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Weihnachtswundernacht 4


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es eine heiße Suppe gegeben – russische Borscht mit viel Gemüse. Marias Tante war schon vor Jahren aus Russland ausgewandert. Sie hatte es kommen sehen, dass in ihrer Heimat die Juden bald verfolgt würden. Mittlerweile war sie aus Überzeugung zum christlichen Glauben übergetreten. Während einer Judenverfolgung waren Marias Eltern vor drei Jahren getötet worden. Da hatte sich das Mädchen ganz alleine auf den gefährlichen und beschwerlichen Weg von St. Petersburg aus nach Hamburg aufgemacht. Es war ein Wunder, dass sie heil dort angekommen war und ihre Tante bald gefunden hatte. Die hatte Maria mit offenen Armen empfangen, sie aufgepäppelt und war dann sehr traurig gewesen, dass ihre Nichte am 1. Dezember aufbrechen wollte in die neue Welt. Die Passage auf dem Zwischendeck des Dampfschiffes war schon gebucht und bezahlt. Dafür hatte Maria ihren Lohn als Schankhilfe und alle Trinkgelder eisern gespart. Im Sparstrumpf war sogar ein ordentlicher Betrag übrig geblieben, um die erste Zeit in der Neuen Welt zu überleben.

      Und nun waren sie schon seit drei Wochen auf diesem stampfenden, rollenden Schiff eingepfercht. Eigentlich sollte die Überfahrt ja nur gut vierzehn Tage dauern, aber schwere See und heftige Sturmböen verlangsamten die Reise entsetzlich. Wie hatte Jakob sich gefreut, als Maria ihm angeboten hatte, seine Passage ebenfalls zu bezahlen.

      „Du wirst mir das Geld in Amerika zurückgeben“, hatte sie gesagt, „du weißt doch: Es gibt dort gute Arbeit für alle!“

      Anfangs hatten Jakob die beengten Zustände auf dem Zwischendeck auch nicht gestört. Dieses Deck war eine Art Frachtraum für Passagiere – für die, die sich die Kabinen der ersten, zweiten oder dritten Klasse nicht leisten konnten. Dicht an dicht standen metallene Stockbetten, deren Eisenfüße am Boden festgeschraubt waren. Hunderte von Passagieren mussten in einem Raum essen, schlafen und hinter Vorhängen ihre Notdurft verrichten. Die Enge war drangvoll, der Gestank bereits nach drei Tagen ganz erbärmlich. Zumal viele von der Seekrankheit geplagt wurden und es oft nicht schafften, rechtzeitig an Deck zu gelangen.

      Nun – Jakob war ja schon Einiges gewöhnt im Leben und so war er mit den Unbequemlichkeiten der Reise gut zurechtgekommen. Aber dann war Maria krank geworden. Sie bekam hohes Fieber und schrecklichen Durchfall und es gab keinen Arzt an Bord. Maria war schwächer und schwächer geworden – und Jakob wusste jetzt, dass sie in seinen Armen sterben würde.

      „Versprich mir, dass du in New York eine geweihte Kerze anzündest“, flüsterte sie mit schwacher Stimme in sein Ohr. „Und dann bittest du Gott, dass in Zukunft auf jedem Auswandererschiff auch ein Arzt an Bord ist. Versprichst du mir das?“

      Maria wusste genau, dass Jakob mit Gott nichts zu tun haben wollte. Was sollte das für ein Gott sein, der kleine Jungen in grausamen Waisenhäusern ihrem Schicksal überließ, der Maria nicht davor geschützt hatte, aus ihrer Heimat flüchten zu müssen, der sie jetzt sterben ließ? Jakob war klar, was Maria auf diese Fragen antworten würde. Er hatte in den letzten Tagen oft genug versucht, mit ihr über Gott zu streiten. „Er ist der Gott, der vom Himmel gekommen ist, um mit seinen Menschen zu leiden – und für sie. Der Gott, der in einer Futterkrippe lag, der schon als Baby auf der Flucht war, der Gott, der geschlagen wurde und getötet. Der Gott, der Armut, Einsamkeit und Verzweiflung erlitten hat für uns.“

      Das hatte Maria wieder und wieder versucht, ihm klar zu machen. Jakob wollte das nicht hören. Jetzt aber versprach er Maria natürlich, in New York eine Kerze anzuzünden und dieses Gebet zu sprechen. Ihren letzten Wunsch würde er respektieren.

      „Und wenn Gott dein Gebet erhört, dann hörst du auf, dich gegen ihn zu wehren?“ Jakob schluckte – und versprach auch das. Maria lächelte ihn ein letztes Mal voller Liebe an und starb.

