rinnt! Dieses Gestrampel auf dem blöden Rad! In meinem Hosenbund wird es nass! Alles wird nass …
Den ersten Stopp machen wir dann in der Kleinen Kreisstadt, sieben Kilometer von Brummelbach gelegen, und versammeln uns dort an einem der öffentlichen Mineralbrunnen, die wir in unserer Gegend haben. Der Schwabe nennt diese Trinkbrunnen Sauerwasserbrunnen. Hierbei handelt es sich um Brunnenanlagen, aus denen natürliches Mineralwasser aus dem Karstgestein der Schwäbischen Alb gepumpt wird. Dieses Wasser ist sehr bekömmlich, je nach enthaltenen Mineralien mehr oder weniger schmackhaft – und umsonst! Ein jeder kann zu diesen Brunnen kommen, dort seinen Durst stillen und sogar seine Flaschen abfüllen. Diese Brunnen sind sehr begehrt. Auch bei uns beiden. Vor allem im Sommer. Wenn wir auf Tour gehen, nehmen wir stets eine kleine, leere Trinkflasche mit auf den Weg, die dann an diesem Brunnen gefüllt wird. Und dann entstehen jene eben beschriebenen Trinkszenen.
„Drink’! Du solls’ drink’n!“
Ich kann nicht. Kann einfach nicht. Ich bin halb hinüber vor lauter Sommer, kann mich kaum mehr auf den Beinen halten, und soll trinken. Und dann wieder radeln … Das ist entsetzlich …
Dann folgt die Trennung. Er fährt links weg, ich fahre rechts weg. Ein Treffpunkt wird ausgemacht zu einer bestimmten Uhrzeit. Doch diesen Treffpunkt erreiche ich nie. Denn es ist Sommer. Die Sonne drückt. Die Hitze wabert. Meine Birne ist krebsrot. Die Knie butterweich. Ich radle nun nicht mehr, ich schiebe. Lediglich, wenn es abwärts geht, steige ich noch auf, um wackelig und durchgeschmort noch ein paar Meterchen zu bewältigen. Ansonsten drücke ich mich zu Fuß an Schatten spendenden Häuserzeilen entlang, dem ungefähren Treffpunkt entgegen, doch meine Kräfte sind erlahmt. Vielleicht finde ich hier und da noch ein Pfandfläschchen oder Döschen, doch schon allein die Vorstellung, mit einer zusätzlichen Pfanddose belastet zu werden, nimmt mir auch den letzten Elan, mich nur danach zu bücken! Irgendwann dann klingelt das Handy, und mein Herr und Meister verlangt in barschem Ton meinen momentanen Standort zu wissen. Dann öffnen sich alle meine Schleusen, und ich heule in gut durchgegartem Zustand meine derzeitige Befindlichkeit ins Telefon. Dann kommt der schon legendäre Satz: „Na, denn drehste halt schon ma’ um. Ick hol’ dia denn ein.“
Und ich schiebe zurück. Richtung Brummelbach. Raus aus der Schatten spendenden Stadt. Hinein ins freie Gelände. Kein Haus mehr. Kein Schatten. Nur noch die Felder, die Straße, der Radweg, die brüllende Sonne über mir und die heiße Luft um mich herum. Ab nun geht es die ganze Strecke wieder leicht bergauf. Und ich weine und weine und weine …
Irgendwann dann holt er mich ein, voll bepackt mit prallen Tüten und Beuteln. Meist überredet er mich, noch einmal aufzusitzen, damit er mich schieben kann. Der Mann hat Kraft für zwei, der könnte mich glatt bis Brummelbach durchschieben. Doch zu diesem Zeitpunkt bin ich schon derart geschwächt, dass es mir nicht mehr gelingen will, den Lenker in der Spur zu halten. Außerdemgeht es mir so elend, dass mir bei der rasanten Schieberei übel wird. Somit bleibt ihm nichts anderes, als mich zurück zu lassen. Mich einem schattigen Baum anheim zu stellen, mir die inzwischen gut gewärmte Wasserflasche in die Hand zu drücken und mir einzuschärfen, die nächste halbe Stunde an Ort und Stelle auszuharren, bis er mit dem Auto zurückkäme, um mich einzusammeln. Und wieder einmal radelt er von dannen, hinaus in den gleißenden Sonnenschein, mein eigenes Rad neben sich herschiebend … während ich unter meinem mir zugewiesenen Apfelbaum liege, zusammengerollt wie ein Embryo, und mein nahendes Ableben erwarte. Dieser Baum kennt mich schon. Im Laufe der letzten acht Jahre habe ich unter seiner Krone eine tiefe Kuhle ins Gras hineingelegen; das Gras dort wächst besonders salzhaltig, getränkt von meinen vielen, vielen Tränen …
So. Soviel zu unseren Sommertouren auf dem Rad. Im Winter hingegen radle ich nicht. Im Winter ist das bei meinem gesteigerten Unfallrisiko dann doch zu waghalsig, das sieht auch mein Herr Dicker ein. Ganz zu Anfang habe ich das versucht, doch die Rutscherei über Eisplatten und die Schweinerei durch hochspritzenden Schneematsch, das ist nun doch zu viel des Guten. Aus einem solchen Abenteuer mit Dreck verkrusteten Klamotten wieder herauszustolpern, das ist alles andere als produktiv. Für den Winter bin ich zwar gut gerüstet, was Bekleidung anbelangt, doch das muss auf dem Rad nicht sein. Im Winter drehen wir ausgleichshalber unsere Runden zu Fuß, das ist auch gesund, und ab und zu kann man auch auf diese Weise Pfandgut finden. Aber ansonsten muss ich radeln. Im Frühling. Im Herbst. Und halt – im Sommer. Ab und zu. Und der Sommer, der ist halt so meine Schwachstelle …
Was auch mächtigen Spaß macht, das nur noch kurz zum Schluss: Radfahren bei Regen! Ich spreche nicht von einem zarten Nieselregen und einem gemütlichen, behäbigen Tröpfeln. Obwohl das auch schon recht widerlich werden kann. Nein! Ich rede von sintflutartigen Sturzbächen! Von Schleusen, die am Himmelstor geöffnet werden und garantiert die nächsten drei Stunden auch offen bleiben! DAS macht Laune, Leute! DAS hat was!
