Werner Rosenzweig

Mörderisches Bayreuth


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ein einziges Mal ausgiebig zu inhalieren. Einmal dabei zu sein, bei den Bayreuther Festspielen!

      Nun war es so weit und beim Binden seiner Krawatte stellte Behringer fest, dass er sich wirklich auf die Vorstellung freute. Natürlich hatte er sich auf die Handlung von Wagners Oper vorbereitet. Wenn er schon den Text nicht verstand, wollte er wenigsten wissen, was warum auf der Bühne passierte. Er hatte sich im Internet informiert und in die Handlung des „Rheingolds“ und der „Walküre“ eingelesen. Er wusste, dass Sieglinde, die Tochter Wotans, von ihrem Zwillingsbruder Siegmund schwanger war und dass Wotan, der inzestuösen Geschwisterliebe wegen, in furchtbarer Wut Siegmunds Schwert Nothung zerschlagen hatte. Dass Brünhilde, eine der neun Walküren, der schwangeren Sieglinde zu Hilfe geeilt war und diese samt dem zerbrochenen Schwert im Fafnerwald versteckt hatte, war so eine verrückte Idee Wagners, die mit dem wahren Nibelungenlied absolut nichts zu tun hatte. Ganz schön daneben, fand Behringer, aber seine Erwartungshaltung näherte sich trotzdem einer hochprozentigen Neugierde.

      Heute Abend erwartete ihn die Fortsetzung des Dramas: mit einem immer noch vor Wut tobenden Wotan und dem Zwerg Mime, Bruder von Alberich, der Sieglinde im Fafnerwald finden und sie und die Reste des zerschlagenen Schwerts in seiner Höhle verstecken würde. Sieglinde würde die Geburt ihres Sohnes Siegfried nicht überstehen, sodass dieser allein bei Mime heranwachsen müsste. Die Götter würden zwischenzeitlich durch einen simplen Trick den Zwerg Alberich um den Goldschatz erleichtern und damit die Riesen bezahlen, die die Götterburg Walhall errichtet hatten. Aus Furcht, den Schatz wieder zu verlieren, würde sich der Riese Fafner in einen fürchterlichen Drachen verwandeln und den Hort bewachen. Doch der herangewachsene furchtlose Siegfried, dem es gelingen würde, aus Nothung ein neues Schwert zu schmieden, wäre schon zur Stelle, um den Drachen zu töten und in seinem Blut zu baden. Ein Waldvögelchen würde ihm darauf raten, aus dem Schatz eine Tarnkappe und den berühmten, alle Macht der Welt verleihenden – aber auch verfluchten – Ring an sich zu nehmen und sich zum Walkürefelsen zu begeben, wo Siegfried auf die in einem Feuerschweif schlafende Brünhilde treffen würde.

      „Ein schöner Schmarrn, der dem Wagner da eingefallen ist“, stellte Behringer erneut fest. „Mal sehen, was der Castorf als Intendant draus macht.“

      Hätte Behringer das im Vorhinein gewusst, hätte er seine Eintrittskarten wahrscheinlich zerrissen. So war er nur ziemlich skeptisch, denn was er da im Netz über den Regisseur gelesen hatte, machte ihm nicht gerade Mut. Zum 700-Jahr-Nationaljubiläum der Schweiz hatte der ehemalige Intendant der Volksbühne Berlin „Wilhelm Tell“ inszeniert und dabei den Alpenstaat auf der Bühne mit der DDR gleichgesetzt. Einen Monat nach der Premiere der Ruhrfestspiele war er schon entlassen worden, weil die Besucherzahlen dramatisch eingebrochen waren.

      „Wenn jemand hauptsächlich postdramatisches Theater macht, kann das ja eigentlich nichts werden. Beim Wagner“, brummte Behringer.

      Dass Castorf sich bei der Inszenierung des „Siegfried“ selbst übertreffen würde, konnte der Hauptkommissar noch nicht ahnen.

      „Wer hätt etz dees denkt, dass wir zwaa auf unsre altn Tooch nomal zu die Wagnerfestspiele gänga?“, schwärmte seine Frau schon seit Tagen. „Dees hätt i fei net glabt, dass wir do nomal hiekumma.“

      Mit Gisela, die ihm eine Tochter und einen Sohn geschenkt hatte, war Benno Behringer sage und schreibe 37 Jahre verheiratet. Seit den frühen Morgenstunden war sie heute auf den Beinen, bügelte ihre festlichen Kleider auf und polierte Schuhe auf Hochglanz.

      BB selbst hatte sich den Tag freigenommen und sich mittlerweile ordentlich in Schale geworfen. Obwohl er keine Krawatten und Anzüge mochte, hatte Gisela auf einem dunkelblauen Blazer und einem weißen Hemd mit dunkelroter Krawatte bestanden. Selbst goldene Manschettenknöpfe hatte sie ihm heimlich gekauft.

