Thomas Löffler

Auf dem Weg in ein neues Leben


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leise. Herr Weinreiter gehörte zu den anstrengenden Kunden. „Ja, ich bin es“, sagte er schließlich.

      Ein Kollege hatte Uwe von Weinreiters Klavier erzählt. Demnach war es kein Instrument, sondern eine Krankheit. Es stand an einer kalten und nassen Außenwand, was dazu führte, dass die Stimmung nie lange hielt. Außerdem waren Stimmstock und Resonanzboden gerissen. Alles in allem ein Albtraum von einem Klavier. Ein Etwas aus Holz, Metallfedern und Stahlsaiten, dem man nach getaner Arbeit gern den Rücken kehrte.

      Der elektrische Türöffner ertönte und die Glastür sprang auf. In der vierten Etage traf Uwe auf einen schmächtigen Mann, der die Mitte des Lebens schon weit überschritten hatte.

      Uwe fragte: „Sie sind Herr Weinreiter?“

      Die Frage überhörend, entgegnete der andere: „Sie sind Herr Jäger?“

      „So ist es. Ich bin der, der Ihrem Klavier die richtigen Töne beibringen möchte.“

      Wie ein Fels in der Brandung stand das alte Männlein im Türrahmen. Uwe dachte: Habe ich heute nur solche ausgebrannten Typen? Die eine verschläft den Termin und der andere lässt mich nicht an meinen Arbeitsplatz. Der Mann passt in diese Gegend wie ein Elefant auf den Nordpol.

      Endlich trat Herr Weinreiter zur Seite und bedeutete Uwe, in die Wohnung zu kommen.

      Dieser setzte einen Schritt über die Schwelle und stieß sich schmerzhaft an einem Schrank, der schräg in den Eingang ragte. Uwe rieb sich seine linke Seite.

      „Oh, haben Sie sich wehgetan?“

      „Nicht der Rede wert. Wenn Sie mir nun Ihr Klavier zeigen würden.“

      „Es steht im Wohnzimmer. Ach ja, Sie sind ja blind. Ich führe Sie.“

      Jetzt hat er es begriffen, dachte Uwe. Im Zimmer angekommen, geleitete Herr Weinreiter seinen Gast zu einem mit Kratzern übersäten Piano. Der Deckel hatte einen längs verlaufenden Riss und die linke Seite war durch die von der Wand kommenden Feuchtigkeit gequollen. Die linke vordere Rolle fehlte. Stattdessen hatte jemand ein Stück Holz unter das Instrument geschoben. Uwe stellte seinen Werkzeugkoffer ab, klappte den Deckel nach hinten und hob die Frontplatte aus dem Holzrahmen. „Auf diesem Klavier hat wohl schon Karl der Große gespielt?“ Uwe musste sich ein Grinsen verkneifen.

      Der Besitzer verstand den Witz nicht. „Oh ja“, antwortete er stattdessen. „Mein Vater Karl spielte sehr gern darauf.“

      „Soso, der Herr Papa also“, knurrte Uwe in sich hinein. Ist es also doch neuer, als ich dachte. Uwe zog sich den altersschwachen Klavierhocker heran und begann mit seiner Arbeit. Die Wirbel drehten sich viel zu leicht und jeder Ton wurde von einem Klirren begleitet, das von dem gerissenen Resonanzboden herzurühren schien.

      Herr Weinreiter beobachtete jeden von Uwes Handgriffen interessiert. Als Uwe aufatmend den Stimmschlüssel vom letzten Wirbel zog, fragte der alte Mann: „Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“

      „Nein danke. Ich muss noch zu einem anderen Kunden“, sagte Uwe. Diese Ausrede kam nicht zum ersten Mal über seine Lippen. Nur weg hier, dachte er.

      „Für eine Tasse Kaffee ist immer Zeit“, entgegnete der Hausherr und führte Uwe zu einer Sitzecke. „Wissen Sie, ich spiele nicht auf diesem Klavier. Meine Frau war die Musikbegeisterte in der Familie.“

      „War?“

      „Sie ist vor einem halben Jahr gestorben.“

      Uwe kannte das. Anderthalb bis zwei Stunden Klavier stimmen und anschließend mindestens zwei Stunden bei Kaffee und Kuchen Seelentröster sein. Er setzte sich in einen stark abgewetzten Sessel. „Das tut mir leid.“

      Nach langem Schweigen fuhr Herr Weinreiter fort: „Sie wollte immer, dass ihr Klavier gut gestimmt ist. Sie spielte den ganzen Tag. Manchmal nervte mich das. Jetzt vermisse ich ihr Spiel.“

      Uwe war nicht zum Seelentröster geboren. Und auf Probleme der Kunden, die niemanden zum Reden hatten, war er in der Ausbildung nicht vorbereitet worden. „War Ihre Frau Pianistin?“, fragte er.

