Hanspeter Götze

Ein Wandel der Gesinnung


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Wechsel der Lokalität nichts, da die Mundpropaganda schon längst die Runde gemacht hatte. Es gab auch Tage, an denen ich bereits nach dem Bettverlassen über meine eigenen Füße stolperte. Bei derartigen Vorkommnissen wurde mir von meinem Körper ein Hausarrest auferlegt, bei dem ich zum Improvisieren angehalten wurde. Ein Anruf beim Pizzaservice mit einer unauffälligen Bestellung, die dann lautete: „Einen kleinen Salat und zehn Flaschen kaltes Weizenbier“, ließ mich auch solche schwere Stunden einigermaßen überbrücken. Der Tag war gerettet und ich konnte meine Sturzübungen ohne Observation im eigenen Heim durchführen.

      Seit diesem misslichen Unfall ließ ich mich nach einem Besäufnis den genannten knappen viertel Kilometer aus Sicherheitsgründen mit dem Taxi nach Hause kutschieren oder fand unter den Gästen einen hilfsbereiten Begleiter, der mich sicher bis vor die Wohnungstür brachte. Kam es bei eigenwilligen Fußmärschen doch zu einem unerwarteten Zusammenstoß mit einer hervorstehenden Außenmauer oder einem Verkehrsschild, versuchte ich am nächsten Tag auf Arbeit, die erlittenen Blessuren weitgehend zu vertuschen. Diese Verschleierungstaktik hätte in einem speziellen Fall fast zum Tod geführt.

      Beim Aufsuchen einer Bekannten nach einem üblichen Abend rutschte ich im Treppenhaus auf dem von Kindern hereingetragenen Schnee aus und fiel so unglücklich, dass ich mir den Ellenbogen in die linke Körperseite rammte. Da an diesem Tag auch die gesamte Beleuchtung im Hausinneren ausfiel, kroch ich auf allen vieren aus dem Gebäude in Richtung meiner Wohnung, welche auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag. Schmerzen verspürte ich durch die vorher eingenommene Biernarkose nicht und ließ mich nach der Ankunft einfach ins Bett fallen.

      Am nächsten Morgen bei der Teambesprechung in der Firma wurde mir plötzlich vor versammelter Mannschaft dermaßen übel und mein Gesicht war nach Aussagen der Kollegen nicht mehr von der Zimmerwand zu unterscheiden. Dieser Zustand veranlasste unseren Niederlassungsleiter, mich sofort einem Arzt zuzuführen, welches mein Bekannter übernahm. Mein Hausdoktor konnte trotz eines Lungentests keine Beeinträchtigung bei den Atmungsorganen feststellen. Er sah in der durch den Sturz zugefügten Prellung die Ursache für das ungewohnte Nach-Luft-Schnappen.

      Zwei Tage später suchte ich erneut die Praxis auf und klagte über zeitweiligen Atemstillstand. Da dieses aufgetretene Krankheitsbild seine ärztlichen Kompetenzen überschritt, überwies er mich umgehend an das hiesige Röntgenzentrum. Nach Auswertung der dort erstellten Aufnahmen führte mein Weg direkt in die schon vertraute Notaufnahme des Klinikums. Während mir eine Drainage gelegt wurde, klärte mich die Oberärztin über den wahren Grund des Aufenthaltes auf. Durch den Ausrutscher war ein Lungenriss entstanden, der den linken Flügel zusammenfallen ließ, sodass Luft eintreten konnte. Die galt es nun mithilfe des eingeführten Schlauches abzusaugen. Zu meiner Erleichterung führte sie noch an, dass ich bei einer Nichterkennung zwei Tage später ohne großes Zutun nicht mehr aufgewacht wäre.

      Fortan lebte ich für die Dauer des Aufenthaltes gesundheitsbewusst und verschmähte sogar das alkoholfreie Bier des Zimmernachbarn. Dieser war ehemaliger Brauer und hatte eine unheilbar fortgeschrittene Leberzirrhose und eine Hautfarbe, mit der er problemlos ohne Visum nach China hätte einreisen können. Nach meiner Entlassung hielt ich mich zumindest eine Woche lang an das mir von der Ärztin auferlegte Rauchverbot.

      Die zwangsweise eingelegten Zwischenstopps im Krankenhaus hatten auch ihre positiven Seiten. Meine Gesinnung fand endlich wieder Zeit für eine Ursachenforschung und der Magen kam nach langer Enthaltsamkeit in den Genuss von fester Nahrung, was er in vollen Zügen auskostete. Alles schien sich zum Guten zu wenden, wäre da nicht das Problem mit dem Umsetzen in den unbetreuten Alltag gewesen. Unmittelbar nach den jeweiligen Kuraufenthalten übernahm wieder der Alkohol das Zepter und führte mich schnurstracks zu den schon auf meine Ankunft wartenden Trinkquellen. Am schlimmsten traf es hierbei wiederholt meinen Verdauungstrakt, welcher sich nach den üppigen Tagen abermals mit der Rolle des hungrigen Wolfes abgeben musste.

