Brummelbach war nicht schwer zu finden. Es lag 15 Kilometer von meiner eigenen Heimat entfernt, und es präsentierte sich mir als erschreckend hinterwäldlerisches Kuhkaff. Allerdings sehr idyllisch gelegen, schmiegte es sich an den Fuß unseres Hausberges und wies stolz ein voll erschlossenes, großes Zuzugsgebiet aus. Brummelbach war ganz offensichtlich im Wachsen begriffen. Auf der Suche nach dem Ebereschenweg musste ich zweimal fragen. Dann stand ich auf dem Parkplatz einer wohlwollenden Wohnsiedlung mit vier Mehrfamilienhäusern, mitten im Grünen gelegen. Und vor der Nummer 13 erwartete mich strahlend der Herr Glaubert im traditionellen Jogging-Outfit, flankiert von zwei Rädern, das eine das ältere Exemplar, mit dem er mich seit Wochen immer Dienstags umzingelte, das andere tatsächlich funkelnagelneu.
„Det is’ deins“, begrüßte er mich, als ich aus dem Auto stieg und mich vorsichtig näherte. Ab sofort also waren wir per Du, was mir nicht so recht passte, was sich aber bis zum heutigen Tage nicht mehr geändert hat. Mit einer Handbewegung lud er mich ein, auf seiner Neuerrungenschaft Platz zu nehmen. Ich weiß noch, es war der 13. November 2005, ein strahlend schöner Spätherbsttag, sehr mild für den November. Es war der letzte schöne Tag, ehe eine längere Regenperiode einsetzte, die dann in den ersten Wintereinbruch hineinführen sollte. Es war der letzte schöne Tag in meinem Leben. Ab dem 14. November dann sollte die Ruhe in meinem Dasein endgültig Auszug gehalten haben.
Voller Respekt näherte ich mich dem wunderschönen neuen Drahtesel und ließ mir stolz erklären, er verfüge über 27 Gänge. Damit fing ich erst einmal nicht viel an. Meine alte Tretmühle in Piepshausen hatte eine Dreigang-Schaltung, und vor allem – es war ein Damenrad. Hier jedoch stand ich vor einem Herrenrad! Einem Herrenrad mit Querstange! Ausgesucht von einem Herren mit einer Körpergröße von 1,84 Meter. Ich bin eins siebzig. Aber – versuchen konnte man es ja mal.
Entschlossen schwang ich ein Bein über Querstange und Sattel, blieb mit dem Fuß am Sattel hängen, zog und zerrte, klammerte mich am Lenker fest, dadurch folgte der andere Fuß, noch am Boden stehend, nach, dann begann der ganze Mist zu kippen, und dann lag ich erst mal, vom Fahrrad begraben, vor dem Haus auf dem Asphalt. Der Herr Glaubert eilte hinzu, entwirrte mich und Rad, stellte uns beide wieder in die Senkrechte und machte sich daran, Sattel und Lenker tiefer zu stellen. Das passte von der Höhe dann schon mal besser, doch war noch immer die Querstange im Weg, über die ich meine alten Gräten nicht so richtig drüber weg bekommen wollte. Ich schäme mich, es zu gestehen, aber ich ließ mir helfen. Erst zog der Herr Glaubert mich in sitzgerechte Position, dann hielt er den Lenker fest, bis ich mich eingesessen hatte. Nur reichten meine Füße nicht mehr bis zum Boden. Lediglich die Fußspitzen tippten noch hinab, was meinem Bedürfnis nach Sicherheit nicht unbedingt entgegen kam. Doch er meinte, das reiche vollkommen aus und wies mich an, eine gar wackelige Runde über den Hof zu drehen. Er rannte neben mir her, mich und Rad am Sattel haltend und Anweisungen brüllend. Ganz wie mein Papa, als ich mit fünf Jahren mein erstes Klapprad bekommen hatte. Nun, an der Situation konnte ich nichts ändern. Ich musste üben, wenn ich dieses mir ganz ungewohnte Gefährt beherrschen wollte. Doch hätte ich es liebend gern im Dunkeln getan, statt am helllichten Tage, zumal wir schon bald, ausgelöst durch des Glauberts Geplärre und mein entsetztes Quieken, eine erkleckliche Menge an Publikum bekamen. Nach zwei Minuten füllten sich allerhand Balkone mit den entsprechenden Bewohnern, die wiehernd und gackernd meinen Fahrversuchen beiwohnten. Das muss schon drollig ausgesehen haben: Eine knapp Mittvierzigerin mit viel zu kurzen Beinen auf einem viel zu großen Herrenrad, sich zitternd im Kreise drehend, mühsam um Balance ringend und mit blutrotem Kopf. An ihrer grünen Seite ein knapp Endvierziger, der lauthals Anweisungen brüllte, die ganze Nachbarschaft närrisch machte und vermutlich ebenso zitterte wie ich auch, bis er meine Sicherheit im Sattel für gewährleistet erachtete. Er wies mich an zu bremsen, doch Bremse fand ich keine, der Rücktritt ging ins Leere. Damit erhielt ich noch eine Lektion über die Tücken eines modernen Herrenrades, die besagte, dass ich hier eine so genannte Rücktrittbremse, wie noch bei meinem alten Drahtesel montiert, vergeblich suchte. Die hier zu betätigenden Bremsen fand ich am Lenker. Also noch einmal zwei Runden um den Hof und Bremsen üben.
