Dies ist topographisch zwar nicht ganz korrekt, zeigt aber umso mehr, welche Bedeutung Muthesius dem Herkulesblick beimaß; die Ungenauigkeit berichtigte er in der 2. Auflage 1922, indem er nun zum südlich und westlich vorgelagerten Garten schrieb:22 Hier eröffnet sich eine Aussicht nach dem Herkules von Wilhelmshöhe, dem Wahrzeichen der Kasseler Gegend. Naturnahe Lage und Blick auf den Herkules erscheinen also als besondere Vorzüge des Landhauses.
5 Das Landhaus von Strombeck mit Blick zum Herkules, 1912
4. Die Stadterweiterungen nach dem Ersten Weltkrieg
Dass das Stadtbild die Blicke ausschnitthaft auf den Herkules beschränkte, kritisierte in den 1920er-Jahren der Leiter des Stadtplanungsamts, Erich Labes.23 Zwar sei Kassel vor allem wegen des Wilhelmshöher Schlossparks und der Kaskadenanlage bekannt, schrieb er 1929, doch bei allem eigenen Reiz und bei aller Kühnheit, die aus dem Werke spricht, seien diese außerordentlichen Schöpfungen nur eine schöne Zutat zu dem viel größeren, imposanten Aufbau der Natur, die in ihrer Gestaltung und Gruppierung ihresgleichen sucht. Labes schildert schwärmerisch das bewegte Landschaftsbild zwischen Wilhelmshöhe und Stadthalle, mit Panoramen von seltener Formung und Stimmung; es werde fast vergessen über den Sehenswürdigkeiten von Rang, mit denen er das gigantische Werk des Herkules und der Wilhelmshöhe meint. Zugleich kritisierte er, dass die Bautätigkeit aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jh., in dem alle Pläne und Ideen nur von wirtschaftlichen Gesichtspunkten betrachtet wurden und das Verständnis für städtebauliche Wirkungen nachließ, keine Rücksicht bei der Gestaltung von Straßen und Bauten auf das wundervolle Gepräge der Landschaft zwischen Habichtswald und Stadt genommen habe. Glücklicherweise brach das Verständnis für städtebauliche Werte nach dem Kriege so stark durch, daß man nicht davor zurückschreckte, durchgreifende Abänderungen in dem schon ausgeführten und baureif gemachten neuen Westen zwischen Stadthalle und Bahnhof Wilhelmshöhe vorzunehmen. Neben dem Stadthallengarten (statt des kleineren runden Aschrottplatzes) nennt er dazu vor allem die heutige Goetheanlage. Freilich begünstigten die schlechten wirtschaftlichen Bedingungen der Nachkriegszeit die Umplanungen – war doch der Grundstücksverkauf ins Stocken geraten, und zugleich stieg das Bedürfnis nach bezahlbarem Wohnraum immer stärker an.
Das Gebiet der Goetheanlage war 1922 in städtischen Besitz übergegangen: ein großes Areal am Druselbach, das schwierig zu bebauen und daher auch noch nicht erschlossen war. Zunächst errichtete man beiderseits des tiefen Bachtals eine Siedlungsbebauung, und 1930–33 wurde die Talmulde selbst gestaltet: Über der verrohrten Drusel entstand ein Volksgarten nach Plänen des Stadtgartendirektors Rudolf Stier; den westlichen Abschluss bildete die Malwida-von-Meysenbug-Schule (heute Heinrich-Schütz-Schule), als Blickpunkt vor der Kulisse der Wilhelmshöhe. Labes schrieb dazu: Mit der großen Freifläche zwischen Kaiserstraße und Herkulesstraße […] ist erreicht worden, was bisher weder durch den berühmten Baugedanken der schnurgeraden Wilhelmshöher Allee, noch durch die Kaiserstraße erreicht wurde, nämlich die dauernde Sicherung einer breiten Aussicht auf die hohe Bergwand im Westen. Lassen Wilhelmshöher Allee und Kaiserstraße zwischen ihren Linden- und Platanenalleen nicht viel mehr als Schloß und Herkules darüber frei, bleibt hier einer der reizvollsten Ausschnitte aus dem Panorama des Habichtswaldes für immer sichtbar. Er lobte die Großartigkeit dieser Planung, durch die die Schönheit des Habichtswaldes in den Stadtteil gewissermaßen hineingeholt wurde […]. Durch das rhythmische Spiel dieser großen Massen [der Randbebauung] ist äußerst wirkungsvoll der Längsrahmen der großen Freifläche, die der Erholung dienen soll, geschaffen. Am Westende steht […] der mit feinem Takt hingesetzte Schulbau der Studienanstalt [heute: Heinrich-Schütz-Schule]. Der in diesem Falle mit viel Berechtigung gewählte horizontale, monumental wirkende Mauerabschluss unterstreicht und erhöht die Fernwirkung vom Schloss und Kaskaden in Wilhelmshöhe. (Abb. 6) Die Blickbeziehungen sind heute durch hohe Vegetation allerdings größtenteils gestört.
