kam Annalena wieder. Die bewundernden Blicke einiger umherstehender Herren begleiteten sie. Damen begutachteten sie weniger wohlwollend.
„Wir müssen zu Tür 1“, warf Heiko ihr mit zwanghaftem Lächeln entgegen. „Noch 15 Minuten. Lass uns schon reingehen.“
Sie folgte ihm wortlos auf dem Fuß.
Drinnen empfingen sie gleichmäßig ansteigende Sitzreihen. Etwa die Hälfte der Plätze waren bereits besetzt. Ein Raunen gedämpft quasselnder Menschen wälzte sich durch den Opernsaal. Diverse Instrumente meldeten sich aus dem rund 140 Quadratmeter großen abgedeckten Orchestergraben. Schwer hingen die roten Vorhänge vor der Bühne. Nirgends Plüsch und nur verhaltener Prunk mit wenigen Säulen und einer dezent geschmückten Decke. Zweckmäßigkeit herrschte vor. Die halbrunden Stuhlreihen füllten sich allmählich weiter.
„Entschuldigung!“ Heiko und Annalena zwangen bereits sitzende Besucher, sich von ihren Plätzen zu erheben, um sie passieren zu lassen.
Heiko ließ sich elegant auf seinen Sitz Nr. 15 gleiten und kam sich vor, als befände er sich in einem antiken Amphitheater. Annalena starrte regungslos auf die geschlossenen Vorhänge.
Nach schier quälend langen Minuten war es so weit: Der Saal hatte sich bis auf den letzten Platz gefüllt. Ausverkauft.
Im Orchestergraben stand Kirill Petrenko, der designierte Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Ihm wurde die diesjährige Ehre der musikalischen Inszenierung des „Rings“ zuteil. Alle Orchestermitglieder sahen konzentriert auf ihn und seinen graziös erhobenen Taktstock. Dann gab er das Zeichen zum Einsatz.
Präzise und temperamentvoll starteten die Musiker in ihre erste Szene. Plastische Energie belebte die Aufschwünge. Während Petrenko im Lauf des vierminütigen Vorspiels das Rauschen des Rheins intonierte, hielten sich auf der Bühne die drei Rheintöchter Woglinde, Floßhilde und Wellgunde für ihren Einsatz bereit. Sie bewachten den sagenhaften Goldschatz ihres Vaters im Rhein, der seinem Besitzer zu endloser Macht verhelfen sollte. Schon starteten sie ihre Gesänge mit leichtem Sopran. Klangreich und in der Höhe angespannt sprudelten ihre Stimmen in die Ohren des gespannten Publikums.
Der Zwerg Alberich vom Volk der Nibelungen erschien. Mit rauer, schallkräftiger Stimme erkämpfte er sich die Anerkennung des Auditoriums und entsagte der Liebe, nachdem er bei den Rheintöchtern rüde abgeblitzt war. Mit List und Heimtücke bemächtigte er sich des Schatzes.
Unterdessen hatten die Riesen Fasolt und Fafner die Götterburg Walhall fertiggestellt und warteten auf ihre Entlohnung. Wotan hatte ihnen die Göttin Freia, die das Geheimnis der ewigen Jugend hütete, zur Ehe versprochen. In empathischen Betonungen versuchte Wotan, die beiden Riesen davon zu überzeugen, dass es besser wäre, den Schatz im Rhein als Gegenleistung zu akzeptieren als auf Freia zu bestehen. Denn ohne Freia würden die Götter altern. Das durfte nicht geschehen. Zudem hatte auch Wotan ein Auge auf den Schatz geworfen und auf sein Herzstück, den Ring, der seinem Träger zur maßlosen Macht über die Welt verhilft.
Mit einer List wurde Alberich der Schatz entrissen und – zu Wotans Gram inklusive Ring – den beiden Riesen übergeben: Gierig erschlug Fafner seinen Bruder Fasolt und brachte den Ring an sich. Endlich konnten die Götter in Walhall einziehen. Drunten im Rhein beklagten die Rheintöchter immer noch den Verlust des gestohlenen Schatzes.
Heiko und Annalena waren regelrecht berauscht. Minutenlang spendeten sie dem Orchester und den Darstellern begeisterten Beifall.
Morgen würden sie wieder hier sitzen. Dann stand „Die Walküre“ auf dem Programm – wie „Rheingold“ auch in einer modernen Inszenierung von Frank Castorf. Ob der Stoff wieder mehr oder weniger elegant mit übertriebenen Bezügen zur heutigen Zeit und Gesellschaft aufbereitet werden würde? Wich der Regisseur da nicht zu sehr vom eigentlichen Gehalt des Werkes ab?
Nicht alle Besucher hatten sich mit dem modernen Kram anfreunden können. Es gab auch Buh-Rufe aus dem Publikum. Doch die vom Bühnenbild und -geschehen Enttäuschten konnten sich trösten: Zumindest die musikalische Leitung würde morgen wieder in den fähigen Händen von Kirill Petrenko liegen, den sie immer noch frenetisch beklatschten.
