großen Traums. Seit mehr als zwanzig Jahren gibt es im Nordirak die Autonome Region Kurdistan. Sie entstand aus einer Flugverbotszone, die 1991 auf Druck der USA eingerichtet wurde, um die Kurden vor weiteren Angriffen der Streitkräfte des Diktators Saddam Hussein zu schützen.
Nach ein paar Jahren turbulenter interner Auseinandersetzungen begann in dieser Region eine erstaunliche, für viele fast unerklärliche Entwicklung. Die Kurden, einst nur als tapfere Kämpfer bekannt, lernten die Spielregeln einer parlamentarischen Demokratie, lösten einen Wirtschaftsboom aus und demonstrieren eine Toleranz für politische, ethnische und religiöse Minderheiten, die im Nahen Osten sonst kaum zu finden ist. Was ist das Geheimnis dieses geradezu sensationellen Prozesses? Wie kann eine Insel des Friedens in einem Meer von Gewalt entstehen? Aus welchen Quellen schöpfen diese Kurden? Ich bin einen Monat lang durch das milde und nicht mehr wilde Kurdistan im Norden des Irak gereist, um nach den geistigen Spuren dieser Entwicklung zu suchen. Was ich gefunden habe, müsste eigentlich Stoff für ganz neue Schlagzeilen aus dem Orient liefern – denn es sind endlich einmal Nachrichten, die Hoffnung machen.
Hans-Joachim Löwer
KAPITEL 1
SULAIMANIA
„Eine un-orientalische Freiheit“
Wie eine Fürsten-Dynastie das Tor zur Welt aufstieß
Der Weg zu den Wurzeln eines Volkes ist voll von Windungen. Drei Leute helfen mir in Sulaimania, der „Kulturhauptstadt der Kurden“, bei meiner Spurensuche.
Der Erste heißt Fuad Baban. Er ist praktischer Arzt und hat seine eigene Klinik. Er saß zwei Jahre im Gefängnis, weil er für den Widerstand gegen Bagdad arbeitete, und vier Jahre im kurdischen Regionalparlament, als Bagdad seinen Einfluss zu verlieren begann. Seine Familie war vor 200 Jahren die Dynastie, die Sulaimania beherrschte – und den Kurden das Tor zu einer neuen Epoche aufstieß. Der Zweite heißt Sadik Ahmad. Er sitzt im einzigen großen Archiv der Kurden, „Jien“ genannt. Dort hütet er 500 Originalmanuskripte, Tausende von Dokumenten und 20.000 Bücher. Der Dritte heißt Scheich Salar al-Hafis. Er stammt ebenfalls aus einer angesehenen Familie, ist Rechtsanwalt und kämpft seit Jahren auf internationaler Ebene mit einer Flut von Papieren für die Sache dieses Volkes ohne Staat.
„In der Geschichte finden Sie die Antwort auf Ihre Fragen“, so oder ähnlich haben alle drei zu mir gesagt. „Lesen Sie doch einmal nach, was damals dieser Engländer über die Kurden schrieb.“ Ich stöbere in einem detaillierten Reisebericht von Claudius James Rich. Der Altertumsforscher reiste 1820 von Bagdad nach Ninive und streifte dabei durch die Heimat von Stämmen, die der Rest der Welt – wenn überhaupt – nur als kriegerische Nomaden kannte. Rich traf in Sulaimania ein – das war zu jener Zeit eine junge, kaum vierzig Jahre alte Stadt mit 10.000 Einwohnern – und notierte über sie erstaunliche Dinge.
„Mein Bad fand ich bemerkenswert hübsch, hell erleuchtet und gut in Schuss”, schreibt Rich. „Es sah besser aus als alle Bäder, die ich bislang im Osmanischen Reich gesehen hatte.“ „Ich war überrascht über die ganz un-orientalische Freiheit, die Söhne sich gegenüber ihrem Vater herausnahmen“, schreibt Rich. Er staunte, als er Mahmud Pascha Baban, den Herrscher über das kurdische Fürstentum, und dessen Sprösslinge besuchte. „Sie machten es sich vor ihm bequem und rauchten ihre Wasserpfeifen ohne die geringsten Umstände. So wie ich die Türken und Araber kenne – kein Sohn würde sich da vor seinem Vater einfach auf den Boden setzen.“ „In den Häusern laufen die Frauen ganz unbefangen mit den Männern herum“, schreibt Rich, „und ihre Hausarbeit verrichten sie ohne Schleier.“
Er traute seinen Augen nicht, als er vom Herrscher um zehn Uhr morgens zum Frühstück eingeladen war. Was da zum Verzehr zubereitet war, „hätte gereicht für ein üppiges Dinner“: ein ganzes Lamm, gegrillt und gefüllt, alle möglichen Sorten von anderem Fleisch, dazu die üblichen orientalischen Delikatessen, „serviert in persischem Stil“, aber „viel weniger fett und viel schmackhafter als alles, was ich je in Bagdad gegessen habe“.
