter, der eine Biegung über den felsigen Bergrücken machte und schließlich zurück zur Farm führte. Während er tiefer in den Wald hineinging, dachte er über sein Leben nach; die häufige Abwesenheit seines Vaters, der sich »dem heiligen Wort« verpflichtet hatte, Begegnungen mit den Ureinwohnern, in der Schule die Probleme mit Professor »Prügelberg«. Ja, das Leben war hart. Zu Hause hatte Drew seine eigenen Verpflichtungen: Umgraben, Hühnerfüttern, Pferdestriegeln.