Als auch diese Ungewöhnlichkeit Einzug in mein Begreifen gehalten hatte, befand der Herr Glaubert der Lektionen genug und erklärte meine Bereitschaft zur angedachten Fahrradtour für gegeben. Unter dem Applaus der Balkon-Gucker brachen wir auf, der Herr Glaubert auf seinem alten Rad ganz langsam vorneweg im kleinsten Gang, ich auf dem nagelneuen zittrig, ebenfalls ganz langsam und im kleinsten Gang, wie volltrunken schwankend, hinterher. Er mit halbem Auge stets nach hinten auf mich achtend und weiterhin Verhaltensmaßregeln schreiend, ich, schlotternd folgend, krampfhaft an den Lenker geklammert und leise in mich hinein wimmernd. So durchquerten wir im Schleichgang das kleine Dörfchen Brummelbach von einem Ende zum anderen, ich übte Fahren, ich übte Bremsen, und ein jedes Mal, wenn ich mich genötigt sah, anzuhalten, fiel ich um. Denn meine Füße reichten noch immer nicht ganz nach unten …
Irgendwie erreichten wir dann die Steilstraße hinauf zu unserem kreisstädtischen Hausberg, ein erhabenes Krönchen unseres Landkreises, etwas mehr als 600 Meter hoch, einst überdacht von einer stolzen, nun verfallenen Trutzburg des legendären Kaisers Barbarossa, heute wegen der grandiosen Aussicht beliebtes Ausflugsziel wanderfreudiger Rucksackschwaben. Dort hinauf zog es den Herrn Glaubert, dort hinauf zu Fuß, das Rad gemütlich schiebend, um es dann auf der anderen Seite wieder hinab gemütlich rollen zu lassen bis hinein in die Große Kreisstadt. Eine schöne Anfangstour, so befand er, sehr angenehm und keineswegs anstrengend, nahezu ideal für eine Dame, die noch nie auf einem Herrenrad gesessen hatte. So, wie gesagt, war der Plan.
Wir erklommen den Hausberg, gemächlich die Räder schiebend; das Wetter zeigte sich nach wie vor von seiner besten Seite. Nicht lange dauerte es, und wir badeten in Schweiß ob der doch recht anstrengenden Erklimmung. Aber es lockte die Belohnung einer wundervollen Schussfahrt, und während dieses Anstieges quasselte und plapperte meine neue Bekanntschaft vom Hundertsten ins Tausendste, und ich brütete währenddessen eine Strategie aus, wie ich mich dieses schnurrenden Quälgeistes künftig wieder entledigen könnte.
Dann war es geschafft! Wir fanden uns wieder auf der Spitze unseres Hausberges, genossen die spektakuläre Aussicht quer über den gesamten Landkreis hinweg und hinein schon in den nächsten, und der Herr Glaubert laberte und laberte, bis er es an der Zeit fand, uns unsere Belohnung abzuholen: die große Schussfahrt!
Er half mir wieder auf das Monstrum von Rad, schärfte mir ein, immer schön hinter ihm zu bleiben (fragte sich nur, wo ich auch sonst hin sollte), und dann ließen wir es rollen! Das war herrlich, Leute! Zuerst ging es sanft bergab, uns blies die laue Spätherbstluft um die Ohren. Teils führte uns der Weg durch waldgesäumtes Gelände, teils öffneten sich die Wälder und gaben den berauschenden Blick frei hinunter in die Täler, die lieblich und weit auslaufend unter uns lagen wie Perlen absoluten Friedens! Zwar wurden wir ab und zu von einem Auto überholt, aber das hielt sich in Grenzen, zumal das traumhafte Wetter die Schwaben zu Fuß ins Gelände trieb. Mit der Zeit rollten wir etwas rascher dahin, der Herr Glaubert mit der Nase nach wie vor hälftig über die Schulter auf mich gerichtet, wachsam und aufmerksam, und er erzählte und plapperte. Das Tempo nahm zu. Im Nachhinein stelle ich rückblickend fest, dass wir uns auf einem Gefälle von etwa 9 Prozent befanden, schnell und schneller wurden. Der Rausch der Geschwindigkeit packte mich alsbald, ich dachte: Ja! Ich kann es! Ich kann es noch!, und dann streifte mich von vorne zwischen all diesen Wortschwallen noch die laut gerufene Mahnung: „Un’ imma scheen mit dea Bremse spiel’n, höast de?“
Ich sah zu ihm, eben noch den Blick zu Tal gerichtet. Er wiederholte nochmals: „Imma scheen mit dea Bremse spiel’n!“ Dabei deutete er auf seine eigenen Bremsgriffe. Angesichts dieser Mahnung, dass es tatsächlich mal an der Zeit sei, mit der Bremse zu spielen, dachte ich noch: Au ja! Bremsen! Und somit griff ich beherzt und mutig in meine eigenen Bremsgriffe. Zog kräftig an.
Das Rad blieb abrupt stehen. Ein Hochleistungsrad mit seinen nagelneuen Bremsen. Blieb stehen.
Ich nicht …
Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft …
Was konkret geschah, kann ich nicht mehr so genau schildern. Ich spürte unter mir noch einen heftigen Ruck, dann schoss ich irgendwie nach oben, ich dachte: Ich kann fliegen!, und dann nichts mehr. Die passionierten