Sonntag zur Mittagessenzeit. Niemand befand sich auf der Straße, den ich mal hätte fragen können.
Der Dicke, die Situation nun von allen Seiten beleuchtend, grunzte schließlich: „Wie bist’n weita jemacht, wie ick wech wa’?“
„Immer geradeaus“, wisperte ich, den Tränen schon wieder nahe.
„Midd’m Rad, oda zu Fuß?“
„Bin abgestiegen. Weil ich sonst umfalle, du weißt ja …“
„Jaja, schon jut! Ick gloob, ick weeß, wo de bis’. Rüa dia nich’ vonne Stelle, bin gleich da. Viatelstunne.“
„Ja, aber –“, wollte ich noch einwerfen, doch er raunzte: „Wenn ick inne Stunne noch nich’ da bin, denn ruf de 110! Höast de?! Die soll’n dia uffles’n un’ heem faah’n!“
„Und wie erkläre ich der Polizei, wo ich abzuholen bin, wenn ich es selber nicht weiß?“, wandte ich noch ein, ließ mich mit übelsten Verwünschungen in den Boden rammen, mir nochmals einbläuen, zu bleiben, wo ich war, und dann hockte ich mich neben meinem Rad an den Straßenrand. Autos fuhren kaum welche an mir vorbei. Ich richtete mich auf eine längere Wartezeit ein. Vielleicht würde ich sogar hier schlafen müssen …
Nach der versprochenen Viertelstunde tauchte mein Freund auf. Sagen tat er nichts mehr. Wir kamen lediglich überein, dass die Sache mit dem Handy auch nicht viel bewirkte.
In der folgenden Zeit musste ich immer vor ihm her radeln. Und erst durch diese Taktik festigte sich allmählich meine Sicherheit. Denn nun lag es an mir, den Weg vorher zu bestimmen. Ich hatte sowohl auf die Richtung zu achten als auch auf das, was vor mir auf der Straße Hindernis darstellen konnte. Außerdem gewöhnte ich mir an, stets mit meinem ADAC-Straßenatlas auf dem Gepäckträger zu radeln. Das sah zwar eigenartig aus, vermittelte mir dennoch ein zusätzliches Sicherheitsgefühl. Ab und an fiel ich noch um mit meinem Radel-rutsch, und der Dicke fuhr in mich hinein, was mit der üblichen Schlägerei unter uns endete, aber ich erlangte nach und nach Sattelfestigkeit.
Dies erkannte mein Süßer irgendwann und befand, es sei an der Zeit, mich einer Neuerung im Procedere unserer Ausfahrten zuzuführen. Denn das, was er bislang allein bewältigt hatte und auch während meines Mitradelns ohne Unterlass betrieben hatte, sollte ab nun auch in mein Tätigkeitsfeld einfließen. Er setzte mich aufs Rad und hängte mir einen Sammelbeutel um den Hals. Und dann weihte er mich in die Kunst des Flaschensammelns ein …
Ich wehrte mich! Ich weigerte mich! Ich verteidigte mich bis aufs Blut! Man stelle sich das nur vor: Ich, propere Bürodame unter der Woche, Bankangestellte mit gutem Arbeitsplatz und noch besserem Einkommen! Biedere Angestellte, die jeden Tag aufs Neue penibel auf ihr Äußeres bedacht ist und stets besorgt, ein gutes Bild abzugeben! Ich, die sich nichts nachsagen lassen will und möglichst nie, NIEMALS negativ aufzufallen gedenkt! Ich, die Dame mit den feinen, gepflegten Händen, dem ansprechenden Äußeren und dem unbescholtenen Leumund – …
Ich – sollte – FLASCHEN SAMMELN???
Im Dreck wühlen?
Er zeigte mir, wie es geht. Er machte mir klar, wie sehr ich ihm mit jeder gefundenen Flasche helfen könne. Meinte, dass doch nichts dabei sei. Dass viele, viele das auch machten. Dass ich doch Handschuhe überstreifen könne. Und dass das doch nur für drei Stunden in der Woche sei …
Ich sagte nein! Er sagte bitte. Ich sagte nein! Er sagte bittebitte … Ich sagte nein! Er setzte seinen traurigsten Welpenblick auf und seufzte: „Ach, Kleenä … Wo de doch jetz’ schon so scheen faah’n kanns’. Muss ma’ doch ausnutz’n. Un’ wenn de mia bloß ‘n janz kleened Büsch’n lieb has’ …“
Somit begann die propere Bürodame, sich sonntags zu tarnen. Ich machte mich nicht mehr zurecht. Ich schminkte mich nicht mehr, frisierte mich nicht mehr, zog mir eine ausgeleierte Schiebermütze aufs ungekämmte Haupt, schälte mich in Klamotten, die absolut nichts mit denen einer biederen, properen Bürotante gemein hatten, und hängte mir einen falschen Bart um. Und dann ging ich radeln. Und Pfandgut sammeln. Zusammen mit dem Dicken …
Ich gebe zu, anfangs war es mir ein Graus, mit spitzen Fingern in den Graben zu angeln und nach einem verdreckten Fläschchen oder Döschen zu langen. Trotz der Einweghandschuhe, die ich ab sofort trug. Doch mit der Zeit verließ mich dieser Abscheu. Mit der Zeit beschlich mich eine gewisse Befriedigung, je voller mein Sammelsack wurde. Je praller. Wahrer Stolz nahm von mir Besitz, wenn wir nach unseren Touren die Beute in Brummelbach in Augenschein nahmen! Und wenn ich mehr gefunden hatte, als er, dann stakste ich mit geschwellter Brust einher!