      Drei Tage später – am Heiligen Abend des Jahres 1886 – fuhr das Auswandererschiff in den New Yorker Hafen ein. Jakob stand an Deck, zart rieselten weiße Schneeflocken auf seine hängenden Schultern. Plötzlich fingen die Menschen um ihn herum an zu jubeln. Aus der Hafeneinfahrt schien Jakob ein gigantischer Engel entgegen zu schweben, der einen Arm zur freundlichen Begrüßung erhoben hatte. Mit einer riesigen Fackel erleuchtete das himmlische Wesen die Dunkelheit. Das schwarze Wasser funkelte und glitzerte als wäre es übersät mit Diamanten. Der Anblick war so großartig, dass Jakob anfing, an Wunder zu glauben – trotz allem.

      Auch als er später erfuhr, dass es sich bei der Erscheinung um die erst kürzlich eingeweihte Freiheitsstatue handelte, gab er diesen Glauben nicht wieder auf. Am zweiten Weihnachtstag zündete er in der Kapelle der Einwandererhalle eine Kerze an und betete, wie Maria es gewollt hatte.

      Ein Jahr später wurden ausgebildete Schiffsärzte auf jedem Auswandererschiff gesetzlich angeordnet.

      ANNEKATRIN WARNKE

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      In einer Zeit, in der Schnelllebigkeit immer mehr Tradition frisst, versuchen wir, das Wenige zu bewahren. Am Samstag nach Totensonntag steige ich unsere Bodentreppe hoch, um die beiden alten großen Weihnachtskartons herunterzuholen. Jedes Jahr, wenn wir im Januar alles wieder zusammenpacken, nehmen wir uns vor, alles in neuen Kartons zu verstauen. So langsam jedoch haben wir kapiert, dass nichts daraus wird, und der erste gute Vorsatz im neuen Jahr gleich dahin ist. Aber am Samstag nach Totensonntag, da freue ich mich immer wieder, die alten, vergilbten Kartons doch wieder herunterschaffen zu können.

      Gemeinsam mit meiner Frau und unseren Kindern befreie ich den Herrnhuter Stern, den Bergmann und natürlich darf auch dieses Jahr der große Engel nicht fehlen. Mein Großvater hat ihn geschnitzt und sein Engel wartet jedes Jahr aufs Neue mit uns zusammen auf die Geburt Jesu. Niemanden stört es, dass dem Engel seit Jahren die Spitze des rechten Flügels fehlt. Anfangs hatte ich immer versucht, sie wieder anzukleben. Aber sie hielt nie lange und eines Tages meinte meine Große: „Ach Papa, lass ihn doch so, er darf trotzdem mitfeiern!“ Mir kam es vor wie eine Erlösung.

      Während wir unser Wohnzimmer schmücken, schwelgen wir meist in Erinnerungen. Oft wollen die Kinder etwas von ihrem Urgroßvater hören: „Warum hat er sich so viel Mühe gemacht und den Engel selbst geschnitzt? Hätte er ihn gekauft, hätte er sich sicher nicht mit ihm so abmühen müssen.“

      „Wisst ihr, als mein Opa, also euer Urgroßvater, nach Deutschland kam, da hatte er gerade mal einen Koffer und einen Rucksack dabei, eure Urgroßmutter an der Hand und vier Kinder. Mehr hatten sie nicht. Und so zogen sie in ihre kleine Wohnung ein, in die es hineinregnete.“

      Falk will wissen: „Warum kamen sie nach Deutschland? Wir sind doch Deutsche?“

      Ich überlegte einen Moment. Sollte ich wirklich mit den alten Geschichten beginnen?

      „Als meine Großeltern 1945 in Serrahn ankamen, da waren sie seit Monaten unterwegs. Sie mussten ihre Heimat Bessarabien verlassen, weil die politisch Mächtigen das damals so beschlossen hatten. Von Bessarabien hab ich euch doch schon öfter erzählt. Ihr wisst, das ist das Land, das in der heutigen Ukraine und in Moldawien lag.“

      „In der Ukraine ist heute immer noch Krieg“, rief Falk aufgeregt dazwischen.

      „Das ist schon wieder ein neuer Krieg“, fuhr ich fort, „meine Großeltern mussten damals ihre Heimat verlassen und lernten den Krieg zur Genüge kennen. Auf ihrer Flucht quer durch Europa mussten sie mit ansehen, wie ihre Tochter verhungert ist.“

      „Verhungert? Aber sie hätten ihr doch etwas von ihrem Essen abgeben können“, meinte Falk und schien die Welt nicht mehr zu verstehen.

      „Damals hatten die Flüchtlinge zum Teil so wenig zu essen, dass sie sich auf fremde Höfe geschlichen haben, um von den Komposthaufen fremder Leute Kartoffelschalen zu stehlen“, erzählte ich weiter: „Einmal hetzten die sogar einen Hund auf meinen Großvater, aber er konnte sich gerade noch so über den Zaun retten. Viele Leute jagten die Familie eurer Urgroßeltern weg. Geholfen haben ihnen nur sehr wenige. Aber es war ja auch eine Zeit, in der alle nur sehr wenig hatten. Ja, und dann kamen sie in den Kreis Güstrow und fanden ihr geliebtes Dorf Serrahn, direkt an dem schönen See, an dem wir im Sommer immer Urlaub machen.