6 Die Goetheanlage mit Malwida-von-Meysenbug-Schule und Herkules, 1933
Eine ähnliche Situation, nur in viel kleinerem Maßstab, finden wir wenig später am Gartenstadt-ähnlichen Flüsseviertel, am westlichen Ende des Werrawegs. Dort hielt eine dreieckige Fläche den Blick aus der Baunsbergstraße auf die Christuskirche frei und bildete eine Eingangssituation in das Flüsseviertel; zugleich öffnete sie den Werraweg zu einem weiten Panorama mit Blick auf Habichtswald, Herkules und Schloss Wilhelmshöhe. Panorama und Dreieck wurden in jüngster Zeit jedoch rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten geopfert…24
Die Forderungen, bestimmte Flächen zur Erholung oder wegen ihrer Fernblicke und Aussichten, wegen ihrer natürlichen Schönheit und Stimmung freizuhalten und die Bebauung in bestimmten Grenzen zusammenzufassen, schloss Labes mit dem Fazit, dass der Sinn der neuen westlichen Gartenstädte somit deutlich zu erkennen sei: Der Ausbau zu einer hervorragend gesunden und schönen Wohn- und Wanderstadt, einer Stadt, in der sich nicht nur angenehm wohnen, sondern auch in unmittelbarer Nähe herrlich wandern und die Natur genießen läßt. Den leicht erreichbaren Habichtswald aber, der das ganze Wohngelände [dieser Gartenstädte] begleitet, bewahre man vor jeder weiteren Besiedlung, vor jeder die Natur beeinträchtigenden Veränderung überhaupt. Denn es wächst das Bedürfnis nach der unberührten und ungebrochenen Natur. Nicht Park und Schloß und Monument an sich dort oben sind Ziel und Sehnsucht der Menschen, sondern der unendlich große und tiefe Wald darum und die Abgeschiedenheit der Natur dahinter, in der sie eingebettet liegen.25
Diese Gedanken spiegeln das grundsätzlich veränderte Verständnis von Städtebau und Natur wider, das sich im frühen 20. Jh. in den Gartenstädten und z. B. in der Wandervogelbewegung äußerte. Sie bestimmten auch den zeitgleich aufgestellten Grünflächenplan der Stadt Kassel,26 den Stier zusammen mit Labes erarbeitet hatte, und sie sind ebenso beim Wilhelmshöher Freibad wiederzufinden, das – nach ersten Vorplanungen 1930 – in den Jahren 1934/35 am oberen Ende eines ansteigenden Grünzugs errichtet wurde.27 Ernst Rothe (Leiter des städtischen Hochbauamts) und Stier hatten die Anlage so konzipiert, dass sie auf ein doppeltes Landschaftspanaroma bezogen ist: nach Nordosten ein weiter Fernblick über das alte, offene Wiesenland hinweg in das Kasseler Becken, und im Nordwesten ein einzigartiges Panorama mit Habichtswald, Schloss Wilhelmshöhe und Herkules. Bei der Eröffnung 1935 hob Stier ausdrücklich den besonderen Reiz dieser Aufgabe hervor, und in den Verwaltungsberichten der Stadt Kassel wird mehrfach der Landschaftsbezug betont und als ein wichtiger Grund für die Standortwahl des zweiten städtischen Freibads genannt – neben der guten Erreichbarkeit, der Lage inmitten eines Grünzuges, der Speisung durch Quellwasser sowie dem Verweis auf eine erfolgreiche Bohrung nach Solewasser; der Herkules spielte aber auch hier keine ausdrückliche Rolle mehr. Im Mittelpunkt standen vielmehr weite Fernsichten auf die das Kasseler Becken umgebenden Berge und Höhenzüge und reizvolle Nahsichten auf Habichtswald und Wilhelmshöher Park.28
Lag im Habichtswald zur Zeit Landgraf Carls der Fokus des Erlebens bei den Besuchern noch auf Herkules und Wasserkünsten, war er unter Friedrich II. und erst recht unter Wilhelm IX. auf die neuen Garten- und Parkanlagen auch beiderseits der Mittelachse erweitert, so wurde er im frühen 20. Jh. auf den gesamten bewaldeten Höhenzug und seine Landschaftsausläufer ausgedehnt: Der Herkules war nur noch ein Bestandteil eines viel größeren Ganzen.
Auf den Landschaftsbezug nahmen städtische Auflagen und Bebauungspläne noch in den 1960er- und 70er-Jahren Rücksicht: So finden wir etwa auf der Südseite der Terrasse und im Gebiet Ochsenallee / Vor der Prinzenquelle / Am Juliusstein absichtlich nur eine eingeschossige Bebauung – oder vielmehr fanden,