Da stellt man sich anfangs, sofern einem Glück und Möglichkeit hierzu noch gegeben sind, irgendwo unter, in der Hoffnung, das Dilemma möge von kurzer Dauer sein. Doch wenn sich herausstellt, dass die Sturmflut offenbar bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag anhalten wird, dann MUSS man weiter! Dann muss man radeln, was das Zeug hält, schon allein, um nachhaltigen Gesundheitsschäden vorzubeugen! In solche Unwetter bin ich schon ein paar Mal reingekommen. Und in der Regel brechen die nicht über einen herein, wenn man schon kurz vor der Haustür ist, nein, die legen garantiert dann los, wenn man sich am weitesten von zu Hause weg befindet! Da geht’s dann los! Und dann heißt es: radeln! In die Pedale treten! Wie die Bekloppten! Denn ein solcher Sturzbach kühlt aus! In Null Komma Nix ist man durch bis auf die Knochen, da kann der Tag zuvor noch so warm gewesen sein! Hat man eine dabei, zieht man eine Jacke drüber, aber die ist ebenso flott klatschnass wie alles andere auch! Die Brille, sofern man Brillenträger ist wie ich, kann man getrost abnehmen, denn ein jeder Brillenträger kann aus eigener Erfahrung ein Lied davon singen, dass die Erfindung einer Sehhilfe mit Scheibenwischern noch in ferner Zukunft liegt! Und dann hängst du in den Sielen wie ein Irrer, halb blind ohne Brille, der Regen klatscht dir in die zusammengekniffenen Augen, rinnt dir aus den pudelnassen Haaren übers Gesicht und in den Nacken und das Kreuz drüber runter, und dir wird klamm und immer kalt und kälter; aus deiner sich blähenden Fleece-Jacke sprüht ein Gischtschleier hinter dir her, von den surrenden Rädern unter dir sprüht sie dir nach oben gegen das Kinn! Dann fängst du an, die Jackenärmel über deine blau gefrorenen Hände und Finger zu ziehen, aber das hilft auch nichts, denn auch die Ärmel sind klatschnass und eiskalt, und der Regenguss drückt durch den Fahrtwind in die Nasenlöcher und durch die gefletschten Zähne; du atmest nicht mehr Luft, du atmest Wasser und schnaubst es wie ein alter Ackergaul laufend aus den Atemwegen, und dieser Sabber wird, ebenfalls durch den Fahrtwind, gleichmäßig kreuz und quer über deine ehedem noch sorgfältig geschminkte Visage verteilt, und das fühlt sich an wie Glibberzeug, obwohl es doch auch nur Wasser ist, und das ist ekelhaft, einfach widerwärtig! Und dann die Autos, die an dir vorbei jagen und dich mit ihren hochgischtenden Fontänen noch zusätzlich einweichen, im günstigsten Fall noch hämisch hupen angesichts des quietschnassen Putzlappens, der da auf seiner Mühle hockt, und du möchtest schreien vor Wut, willst dich in den Straßengraben werfen, um dort zu erfrieren und ertrinken, aber du musst weiter, immer weiter, denn Rettung gibt’s nur da, wo es warm und trocken ist, und du strampelst und strampelst und strampelst und verfluchst den Tag, an dem du dieses blöde Arschloch kennen und lieben gelernt hast und das dich jeden Sonntag aufs Fahrrad scheucht – …
Ich radle noch immer. Ich radle, ja. Für meine Figur, an der sich trotz achtjährigem, sonntäglichen Martyriums nichts Nennenswertes geändert hat. Aber auch nichts verschlechtert. Vielleicht ist das ja gut so. Ich radle für meinen Liebsten und seine heiligen Sammelbeutel, deren Befüllung im Laufe der Jahre immer beschwerlicher geworden ist, da viele, viele andere nun auch mit Sammelbeuteln radeln. Ich radle. Das Christkind hat mir vor vier Jahren ein neues Fahrrad geschenkt, mit sieben Gängen. Aber ich fahre nach wie vor nur die ersten drei Gänge, wie bei meinem alten Rad auch, denn das reicht an Geschwindigkeitsrausch völlig. Ich muss noch immer ein bisschen aufpassen bei unseren Touren. Noch immer sitzt mir die Angst nach unserem berühmten ersten Mal im Nacken. Die werde ich wohl auch nie mehr ganz loskriegen. Vielleicht ist ja auch das gut so. Ich denke mal, ich bin nun ein ziemlich guter und sicherer Radler geworden, kann mir einiges zutrauen, längere Strecken bewältigen, solange es nicht zu sehr bergauf geht. Und auch mal eine Strecke für mich allein suchen. Solange ich nur immer schön