Thomas Löffler

Auf dem Weg in ein neues Leben


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meldete sich nach langem Warten eine tiefe Stimme.

      „Hier ist Jäger in Niederschönach. Ich habe bei Ihnen vor drei Wochen eine Basssaite bestellt. Als Muster habe ich Ihnen die gerissene Saite geschickt. Können Sie mir sagen, wann ich mit der Lieferung rechnen kann?“

      „Der Auftrag liegt noch in der Spinnerei“, antwortete der Kollege.

      „Seit drei Wochen?“

      „Sie sind nicht unser einziger Kunde.“

      Seinen Unmut zurückhaltend fragte Uwe: „Was sage ich meiner Kundin, wenn ich ohne ihre Basssaite aufkreuze?“

      „Das ist Ihr Problem. Wir schicken die Ware morgen raus.“

      Ohne ein weiteres Wort legte Uwe den Hörer auf, spannte die Karteikarte von Frau Hegemann in seine Blindenschriftmaschine und schrieb eine Notiz. Zur Not muss ich der Kundin einen neuen Termin geben, dachte er. Aber das hat noch Zeit. Der Termin ist erst übermorgen. Heute habe ich nur eine normale Stimmung zu machen.

      In Uwes Gedanken hinein klingelte das Telefon.

      „Jäger.“

      „Hier ist Wolfgang.“

      „Hallo Wolfgang. Was gibt es? Ich habe zu tun.“

      „Es geht um die Freizeit.“

      „Welche Freizeit meinst du? Ich nehme an mehreren teil.“

      Der Gesprächspartner überging die Frage und sagte: „Darf ich dich in den nächsten Tagen einmal besuchen?“

      „Kommt auf den Zeitpunkt an.“

      „So schnell wie möglich.“

      Uwe zog den Terminkalender zu sich heran und blätterte die nächsten Termine durch. „Morgen Nachmittag hätte ich Zeit. Dann erst wieder am Wochenende.“

      „Mir wäre es lieb, wenn wir uns morgen treffen“, antwortete Wolfgang.

      „Um 17:00 Uhr“, schlug Uwe vor.

      „In Ordnung. Ich bin pünktlich bei dir.“ Wolfgang unterbrach die Verbindung.

      Nachdenklich hielt Uwe den Hörer in der Hand. Welche Freizeit hatte Wolfgang gemeint? Der Jugendwart lud Uwe oft zu Wochenendfreizeiten ein. Es gab aber auch zwei größere Freizeiten – eine in Berlin, und die andere ... Uwe lief ein Schauer über den Rücken. Sollte es um die Berliner Freizeit gehen? Bei dieser handelte es sich um ein Ost-West-Treffen.

       Kapitel 3

      Hastig zog Uwe eine Schublade seines Schreibtisches auf und entnahm ihr ein Bündel Briefe. Alle trugen eine Potsdamer Adresse als Absender. Nur ein Brief – der zuunterst liegende – trug weder Absende-noch Empfängeradresse. Uwe hatte ihn in der Vergangenheit immer und immer wieder gelesen. Dieser Brief gab ihm Hoffnung. Auch jetzt legte er das Blatt Papier vor sich auf die Schreibtischplatte. Durch das viele Lesen waren die Punkte stark abgegriffen.

       Liebster Uwe, wenn du diesen Brief in deinen Händen hältst, ist meine Flucht gelungen und ich bin in Sicherheit. Bitte habe Vertrauen zu mir und lasse dich nicht zu Impulsivhandungen hinreißen. Beende in Ruhe deine Ausbildung, damit du, wo auch immer, einen guten Start hast. Bitte vertraue mir. Ich warte auf dich, und wenn es Jahre dauert. Sei bis dahin behütet und getröstet.

       Deine Meike.

      Uwe stützte das Kinn auf seine Hände und verfiel in Erinnerungen. Vor seinem inneren Auge erschien eine Bank, umgeben von Büschen und Kastanienbäumen. Dies war sein Rückzugsort gewesen, wenn er die Einsamkeit gesucht hatte. Nur seine Freundin Meike kannte diesen Platz und hatte ihn oft mit ihrem Jugendfreund geteilt. Die Szene wechselte. Uwe sah sich in einem Raum, gefüllt mit ausgestopften Tieren für den Biologieunterricht. Herr Steinert, Uwes ehemaliger Klassenlehrer, gab ihm einen Brief von Meike – den ersten von vielen. Langsam kehrten die Gedanken des jungen Mannes in die Gegenwart zurück. Vorsichtig steckte er den Brief zurück ins Bündel und zog wahllos einen anderen heraus. Seit Uwe und Meike im Briefwechsel standen, verwendete seine Freundin vorsichtshalber eine andere Anrede. So hieß Uwe in den Briefen Peter, und Meike nannte sich Karin. Für den Schriftwechsel benutzten beide eine Deckadresse in Potsdam.

