John Martin Littlejohn

Das große Littlejohn-Kompendium


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schließt auch die Entfernung der mechanischen Ursache für die Behinderung des Kreislaufs ein.

      Aus der diagnostischen Perspektive zielt die Osteopathie darauf ab, eine neue Wissenschaft der Diagnose zusätzlich zu den älteren Methoden der Diagnose durch Palpation, Auskultation und Perkussion zu entwickeln. Darin ist die Idee eines verfeinerten und sensitiven Tastens impliziert. Ein vollständiges Wissen über die normale und morbide menschliche Anatomie schließt das Wissen über das System aus der Perspektive eines ausgebildeten Tastsinns ein, damit eine richtige Unterscheidung zwischen dem Normalzustand und dem anomalen Zustand überhaupt möglich ist. Die Finger können durch Ausbildung durchaus so feinsinnig werden wie die eines Blinden, bei dem der Tastsinn den Sehsinn nahezu ersetzt. Als physiologische Grundlage für diese höchst verfeinerte Ausbildung des Tastsinns dienen die spezifischen Aktivitäten der winzigen Nervenfasern und neuromuskulären Organe in den Fingern. Allen Sinnen liegt das wesentliche Prinzip der Sensibilität zugrunde, sodass diese entsprechend spezialisiert werden kann. In Hinblick auf eine objektive Diagnose bezeichnet die ausgebildete Sensibilität des Tastsinns nicht nur ein neues und höchst wichtiges diagnostisches Mittel, sondern repräsentiert auch jenes materialisierende Prinzip der osteopathischen Diagnose, das sich von dem subjektiven diagnostischen Prinzip der Symptomatologie unterscheidet. Symptome sind stets mehr oder weniger physiologische Übertreibungen. Eine körperliche Untersuchung übertrifft insofern jegliche Form subjektiver Befundung, als nur objektive Tatsachen die wissenschaftliche Grundlage einer echten Diagnose bilden. Die Übung in dieser Methode der rein körperlichen Untersuchung ist fester Bestandteil jeder osteopathischen Ausbildung. Entsprechend ausgebildete Kliniker können so am normalen Körper den Umriss aller Organe, Wirbelbeziehungen, skelettalen Gelenkverbindungen usf. nachverfolgen. Im Rückenmark befinden sich assoziierte Organzentren, reflektorische Zentren und den primären Gehirnzentren untergeordnete Zentren, sodass der Maschinist diese Zentren der vitalen Aktivität im Kontext der Lebenskräfte bei Störungen und Erkrankungen neurologischer Ätiologie durch spinale Manipulationen erreichen kann.

      Palpatorisch ist es leicht, eine vergrößerte Milz, einen dilatierten Magen, ein zusammengepresstes Kolon oder eine hypertrophe Leber zu diagnostizieren. Die Finger können entlang der Wirbelsäule Kontrakturen und empfindliche Stellen ausmachen, die wiederum auf Stauungszustände im Bereich des Rückenmarks und in anderen spinalen Bereichen hindeuten können. In der Gynäkologie sind die geschulten Finger in der Lage, die betroffenen Organe oder Teile genauestens einzuschätzen, wobei Vergrößerungen, Prolaps, Fleischwunden, Ulzerationen, hypertrophe und dichte oder erschlaffte Zustände der Musculi sphincter, beutelartige Dilatationen entdeckt werden, welche die katarrhalische Entzündung und das Fehlen von Tonizität an den Wänden der Ausscheidungsorgane begleiten.

      Beim Blick in die Geschichte der Medizin drängt sich uns unweigerlich folgendes Sprichwort auf: „Denken ist das am wenigsten ausgeübte Vorrecht einer kultivierten Menschheit.“ Der Mensch ist mit den Meinungen verheiratet, die mit ihm auf die Welt kommen. Und doch ist es eine weise Vorsehung, sofern der fortschrittliche Geist vorwärts marschiert, dass die Wissenschaft zuerst den Beweis fordert, um Glauben beanspruchen zu können. Und außerdem muss der Menschheit bekannt gemacht werden, was wissenschaftlich bewiesen worden ist. Nur weil eine Anschauung als neu bezeichnet wird, heißt das noch lange nicht, dass sie falsch ist. Das Blut zirkulierte über lange Jahrhunderte auf die gleiche Weise, bevor Harvey die Philosophie seines Kreislaufs erklärte. Der menschliche Körper hat viele Katastrophen wie etwa die Pest überlebt. Wenn wir heute feststellen, dass der Körper in ein Netzwerk von Nerven verwoben ist, wodurch die gesamten Lebenskräfte des Körpers reguliert werden, und wenn wir zudem feststellen, dass in allen Geweben des Körpers zwei große Bahnen der Flüssigkeitszirkulation existieren, durch die Blut und Lymphe in die entferntesten Winkel des Organismus transportiert werden, beladen mit ernährenden Materialien für die Ernährung der Gewebe und den Abfall fortschaffend, der durch die Ernährungsprozesse hervorgerufen wird, dann ist es keine bloße Spekulation zu behaupten, dass diese Funktionen durch Manipulation der Nerven und Gefäße sicherer kontrolliert werden als wenn wir eine ungewisse Menge Medikamente mit unbestimmtem Potenzial in den Magen schütten – natürlich nur, wenn wir eine hervorragende Kenntnis besitzen von den leitenden und kontrollierenden Nerven, sowie von jenen Gefäßen, die für die Ernährung bestimmter Teile des Körpers verantwortlich sind, und von ihren Funktionen. „Die Natur besitzt gewiss eine wundervolle Kraft, die Sachen richtig zum Ziel zu bringen.“