      „Nein. Das Klavierspielen war ihr Hobby. Sie möchte bestimmt, dass ihr Lieblingsinstrument auch heute noch gut gestimmt ist.“

      Ein Glück, dachte der Klavierstimmer, habe ich nichts über die Sinnlosigkeit der Arbeit an diesem Kasten gesagt. Das Instrument ist Teil der Erinnerungen an seine Frau. Uwe dachte über den alten Mann nach. So abweisend, wie dieser ihn empfangen hatte, konnte er sich nicht vorstellen, was in ihm vorging. Sicher vermisste er seine Frau sehr. „Ich bin davon überzeugt, dass es Ihrer Frau gefallen würde, wenn sie jetzt vor einem gestimmten Klavier sitzen würde.“

      Herr Weinreiter sah seinem Gast in die Augen. „Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?“

      Uwe war diese Frage unangenehm. Dennoch antwortete er. „Ja, ich glaube daran.“

      Eine Weile war es wieder still im Raum. Der Gastgeber stand auf, ging zum Klavier, schlug einen Ton an und flüsterte: „Ich glaube nicht nur an ein Leben nach dem Tod. Ich weiß, dass es eines gibt. Und ...“ Er unterbrach sich selbst, ging langsam zur Sitzecke zurück, legte seine schwielige Hand auf Uwes Schulter und sagte, jedes Wort betonend: „Ich bin fest davon überzeugt, dass meine Frau uns jetzt sieht.“

      Uwe mochte dem alten Mann nicht sagen, dass niemand so etwas wissen konnte. Schließlich war noch kein Verstorbener zurückgekommen. Stattdessen entgegnete er: „Ganz bestimmt tut sie das.“

      Der alte Mann nahm seine Hand von Uwes Schulter und setzte sich auf ein knarrendes Sofa. „Sie wollen jetzt bestimmt weiter. Ich möchte Sie nicht aufhalten.“ Lange war es still im Raum. Nur das Ticken einer großen Standuhr war zu vernehmen. „Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann. Nur ein Bild.“ Wieder stand er auf. Von einem Beistelltisch nahm er ein gerahmtes Foto und legte es Uwe in die Hand. „Schauen Sie ...“ Mitten im Satz hielt er inne. „Entschuldigen Sie! Sie können es ja gar nicht sehen. Das ist unser Hochzeitsbild. – Von der goldenen Hochzeit“, setzte er ergänzend hinzu und nahm Uwe das Bild wieder ab. Behutsam, als wäre es zerbrechlich, stellte Herr Weinreiter es auf den Tisch zurück und nahm stattdessen die dicke Kerze in die Hand, die ihren Platz neben dem Bild hatte. Dann setzte er sich wieder Uwe gegenüber.

      „Auch mit Bildern kann man sich unterhalten“, sagte Uwe vorsichtig.

      Versonnen erwiderte der Alte: „Ja. Und wenn man ganz still ist, hört man sogar eine Antwort.“

      „Sind es Antworten, die Sie sich wünschen?“

      Uwes Gegenüber lachte laut auf. „Nicht immer. Manchmal streiten wir uns auch.“ Er legte Uwe die Kerze in die Hand.

      Dieser befühlte sie von allen Seiten und erkannte reliefartige Verzierungen.

      Mit Stolz in der Stimme sagte Herr Weinreiter: „Meine Frau hat diese Kerze selbst beklebt.“

      Uwe lächelte. „Ich muss jetzt wirklich aufbrechen“, erklärte er und gab seinem Kunden die Kerze zurück. „Rufen Sie mich an, wenn ich Ihr Klavier wieder stimmen soll. Ich komme gern.“

      „Was bekommen Sie für Ihre Arbeit?“

      Uwe winkte ab. Er konnte von diesem Mann kein Geld verlangen! „Wir regeln das beim nächsten Mal“, entgegnete er.

      Später, im Zug, dachte er noch lange über den alten Herrn nach. Wie verbittert musste dieser sein, dass er am Anfang so ablehnend gegenüber Uwe gewesen war. Rührte vielleicht daher seine Einsamkeit?

       Kapitel 5

      Missmutig schaute Meike aus dem Fenster in den strömenden Regen hinaus. Den Weg zur Firma schaffte sie in zwanzig Minuten. Bei Regen jedoch schien er ihr doppelt so lang. In einer Stunde musste sie los. Auf dem Wohnzimmertisch lag die Post vom Vortag. Zwischen Reklame und Rechnungen fand Meike einen Brief in Blindenschrift. Sie hatte nur einen Brieffreund, und dieser wohnte in der DDR. Ungeduldig öffnete sie den Umschlag und zog ein Blatt heraus. Uwe war nicht gerade der Schreibfreudigste.