auf Schmerzensgeld, weil er mit den Fotos – angeblich, wie sie meinten – ihre Würde als Frauen verletzt habe. Der Richter gab ihnen recht. Das Haus, das Barvermögen, das Aktienpaket, wurden von den Scheidungsfolgen, den Unterhaltskosten für Frau und Kinder, den Geldstrafen, welche das Gericht verhängt hatte, ratzfatz aufgefressen. Nun war er zweiundvierzig Jahre alt, schien aber in den beiden letzten Jahren um mindestens zehn Jahre gealtert zu sein. Sein Haar war fransig und ungepflegt. Er verströmte einen eigenartigen, unangenehmen Körpergeruch, den er selbst schon gar nicht mehr wahrnahm. Es wäre ihm auch egal gewesen. Mit den anderen Obdachlosen in Erlangen konnte er es nicht. Sie waren ihm zu primitiv. Nicht sein Niveau. Mit denen konnte man nur übers Saufen reden, nicht über Politik, Sport oder wirtschaftliche Themen. Das war es, was ihm am meisten fehlte, eine gepflegte Kommunikation, die Teilnahme am aktuellen Geschehen dieser Welt. Geld für Zeitungen hatte er zwischenzeitlich aber auch nicht mehr. Mit der Zeit ging ihm die Stadt auf den Sack. Er verzog sich aufs Land. Hier waren die Menschen freundlicher, großzügiger und verständnisvoller gegenüber einem Obdachlosen. Ihre Scheunen boten oftmals Platz für die eine oder andere Übernachtung. Vor allem während der kalten Jahreszeit. Die Fallobstwiesen, Erdbeerfelder, Kirschbäume, Schrebergärten und Bierkeller boten ausreichende Angebote für Essbares – man musste sie nur zu nutzen wissen. So zog Ulrich Fürmann durch den ganzen Landkreis. Als er, von Neuhaus kommend, vor sich Röttenbach im Tal der sanften Hügel liegen sah, glaubte er, ein neues Schlaraffenland entdeckt zu haben. Er war sensibilisiert und hatte den rechten Blick für die Obst- und Schrebergärten und sonstigen natürlichen Nahrungsquellen. Es gefiel ihm, was er sah. Auch die kleine Gartenlaube auf dem Grundstück hinter der Jahnstraße, gleich an den winzigen Bachlauf angrenzend, registrierte er mit Wohlwollen und Vorfreude. Sein Hochgefühl hätte sich wahrscheinlich augenblicklich in Luft aufgelöst, hätte er gewusst, dass das Anwesen Hanni dem Hammer gehörte.
*
„Ja, Horst, ich bins, der Hanni. Bist heit Nacht gut hamkumma?“ Johann Hammer hatte die Telefonnummer auf dem Display erkannt.
„Nein, hier ist nicht der Horst. Ich bins, die Hanna, seine Frau. Wo ist er denn, der alte Gauner? Habt ihr wieder ordentlich gesoffen und er schläft noch seinen Rausch aus?“
„Hallo, Hanna, grüß dich“, antwortete Hanni der Hammer. „Dei Mo is net da. Der hat sich heut früh aufn Wech nach Neuhaus gmacht. Ich hab ihm noch mei Jeansjackn und mein Jägerhut mit aufm Weg geben, weil des hat ganz schee abgekühlt gestern Abend, damit er uns net a nu krank wird. Is er net daham?“
„Nein, er ist nicht nach Hause gekommen.“
„Leck mich am Arsch, der wird doch net nu irgendwo im Wald liegn und sein Rausch ausschlafn? Waßt was? Ich schwing mich mal aufs Fahrrad und fahr den Weg ab. Vielleicht find ich ihn. Dann ruf ich dich gleich an, gell. Sollte er zwischenzeitlich daham auftauchn, dann sei so gut und sag mir auf meim Handy Bescheid. Okay?“
„Okay. Schau mal, dass du ihn findest.“
Johannes Hammer hatte während des Telefonats ständig hinaus auf seinen Garten gesehen. Eine eigentümliche Gestalt trieb sich draußen auf der Jahnstraße herum. Er sah aus wie ein Obdachloser. Wie ein Landstreicher. Ein Röttenbacher war er jedenfalls nicht, und er glotzte so was von auffällig in den Garten und auf das Haus. Der Mann hatte einen irren, strengen Blick und sah zum Fürchten aus. Lange, ungepflegte, widerspenstige Haare standen von seinem Kopf ab. Seine Kleidung war abgerissen und schmuddelig. Auf seinem Rücken trug er einen abgewetzten Rucksack, und sein Blick war irre und furchteinflößend. Hanni der Hammer hatte das Telefonat mit Hanna Jäschke beendet und beobachtete nun die ungepflegte Gestalt. Die bewegte sich nicht von der Stelle. Als wäre sie festgewachsen. Dem Hausherrn wurde es zu bunt. Er musste weg, Knöllchen-Horst suchen. Wutentbrannt riss er das Fenster auf. „Heh, du Struwwelpeter“, rief er hinaus, „was willstdn du hier? Warum starrstdn du dauernd auf unsern Gartn und unser Haus? Bei uns gibts fei nix zu Bettln. Des socher der gleich! Schau dassd verschwindst, sonst macher der Ba!“
Ulrich Fürmann starrte immer noch auf die herrlich roten Eiertomaten, die ihm von vier Tomatenstöcken entgegenlachten. Er fühlte, wie der Hunger in seinem Magen rumorte. Dann besann er sich und ging weiter. Ein unfreundlicher Zeitgenosse, der da zum Fenster herausplärrte. Er nahm sich vor, das Grundstück in der Nacht näher zu inspizieren.