Siegfried
31. Juli
Das Drama um Siegmund, seine Zwillingsschwester Sieglinde und deren Mann Hunding in „Die Walküre“, war eine Steigerung zu „Rheingold“ gewesen. Annalena und Heiko hatten die Oper am Dienstag gesehen und ihre beidseitige Begeisterung hatte die tiefen Risse in ihrer Beziehung etwas in den Hintergrund treten lassen. Sie behandelten sich nun zumindest wieder mit einer Art distanzierter Höflichkeit.
Als Siegmund starb, weil Wotan dessen Schwert zerschlug und Hunding, Sieglindes Ehemann, ihn so besiegen konnte, hatte Annalena kurzfristig an die Rivalität zwischen Heiko und Manfred denken müssen. Aber konnte man überhaupt von Rivalität sprechen?
Es schien fast so, als würde Heiko sich gar nichts daraus machen, dass Manfred sie für sich zu gewinnen versuchte. Am Tag nach der „Walküre“ hatte er darauf bestanden, sich das fränkische Land anzusehen. Dabei hatten sie doch auch zuhause Natur genug. Sie hatte versucht, ihn im Hotel zu halten, hatte mit dem Wellnessbereich inklusive Sauna geworben und angedeutet, dass sie sicher nicht allein bleiben würde, wenn er ohne sie loszog. Er hatte ihr nur „viel Spaß“ gewünscht und war federnden Schrittes zur Tür hinausmarschiert.
Seit er von seinem ominösen Ausflug zurückgekommen war, hing er ständig an seinem Handy. Gestern Abend hatte Annalena ihn draußen im Biergarten überrascht, wie er gerade „Laila“ ins Telefon gesäuselt hatte.
„Rivalität, so ein Quatsch“, gestand sie sich ein. Im wirklichen Leben gab es keine Götter, Walküren, oder Könige namens Hunding, die um einen geheimnisvollen Schatz und die Liebe einer Frau stritten. Die verfahrene Beziehungssituation bedurfte einer Klärung.
Annalena nahm sich vor, Heiko zur Rede zu stellen. Heute Abend wurde „Siegfried“ gegeben, da konnte er ihr nicht mehr aus dem Weg gehen. In den langen Pausen würden sie genug Zeit haben, um über die unschöne Angelegenheit zu sprechen.
*
Auch ein anderer Festspielbesucher, ein eingefleischter Bayreuther, bereitete sich gemeinsam mit seiner Frau Gisela auf den „Siegfried“-Besuch vor. Natürlich kannte er den Grünen Hügel und das Festspielhaus. Er war auch schon drinnen gewesen – im Rahmen einer Führung. Allerdings noch nie zur Festspielzeit. Die hohen Eintrittspreise waren ihm die Sache nicht wert gewesen. Und selbst wenn, man musste erst einmal an Eintrittskarten kommen. Dass er nun im Besitz von zwei solcher Billetts für den „Siegfried“ war, hatte er seinem obersten Chef, dem Polizeipräsidenten von Oberfranken, zu verdanken: Hauptkommissar Benno Behringer hatte am 1. Juli sein 40-jähriges Dienstjubiläum gefeiert. Noch zwei Jahre, dann ging es in den wohlverdienten Ruhestand.
Seine Kollegen und Kolleginnen vom Kommissariat hatten zusammengelegt und der Polizeipräsident hatte seine Beziehungen spielen lassen, um an die Wagner-Karten zu kommen. Den Rest des Geldes, der noch fehlte, hatte er außerdem draufgelegt. So kam es, dass „BB“, wie sie ihn alle nannten, heute knapp vier Stunden Wagner genießen durfte.
Behringer war beileibe kein Wagnerfan. Ein Opernfreund schon gar nicht. Viel mehr interessierte ihn das mittelhochdeutsche Nibelungenlied, die alte, im germanischen und skandinavischen Raum weitverbreitete Heldensage. Schon zu Schulzeiten hatte sich BB für dieses Epos begeistert, worin es – historisch gesehen – um die Zerschlagung des burgundischen Machtbereichs durch den weströmischen Heerführer Flavius Aetius unter Mithilfe hunnischer Hilfstruppen ging. Richard Wagner hatte auf dem Stoff sein Hauptwerk „Der Ring des Nibelungen“ aufgebaut, von 1848 bis 1874 schrieb er die Texte und komponierte vor allem die Musik. Allerdings hatte er in seinem vierteiligen Opernzyklus viele Charaktere und Motive abgeändert. Behringer interessierte sich hauptsächlich dafür, an welchen Stellen Wagner seiner Fantasie freien Lauf gelassen und vom Original abgewichen war. Was der berühmte Mann wohl aus seinem Nibelungenlied gemacht hatte?
Nein, Opern an sich lagen dem Hauptkommissar nicht.