      Ich habe die Hoffnung, dass die medizinische Profession schnell sein wird beim Annehmen dieses neuen Kindes der Wissenschaft, dass sie sich aber Zeit lassen wird, bevor sie dessen Behauptungen lediglich deshalb anzweifelt, weil sie alteingeführten Sitten, Methoden und Theorien widersprechen. Keine Menschensparte ist je so schnell gewesen im Begrüßen des Guten, keine war aber auch so schnell bereit, die Darstellung eines Gedankens oder eines Prinzips abzulehnen, das möglicherweise die Theorien oder Dogmen der eigenen Profession zu Fall bringen oder stören könnte. Dies ist hauptsächlich bedingt durch die Tatsache, dass akademischer Neid der Profession eine medizinische Etikette aufgezwungen hat, die dazu führt, dass alles, was eine andere Schule hervorbringt, mit Missgunst betrachtet wird. Doch dieser überholte Neid und das traditionelle Verehren des Alten sind nun im Aussterben begriffen.70 Mit dem Expandieren der Wissenschaft und durch den Prozess intellektuellen Fortschreitens ist es in den Labors nicht mehr Usus, Loyalität gegenüber Althergebrachtem als Tugend anzusehen. Und wer tiefer in die Geheimnisse der Wissenschaft gräbt, erkennt, dass voreilige Schlussfolgerungen vergeblich sind, dass Wahrheit den einzigen offenen Weg zur Forschung darstellt und dass Loyalität gegenüber dem Richtigen und Wissenschaftlichen, sei es nun alt oder neu, das einzige Prinzip unserer Neuzeit ist, für das es sich zu kämpfen lohnt. Möge es auch so sein, wenn sich die Osteopathie vor der wissenschaftlichen Welt entfaltet und ihre Prinzipien wissenschaftlich entwickelt und systematisiert sind. Möge sie rasch erfasst und mögen ihre Prinzipien geduldig, beharrlich und in aller Klarheit entfaltet werden, um die Summe an menschlicher Gesundheit und damit auch an menschlichem Glück zu vergrößern. Bis dahin müssen wir, die wir den Wert dieser Prinzipien schon erkannt und schätzen gelernt haben, unsere Forschungen im Bereich der menschlichen Anatomie und Physiologie, in klinischen und labortechnischen Untersuchungen sowie in praktischen Demonstrationen fortsetzen in der Hoffnung, dass jeder noch so entfernte Winkel des Organismus so freigelegt wird, dass keiner übersehen kann, wie die Berührung und die Gegenwart der geschulten Hand das gesamte funktionelle Wohlbefinden des Körperorganismus grundlegend zu beeinflussen vermögen.

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      Littlejohn, wie man ihn kennt – unermüdlich studierend, forschend, redigierend.

      7. FIEBER

      Vorlesung vor Studenten an der A.S.O.. Journal of Osteopathy (VI), 1900, S. 471–478.

      Wir möchten gleich zu Beginn betonen, dass zwischen Temperatur und Fieberzuständen klar unterschieden werden muss. Zweifellos hat Graves Recht, wenn er sagt:

      „Im gesamten Spektrum menschlicher Leiden gibt es keine Krankheit, die so außerordentlich interessant und bedeutend ist, wie Fieber.“

      Ob in höchst zivilisierten oder in wenig entwickelten Ländern, in urbanen oder in ländlichen Regionen, in Berggegenden oder in flachen Gebieten: Fieber kommt überall vor – und über kaum einen Zustand kursieren derart wirre Meinungen wie über diesen. Die alten Ärzte sagten: Essentia vero febrorum est praeter naturam calamitas71, weil man sie gelehrt hatte, ein Symptom allein zu betrachten. Hautwärme oberhalb der normalen, der Gesundheit entsprechenden Temperatur galt als synonym für jenen fiebrigen oder pathologischen Zustand, der zu Fieber gehört. Vor allem in solchen Fällen muss aber mehr Gewicht auf die Ätiologie als auf die Symptomatologie gelegt werden. Sogar der berühmte Virchow definiert Fieber als „[…] jenen Körperzustand, in dem die Temperatur über den Normalzustand steigt.“ Obgleich wir Virchows unangezweifelte Autorität als Pathologe ersten Ranges anerkennen, weigern wir uns, diese Definition zu akzeptieren, denn hier wird offensichtlich Wirkung mit Ursache und Physiologie mit Pathologie verwechselt.