*
Johannes Hammer schwang sich auf sein Fahrrad und strampelte die Schulstraße hinauf. Es ging bereits auf elf Uhr zu. Wo kamen denn die ganzen Polizeifahrzeuge her, welche ihm entgegenfuhren? Das sah ja fast wie ein Betriebsausflug aus. Machten die Bullen vielleicht eine Sternfahrt? Er trat in die Pedale und machte sich Sorgen um Knöllchen-Horst. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen. Mit fast dreiundsechzig Jahren konnte spontan alles passieren. Herzinfarkt, Schlaganfall, Kreislaufzusammenbruch. Besonders nach so einer durchzechten Nacht. Er sah sich ringsherum um. „Horst?“, brüllte er von Zeit zu Zeit in die offene Natur. Die Sonne lachte wieder von einem wolkenlosen Himmel und die Kühle der Nacht hatte sich längst verzogen. Lediglich über dem nahen Wald stiegen noch kleine Dunstwölkchen auf, die sich aber sofort verflüchtigten. Das Getreide links und rechts des Weges stand schon hoch. Bald würden die Mähdrescher mit ihren gierigen Mäulern kommen und nur noch Stoppeln hinterlassen, erste Boten des nahenden Herbstes. „Horst, hörst du mich?“, rief er erneut über die Getreidefelder. „Horst, ich bin’s, der Hanni.“ Keine Antwort. Hanna rief auch nicht an. Bertl Holzmichl ratzte bestimmt noch immer in der Gartenlaube vor sich hin und schlief seinen Rausch aus, aber Knöllchen-Horst war immer noch verschwunden. „Und wenn er in an Weiher neigfalln ist?“, ging es ihm durch den Kopf. „Das wärs ja noch gwesen.“ Sein Mobiltelefon vibrierte. Es war Hanna. „Hast du ihn schon gefunden?“, fragte sie.
„Na, ich bin etz grad an der Stell, wos im Wald ständich den Berch nach Neuhaus runter geht“, antwortete er. „Wie gsacht, ich ruf di scho an, wenn ich fündich worn bin.“
Fünfzehn Minuten später war Hanni der Hammer bei Hanna angekommen – ohne ihren Mann. Sie berieten, was zu tun sei. „Ruf bei der Polizei an“, forderte er sie auf.
„Aber heute ist doch Sonntag!“
„Na und? Die sen doch immer besetzt“, argumentierte er. „Wenn der Horst in seim Rausch in die Schwarzbeersträucher neigfalln is, finna wir den nie. Der wacht höchstens auf, wenn der vo die Ameisn odder die Schnagn zerstochen wird.“
„Was soll ich der Polizei sagen? Dass der säuft wie ein Besenbinder und sich wahrscheinlich im Vollrausch nur verlaufen hat?“
„Bloß net“, riet ihr Johann Hammer, „da sens zu empfindlich, die Bulln. Die fühln sich immer gleich verarscht. Da tätn die gor net mit dem Suchn anfanga.“
„Warum müsst ihr Mannsbilder nur immer so viel trinken?“, beschwerte sich Hanna Jäschke.
„Is halt ab und zu a schee“, antwortete er.
„Ab und zu, bei euch ist das doch ein Dauerzustand.“
„Na ja, so schlimm is a net. Und sonst? Machst immer noch dei Kräuterführunga?“
„Hhm, macht immer noch Spaß.“
„Immer nu ums Schloss rum?“
„Ja, ich treffe mich mit meinen Teilnehmern immer in der Schlossstraße, beim alten Brunnen, und dann laufen wir meistens um das Schloss herum.“
„Und da wächst was?“
„Und wie! Im Frühjahr wächst dort sogar der Gundermann, das ist eine Zauberpflanze, die verrät in der Walburgisnacht die Hexen. Dort findest du auch Liebeskräuter mit aphrodisierender Wirkung.“
„Du manst, die machn geil?“
„Ihr Mannsbilder habt auch nur immer das Eine im Kopf. Bald wird es die Herbstkräuter geben und im Oktober die Wurzelkräuter. Geh doch einmal mit, dann lernst du noch etwas.“
„Na, Gundermann, Wurzlkräuter, des is nix für mich. Ich foahr etz widder ham. Helfen kann ich dir etz ja eh net.. Wenn er auftaucht, der Horst, rufst mich an. Ich schau hamwärts a numal, ob ich ihn find.“ Johann Hammer verabschiedete sich, und schwang sich draußen