      Die unkontrollierte Nahrungsaufnahme führte unweigerlich zu Störungen im gesamten Organismus. Hiervon war bei mir besonders die Haut betroffen. Die schon in jungen Jahren aufgetretene Psoriasis erhielt durch den Alkoholmissbrauch zusätzlichen Nährboden und verbreitete sich schnell über mehrere Stellen am Körper, welches aus reinem Schamgefühl den sommerlichen Badespaß verhinderte. Auch andere Ekzeme fanden mehr und mehr Gefallen beim Ansiedeln an der Haut. Zwar war mir die Ursache der zunehmenden Erkrankungen vollkommen bewusst, doch verzichtete ich lieber auf T-Shirts oder kurze Hosen als auf das heiß geliebte Weizenbier. Neidvoll beobachtete ich Menschen, welche sich trotz ähnlicher Probleme ungeniert in der Öffentlichkeit zeigten.

      Die damalige Verhaltensweise stellte bei mir sowohl Körper als auch Geist vor eine neue Belastungsprobe, der ich zum Schluss nicht mehr standhielt. Der einstige Rhythmus bei der Nahrungsaufnahme geriet durch das übermäßige Trinken immer mehr aus dem Gleichgewicht. Der unüberhörbare Rumor aus der Magengegend wurde mit Gerstensaft besänftigt. Erst bei extremer Übelkeit war Handlungsbedarf angesagt. Man wechselte kurzerhand von der Bierstube in ein Restaurant, in dem der Hunger gestillt wurde. Auf dem Weg dorthin malte ich mir schon die bevorstehende Mahlzeit aus und sehnte mich nach dem traditionellen Abschiedsschnaps. Nach Erhalt der Speisekarte zog sich jedoch urplötzlich mein Magen zusammen und die Vorfreude auf ein üppiges Essen schwand zunehmend. Entgegen der eingetretenen Appetitlosigkeit bestellte ich eine angemessene Portion in der Hoffnung auf ein Wunder. Nach der hastigen Einnahme des Salats und dem dazugehörenden Baguette erschien der Kellner mit der Hauptspeise. Beim Anblick dieser erinnerte ich mich an eine Szene mit Mr. Bean, als er die ungeliebten Austern, ohne dabei großes Aufsehen zu erregen, in die offen stehende Handtasche einer am Nebentisch sitzenden Dame verschwinden ließ. Doch diesen Gedanken musste ich angesichts der unbesetzten Tische im Umkreis schnell wieder verwerfen. Nach dem zögerlichen Herumstochern und der ständigen Fragerei des Obers, ob denn alles meinem Geschmack entspreche, entschloss ich mich zur Mitnahme des Essens. Sorgfältig in einer Tüte verpackt, wurde mir dieses zusammen mit einem Gläschen Sambuca überreicht. Während andere Leute diese nette Geste zu einer Essensfortsetzung für daheim nutzten, suchte ich die nächstbeste Mülltonne auf und entledigte mich des lästigen Ballasts.

      Im Gegensatz zum Trinken war meine damalige Lust am Essen nicht gerade berauschend. Es gab aber auch Momente, in denen ich mich mit dem Zubereiten von Mahlzeiten befasste, speziell, wenn es in der Kneipe bei einem Frauengespräch um den Austausch wichtiger Kochrezepte ging. Natürlich musste man bei dieser Unterhaltung gewisse Abstriche machen, da es sich dabei um eine schon länger zurückliegende Tätigkeit handelte, welches auch der Zustand der Betreffenden erahnen ließ. Trotzdem regten einige Tipps meinen Appetit an und daher begab ich mich kurz entschlossen in ein Lebensmittelgeschäft. Von der Vielfalt des Angebots angetan, versuchte ich das vorher Aufgeschnappte zu einem eigenen Menü zusammenzustellen. Immer mit einem sehnsüchtigen Blick in Richtung Getränkeabteilung gerichtet, füllte sich mein Einkaufskorb ohne Rücksichtnahme auf das Preis-Leistungs-Verhältnis. Geleitet von der verschwommenen Sicht, wurden Sachen eingekauft, welche dann als Zierde bis zum Verfallsdatum die Küche schmückten. Bevor ich dann zur Kasse einbog, versorgte ich mich noch mit Bier, das man zu Hause noch vor dem Auspacken der restlichen Lebensmittel erst einmal einschenkte. Danach wurde in aller Ruhe die weitere Vorgehensweise ausgetüftelt. Kurz vor der tatsächlichen Ausführung der Wunschvorstellung stellte sich auch rechtzeitig der Hunger ab, sodass ich den Plan auf ungewisse Zeit verschob. Um vor den anderen nicht als Versager dazustehen, aß ich etwas beim Metzger und berichtete danach ausführlich von meinen Kochkünsten, welche ich mir vorab aus einem Buch herausgelesen hatte.

      Diesem undisziplinierten Umgang mit dem Körper musste ich letztendlich Tribut zollen. Der enorme Gewichtsverlust stellte meine Standfestigkeit bei aufkommenden Windböen oder alkoholbedingten Schwankungen erheblich infrage. Da bei einem ehemaligen Arbeitskollegen und zugleich guten Bekannten ähnliche Symptome auftraten, schlossen wir uns an den Wochenenden zu einer Essgemeinschaft zusammen. Dies machte die Runde und so gesellten sich mit der Zeit zwei bis drei weitere Personen hinzu. Um in nichts nachzustehen, wurde allgemein gut gegessen und danach dementsprechend gebechert. In diesem Kreis befand sich auch ein guter Kollege, der seit zwei Jahren abstinent war und daher nur Spezi trank. Leider verließ er uns durch seinen plötzlichen Tod viel zu früh. Auch ein anderer aus unserer Tafelrunde verstarb drei Monate später an den Folgen des Alkohols und nicht an denen des Essens. Somit verblieben nur noch wir als Gründungsmitglieder und