      „Die wern etz aa ozugn“, meinte sie energisch, als er zu protestieren versuchte. „Da hast du scho was fier dein Abschied, wennsd in zwaa Joahr in Pension gehst. Die Jaggn und die Husn haltn di bis dorthin scho no aus. Derfst halt net no digger wern.“

      Da hatte Gisela einen wunden Punkt getroffen. Benno war nicht gerade ein Hüne, mit einem Meter 60 gerade mal zwei Zentimeter größer als sie. Wenn sie Schuhe mit Absätzen trug, überragte sie ihn sogar. Das konnte er gar nicht leiden. Und er hatte noch einen Schwachpunkt: Er liebte die deftige fränkische Küche. Braten jeglicher Art standen bei ihm ganz oben auf der Wunschliste, am liebsten mit einer sämigen, dicken Rahmsoße, dazu rohe Klöße, böhmische Knödel oder Mehlklöße. Saftige Rinderrouladen, gern im Riesenformat, waren auch nicht zu verachten. Salate dagegen, am besten noch mit einem leichten Joghurt-Dressing, waren nicht so sein Ding. Wenn schon Grünzeug, dann höchstens fränkischer Endivien- oder Feldsalat mit einer kräftigen Öl- und Essigwürze und einer gehörigen Portion geräuchertem, ausgelassenem Speck. Ansonsten ließ Benno unter der Bezeichnung „Salat“ auf seinem Teller nur den Kartoffelsalat zu – serviert mit fränkischen Bratwürsten oder einem gebackenen Karpfen. Höchstenfalls Spargelsalat kam für ihn noch infrage, garniert mit fünf dicken Scheiben Kochschinken, die in einer Buttersoße herausgebacken worden waren. Auch Baggers, die fränkischen Reibekuchen frisch aus der Pfanne, akzeptierte er als Beilage. Zum Beispiel zu einer dicken, fülligen Kartoffelsuppe. Grünkohl und alle damit verwandten Gerichte, die man vor allem im Norden Deutschlands schätzte, waren für BB ein Fremdwort. In der Bier-Erlebnis-Welt der örtlichen Brauerei Maisel kannte er sich ebenfalls bestens aus. Am liebsten trank er in seiner Freizeit die Maisel’s Weisse, gerade jetzt während der schönen Sommertage.

      Tja, sein fast immerwährender Appetit machte Benno nicht schlanker. In seinem Äußeren ähnelte BB einem abgebundenen Kartoffelsack, nur ein paar Kilo schwerer. Ihm fehlte lediglich die Schnur um den Hals. Zusammen mit seinem zuweilen leicht erregbaren Gemüt hatte ihm das im Kommissariat zwei weitere Spitznamen eingebracht: „Kugelblitz“ und „Rumpelstilzchen“. Denn sich wie ein Kugelblitz oder – weniger schmeichelhaft – ein zornigaufgeregter Zwerg zu benehmen, das konnte er hervorragend. Vor allem, wenn er sich ärgerte und nahe daran war, aus der Haut zu fahren, machten seine Mitarbeiter einen weiten Bogen um ihn herum. Das kam glücklicherweise nicht mehr allzu oft vor. Je älter und reifer Behringer geworden war, desto mehr hatten Ruhe und Besonnenheit sein aufbrausendes Temperament gezügelt. Als ausgesprochener Fan des 1. FC Nürnberg war Behringer außerdem einen gewissen Leidensdruck gewöhnt und konnte hin und wieder am Spielfeldrand Dampf ablassen. Die Fußballmannschaft war letztmalig 1968 deutscher Meister geworden, nur um im Folgejahr in die 2. Bundesliga abzusteigen. Auch die letzte Saison war der „Glubb“ nur im Mittelfeld der Abschlusstabelle herumgekrebst.

      Behringers Haupt hatte im Lauf der letzten Jahre eine Glatze erobert. Gisela nahm das zum Anlass für liebevolle Spötteleien, aber BB selbst fand sich damit eigentlich ganz schick. Er hatte den perfekt runden Hinterkopf für seine neue „Frisur“, passend zur restlichen Figur.

      „Gisela, wie schaut’s aus? Bist du fertig? Können wir fahren? Es wird langsam Zeit!“

      „Drängl doch net so!“, erhielt er aus dem Badezimmer zur Antwort. „Ich muss mi bloß no kämma.“

      „Diese Weiber“, schimpfte Benno, „kommen einfach nicht vom Spiegel weg. Lass dir doch auch eine Glatze rasieren, dann sparst du Zeit und Haarspray!“, riet er seiner Frau durch die halb offene Badezimmertür. „Die Parkplätze am Grünen Hügel sind immer so schnell belegt und ich hab keine Lust, da eine halbe Stunde rumzugurken, nur um unsre Karre abzustellen.“

      „Ich kumm ja scho, alte Nervnsäch.“

      *

      Heiko und Annalena kamen fast gleichzeitig mit den Behringers am Festspielhaus an. Alle vier drängten sich in die überfüllte Wandelhalle. Das Paar vom Niederrhein kannte sich mittlerweile bestens aus. Parkett rechts, 3. Reihe, Sitz 14 und 15. Ihre angestammten Plätze. Die großen und kleinen Foyers waren von Menschen übersät. Zeitweise herrschte ein kaum mehr zivilisiertes Gedränge, insbesondere an den Getränkeausgabestellen.

      Heiko hatte etwa eine Viertelstunde in einer der Schlangen gestanden und war seinem Ziel schon recht nahe, als ihm ein Malheur passierte: Von hinten schoben immer mehr Leute nach, vorne dauerte es Ewigkeiten. Unmutsrufe wurden laut, weil nichts wirklich voranging.

      In