       Lieber Peter, ich habe es geschafft. Vorige Woche bekam ich vom Arbeitsamt die Nachricht, dass in einem kleinen Betrieb eine Stelle für eine Schreibkraft frei wird. Ich bewarb mich sofort und wurde angenommen. Nun werde ich auch bald genug Geld haben, um mir eine bessere Wohnung leisten zu können. Meine Kollegen sind sehr nett zu mir.

       Lieben Gruß

       Karin

      Uwes Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es höchste Zeit war, sich auf seinen nächsten Kunden vorzubereiten. Schnell schob er den Brief ins Bündel zurück und zog den Karteikasten zu sich heran. Die Eintragungen für die heutige Kundschaft betrafen nur eine einfache Stimmung. Dafür reichte das Grundwerkzeug. Uwe brauchte sich daher nicht erst mit dem Zusammensuchen von Material und Spezialwerkzeug aufzuhalten. Bis zur Bandprobe würde er es trotzdem kaum schaffen. Der Klavierstimmer schob die Karteikarte des Kunden in die Außenseite des Werkzeugkoffers. Pfeifend verließ er die kleine Wohnung und lenkte seine Schritte Richtung Bahnhof. Die Eisenbahn war, außer in den Wintermonaten, zuverlässiger als Busse. Kurz darauf durchschritt Uwe die Bahnhofshalle und stand schließlich auf dem Bahnsteig.

      „Hallo Uwe.“

      Der Angesprochene drehte sich zur Seite. Er erkannte die Stimme von Rico, dem Leiter der jungen Gemeinde.

      „Hast du in den nächsten Tagen etwas Zeit?“

      Uwe überlegte. Am nächsten Vormittag hatte er den Termin mit Frau Janek, die eigentlich heute dran gewesen wäre. Nachmittags wollte er die Mechanik fertig machen. Dann kam auch noch Wolfgang. Schließlich entschied er: „Morgen Abend ab 18:00 Uhr ist es möglich.“

      Rico zog seinen Terminkalender zu Rate. „Da kann ich auch.“

      Uwe hörte das Signal einer sich in Bahnhofsnähe schließenden Schranke. „Um was geht es denn?“

      „Wir müssen über Berlin nachdenken.“

      Uwe fiel das Telefonat mit Wolfgang ein und er erzählte Rico davon. „Eigentlich passt mir der Termin mit Wolfgang gar nicht“, schimpfte er. „Wenn morgen die Reparatur nicht fertig wird, steigt mir mein Kunde aufs Dach.“

      „Du kannst doch das Gespräch auf 18:00 Uhr verschieben“, schlug Rico vor. „Dann kann ich gleich dabei sein. Ich weiß zwar nicht, um was es bei Wolfgang geht, kann mir aber vorstellen, dass er ein ähnliches Anliegen hat wie ich.“

      Von ferne hörte Uwe den Zug, der sich dem Bahnhof näherte. Er hob seinen Werkzeugkoffer auf. „Das ist keine schlechte Idee. Ich rufe ihn nachher von zu Hause aus an.“

      „Soll ich dir beim Einsteigen helfen?“

      Uwes Antwort ging im Quietschen des haltenden Zuges unter. Er brauchte nur eine Station zu fahren und blieb, nachdem er eingestiegen war, gleich am Ausstieg stehen.

      Rico verabschiedete sich und verschwand im Abteil.

       Kapitel 4

      Eine halbe Stunde später stand der Klavierstimmer am Hauseingang und suchte das Klingelbrett. Er hasste diese Eingänge. Bei den neu gebauten Häusern fiel alles aus dem Rahmen. Selbst die Lage der Klingelknöpfe war nicht genormt. Zum Glück wusste Uwe die Etage, in der sein Kunde wohnte.

      „Ja, bitte!“, ertönte, nachdem er endlich die richtige Klingel gefunden hatte, eine heisere Stimme aus einem verzerrt klingenden Lautsprecher.

      „Der Klavierstimmer ist da.“

      „Wer?“

      „Ich bin Uwe Jäger und möchte Ihr