Uwe vor dem Fernseher. An diesem Nachmittag lief die Handlung scheinbar ohne Spannung an ihm vorbei. Der Grund für seine Aufregung war ein dringender Auftrag eines Mitarbeiters der Katharinengemeinde in Berlin. Sein Name war Engelmann. Warum tat dieser so wichtig? Sicher, die Gemeinde gehörte zu Uwes Stammkunden, galt aber der großen Entfernung wegen zu den schwierigsten. Zögernd stand Uwe vom Fernsehsessel auf, ging zum Schreibtisch in der Ecke und zog den letzten Brief von Meike aus dem Stapel auf der Schreibtischplatte. Langsam glitten seine Finger über die Punkte.
Hallo Peter, gern möchte ich dir ein paar Zeilen schreiben. Viel Aufregendes gibt es nicht zu berichten. In der Firma finden personelle Umstrukturierungen statt. Ich bin zum Glück davon nicht betroffen. Meine Nachbarin hat sich einen Hund zugelegt. Der bellt den ganzen Tag. Magst du Hunde? Ich möchte mir gern einen Blindenführhund anschaffen. Leider ist meine Wohnung zu klein dafür.
Liebe Grüße
Karin
Uwe konnte hinter diesen wenigen Zeilen nichts Geheimnisvolles entdecken. Er las sie ein zweites und ein drittes Mal. Auch der vorletzte Brief enthielt keine versteckten Nachrichten. Also legte er die Briefe wieder weg.
Es war wohl besser, überlegte er, den Auftrag als wichtig einzustufen. Uwe suchte die Karteikarte der Katharinengemeinde aus dem Kasten. Neben den Standardangaben des Kunden hatte er darauf auch einige Informationen notiert, die die Instrumente betrafen. Beim Lesen musste er schmunzeln.
- Gemeindesaal: kalt, ein Piano, Tasten gequollen und rostige Saiten.
- Musikzimmer: ein Piano, Brötchen in der Mechanik, Mäusedreck und Mottenfraß. Dämpferabhebestange zum Pedal gebrochen.
- Frau Lippert: Gussrahmen gerissen.
Dieser Dame musste Uwe endlich klarmachen, dass ihr Instrument auf den Schrott gehörte. Und dann war da noch Herr Heimstätter. Er war der Kantor dieser Gemeinde. Der bildete sich ein, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Uwe mochte diese Art von Kunden nicht.
Er griff sich die Notizen, die er während des letzten Telefonats gemacht hatte. Da stand es klar und deutlich: Die Berliner wollten offenbar seinen Unmut heraufbeschwören. Der Gemeindesaal und das kleine Zimmer nebenan waren wieder mal dran. Uwe rang die Hände. Die Kiste im Musikzimmer bedurfte einer Grundreinigung. Fest stand, dass beide Instrumente an einem Tag nicht zu schaffen waren. Zudem litt Uwe unter einer Hausstauballergie. Aus diesem Grund lehnte er Grundreinigungen meist ab. In Berlin kam er aber wohl nicht drum herum. Mottenfraß bedeutete, dass unter anderem die Filzscheiben unter den Tasten erneuert werden mussten. Die standen auf der Bestellliste und waren noch nicht verfügbar. Uwe atmete auf. Der Kelch ging also noch einmal an ihm vorbei. Ihm blieb der Gemeindesaal. Schlimm genug!
Uwe wollte gerade die Karte in den Karteikasten zurücklegen, als er in der Bewegung innehielt. Er erinnerte sich daran, vor einigen Wochen vorsorglich einen Satz Filzscheiben bestellt zu haben. Er ließ die Karte auf die Schreibtischplatte fallen und verließ die Wohnung Richtung Werkstatt. Tatsächlich lag ein neuer Satz in einem seiner Materialkästen. Sogar einen Satz Papier- und Pappscheiben fand er.
Uwe ging zum Telefon und wählte die Nummer der Katharinengemeinde.
Am anderen Ende meldete sich eine etwas schläfrig wirkende Frauenstimme. „Pfarramt der Katharinengemeinde.“
„Guten Tag. Hier ist Uwe Jäger, Ihr Klavierstimmer.“
Die Dame wirkte plötzlich hellwach. „Sie möchten sicher Herrn Engelmann sprechen.“
„Ja“, bestätigte der Angesprochene. Er hörte, wie der Hörer zur Seite gelegt wurde.
Nach einer Weile ließ sich eine freundliche Männerstimme vernehmen. „Sie sprechen mit Fritz Engelmann.“
„Hier ist Uwe Jäger, Ihr Klavierstimmer“, wiederholte dieser.