All das weckte mein Konkurrenzdenken! Nach ein paar Wochen nahm ich mir die Verwegenheit heraus, nicht nur mit einem Sammelbeutel loszuziehen, sondern zwei mitzunehmen! Dann drei! Es wurde zu einem Rausch! Glasflaschen zu 15 Cent! Plastikflaschen zu 25! Pfanddosen zu 25! Das Geld lag auf der Straße!
Mit der Zeit entwickelte ich einen Blick für das Zeug, das in der Gegend herumlag. Manches steuerte ich schon gar nicht mehr an, weil bereits aus der Ferne für mich ersichtlich wurde, ob sich ein Stop lohnte oder nicht. Ich wurde zum Experten! Schon von weitem erspähte ich, um welche Sorte von Müll es sich handelte, der da in den Dreck geschleudert worden war!
Und dann konnte ich nicht mehr genug kriegen! Ich fand und fand und fand; das Zeug baumelte an beiden Lenkern, türmte sich auf dem Gepäckträger, und das war GELD, Leute! Das war bares Geld!
Die Jagd war eröffnet …
Nur radelten wir beiden eben nicht allein. Da waren andere Radler unterwegs. Ebenfalls bewaffnet mit Beuteln und Tüten und sogar richtigen Drahtkörben hinten auf dem Gepäckträger! So einen Korb wollte ich auch! So einen Korb musste ich haben! Somit wurde ich zum Dieb! In einer Nacht- und Nebelaktion klaute ich mir eines Tages in der Großen Kreisstadt am Bahnhof bei den Fahrradständern einen Korb. Ich schraubte ihn einfach herunter, als ich mich unbeobachtet wähnte, und befestigte ihn hinten auf meinem eigenen Rad. Nun hatte ich also einen Drahtkorb, in den ich außer meinem Straßenatlas noch einen dritten und sogar vierten Beutel verstauen konnte! Denn Hochkonjunktur für Flaschensammler zeichnete sich am Horizont ab! Manchmal mit zwei – drei Beuteln bepackt, kehrte ich immer wieder sonntags nach Brummelbach zurück, pickepackevoll mit Geld, das nur noch umgesetzt zu werden brauchte!
Doch, wie gesagt, wir waren nicht allein. Viele andere Radler mit Beuteln wollten ebenfalls pickepackevoll heim kommen.
Und so begann mit dieser fieberhaften Sammelwut auch die bittere Verteidigung der Jagdbeute …
Wie oft geschah es, dass ich nach Sichtung eines Pfandfläschleins vom Rad stieg, mich danach bückte, und im selben Moment kreischten neben mir fremde Radbremsen, eine fremde, behaarte Männerhand angelte, OHNE abzusteigen, ebenfalls nach der Trophäe, griff zu, schnappte sie mir vor der Nase weg, noch ehe ich zupacken konnte! Dann radelte der Rivale hämisch lachend auf und davon, ich blieb flaschenlos zurück, schüttelte die leere Faust und brüllte dem Eierdieb lauthals, entrüstet und zornig meinen Besitzanspruch hinterher! Oder wir griffen gleichzeitig zu! Dann ging ein Ziehen und Zerren um 25 Cent vonstatten, das nicht selten in Handgreiflichkeiten ausartete. Oft kam ich montags zur Arbeit mit einem schillernden Veilchen unterm Auge, das sich nicht so ohne weiteres überschminken ließ. Wenn ich von den Kollegen nach der Ursache dieses Males gefragt wurde, erklärte ich würdevoll, vom Wickeltisch gefallen zu sein. Mein Gott, was bin ich vom Wickeltisch gefallen in dieser Zeit! Doch die Jagdleidenschaft hatte mich gepackt, ebenso die Kampfeslust um meine Beute! In diesen drei Stunden eines jeden Sonntages wurde aus der feinen Bürotante eine zähnefletschende, zu allen Schandtaten bereite Hyäne, die ihr Sammelgut zu verteidigen bereit war bis auf die Knochen! Ich schlich in die hintersten Winkel. Ich kroch in die dunkelsten Löcher. Ich kam mit Schmutz in Kontakt, beschmierte mich, saute mich ein, zerriss mir die Klamotten, flog ab und zu in den Dreck, schürfte mir die Haut auf, verdrehte mir die Gräten! Und immer wieder leistete ich mir die reinsten Prügeleien mit Kontrahenten, die ebenfalls nichts anderes im Sinne hatten als ich!
Eines Tages dann flog ich trotz meiner Tarnung auf.
„Gestern habe ich dich gesehen“, vertraute eine meiner Kolleginnen, die ebenfalls in Brummelbach wohnt,