„Ich freue mich, dass Sie anrufen.“
„Sie baten um einen dringenden Termin?“
„Ja. Wir brauchen Sie unbedingt, und möglichst noch vor nächster Woche, für zwei Klaviere.“
„Um welche Instrumente handelt es sich?“
„Um die beiden im Gemeindesaal und im Musikzimmer.“
Uwe grinste. Dachte ich es mir doch. Die Kleinen wollen singen, schmeißen aber vorher alte Brötchen in die Mechanik. „So schnell geht das nicht“, sagte er. Meinen Notizen nach zu urteilen benötigt das Instrument eine Grundreinigung. Außerdem liegt Mottenfraß vor. Sie könnten es vorläufig gegen ein anderes austauschen. In einem der anderen Zimmer steht doch noch ein Klavier, wenn ich mich recht erinnere.“
„Das wird auch gebraucht. Nächste Woche ist eine Singefreizeit. Und dann ist da noch eine andere Sache ...“ Herr Engelmann hielt inne und kam zu seinem eigentlichen Anliegen zurück. „Herr Jäger, könnten Sie morgen kommen?“
„Wenn es so dringend ist, dann muss es wohl sein. Ich habe zum Glück bis zum Wochenende nur einen Auftrag, den ich deswegen verschieben muss. Ich bin dann, wie immer, im Laufe des Vormittags bei Ihnen.“
„Wir würden uns sehr freuen.“
„Sie sprachen von einer anderen Sache?“ Die Andeutung seines Gesprächspartners hatte Uwe neugierig gemacht.
„Das ... das ist nicht so wichtig“, druckste Herr Engelmann herum. „Wir unterhalten uns darüber, wenn Sie bei uns sind. Wie lange werden Sie brauchen?“
„Bei dem Klavier mit Reinigen und Stimmen etwa sieben Stunden.“
„Das wären also zwei Übernachtungen“, überlegte der Anrufer.
„Wenn ich morgen nach der Ankunft gleich mit der Reinigung beginne, brauche ich nur eine Übernachtung.“ Nachdem Uwe den Hörer aufgelegt hatte, begann er damit, das nötige Material und sein Werkzeug zusammenzupacken. Rechtzeitig fiel ihm noch eine beim letzten Mal gerissene Saite ein. Also mussten neben dem Stimmwerkzeug, Filz- und Pappscheiben auch noch Saitendraht in verschiedenen Stärken, Mikrometerschraube, Saitenschneider, Aufsetzeisen und Rundzange in den Werkzeugkoffer. Dieser gehörte samt Schlafsack und Wechselwäsche zur Standardausrüstung für weite Geschäftsfahrten.
Plötzlich hielt Uwe beim Packen inne. Er hatte das Treffen mit Rico und Wolfgang vergessen. Die mussten bald auf der Matte stehen. Schnell stopfte er den Schlafsack in seinen Rucksack und stellte diesen neben den Werkzeugkoffer in den kleinen Vorraum. Kurze Zeit später klingelte es an der Tür. Rico und Wolfgang kamen zusammen und stürmten gut gelaunt in Uwes kleine Wohnung.
Wolfgang sah sich um. „Das sieht ja wüst aus bei dir. Fährst du weg?“
„Ich habe morgen Kundschaft in Berlin.“
Rico und Wolfgang tauschten verständnisvolle Blicke.
Rico fragte: „Ist es wieder die Katharinengemeinde?“
„Ja“, bestätigte Uwe. „Ich habe jetzt schon die Schnauze voll.“
Wolfgang nahm die von seinem Gastgeber gereichte Flasche Bier entgegen. Rico hielt sich wie immer an Mineralwasser und Uwe öffnete für sich eine Klubkola.
Wolfgang nahm einen großen Schluck aus seiner Flasche, stellte sie auf einem Beistelltisch ab und lehnte sich zurück. „Womit wir beim Thema wären“, eröffnete er die kleine Versammlung. „Zufälligerweise findet die Ost-West-Freizeit in der Katharinengemeinde statt. Du, Uwe, bist demnach sozusagen unsere Vorhut. Ich gehe von einem Termin Anfang Juli aus. Wir haben also noch etwas Zeit.“
Rico räusperte sich vernehmlich. „Laufen die Vorbereitungen in Gemeinschaftsarbeit oder brät jede Seite ihre Extrawurst?“
„Ich treffe mich Anfang Mai mit meinem Jugendwartkollegen in Ostberlin. Bis dahin sollten wir uns schon Gedanken gemacht haben.“
„Nur wir drei?“, fragte Uwe vorsichtig.
„Natürlich nicht“, wehrte Wolfgang ab. „Ich habe vor, Jürgen und