Meine drei Führer durch die Geschichte der Stadt werden nicht müde, mir darzulegen, was für einen Sprung die Kurden schon vor 200 Jahren gemacht hätten. „Wir waren eben nicht nur Bergbewohner. Wir hatten auch schon eine Stadtkultur.“ Fuad Baban lädt mich in sein Haus ein. Es gibt frische Früchte, Nüsse und Tee und dazu Geschichten aus der Vergangenheit. Einer seiner großen Ahnen, Ibrahim Pascha Baban, tat schon im 18. Jahrhundert einen Schritt aus den Bergen heraus. Seine bisherige Residenzstadt Qala Tschuwalan lag zu weit abseits der Welt, deshalb ließ er zehn Kilometer entfernt eine neue Hauptstadt aus der Ebene stampfen. Sie wurde nach dem Gründer der Baban-Dynastie benannt. „Er hatte Bagdad gesehen“, erklärt mein Gastgeber, „so sollte auch Sulaimania aussehen, es war zu seiner Zeit die einzige größere Stadt in Kurdistan. Dafür holte er Baumeister und Künstler von überallher, die meisten kamen aus Persien.“ Sulaimania war 1784 fertig gebaut. Es hatte nicht nur Moscheen, sondern auch Märkte und öffentliche Bäder. „Und die Abwasserkanäle von einst“, sagt Baban, „sind heute noch intakt.“
„Die kurdischen Emirate waren eingezwängt zwischen Persien und dem Osmanischen Reich“, fährt der 74-Jährige fort. „Mal lagen sie mit einem der Nachbarn im Streit, mal hatten sie mit ihm eine Allianz. Aber immer gab es Verbindungen, kulturelle Beeinflussungen, Austausch von Ideen. Sulaimania war eine multikulturelle Stadt.“
Sadik Ahmad führt mich durch das Jien-Archiv. Wir schreiten an Bücherregalen und an einer Porträtgalerie mit berühmten Kurden entlang, dann stehen wir in einem Raum, wo all das gesammelte Material auf Mikrofilmen gespeichert wird. „Sulaimania hatte damals eine Bibliothek und eine islamische Schule“, teilt er mit. „Hier wurden die ersten Bücher in kurdischer Sprache verfasst.“ Ich nicke und spüre allmählich, was diese Herren mir mit all dem sagen wollen.
Sulaimania wurde das geistige Zentrum für eine kurdische Nationalbewegung. Hier rief 1922 Scheich Mahmud Barsindschi, den die Briten zum Gouverneur ernannt hatten, ein Königreich Kurdistan aus. Hier erschien 1920 das erste Schulbuch in kurdischer Sprache. Hier wurden, zumindest für die Oberschicht, die ersten Mädchenschulen der Region eingerichtet, wenn auch noch versteckt in privaten Häusern. Sulaimania war nicht von einer Schutzmauer umgeben – es war ein Symbol, dass die Stadt offen zur Welt sein wollte.
Die Große Moschee wurde nach der Gründung Sulaimanias in zwölf Jahren erbaut und 2012 restauriert. Hier treffe ich Scheich Salar, den Vorsteher der Moschee. Er hat dicke Wälzer über die Geschichte der Stadt und der Kurden geschrieben und ist so etwas wie der Hüter der Erbes seiner geistigen und geistlichen Vorfahren. „Es gab einmal einen Scheich Mohammed, der hat demonstrativ eine assyrische Christin geheiratet“, erzählt er. „Er war der Führer der Muslim-Gemeinschaft – und trotzdem wollte er deutlich machen, dass in dieser Stadt auch Christen unter seinem Schutz stehen. Den Sohn, den die Frau ihm gebar, nannte er gar Isa – das ist der arabische Name für Jesus.“
Man mag es kaum glauben, was dieser Mann da sagt. Nur hundert Kilometer entfernt von hier käme heute kein Muslim auf die Idee, eine Christin zu heiraten, ohne dass sie vorher zum Islam konvertiert. Es würde ihn nämlich ganz schnell den Kopf kosten – im 21., nicht im 19. Jahrhundert!
Wir gehen zu den Gräbern von Kurden, die Grundsteine für das gelegt haben, was heute in diesem Land heranwächst. Am Rand des großen Gebetssaals liegen elf Mitglieder der Baban-Dynastie begraben. In einem anderen Teil der Moschee steht der Sarkophag von Scheich Mahmud, dem ersten kurdischen Nationalhelden. Hohe, reich verzierte Gitter säumen die Ruhestätte. Besucher strömen in Scharen herein. Männer erheben stehend ihre Hände, Frauen drücken kniend ihre Köpfe gegen die metallenen Stäbe. Feierlich verharren die Menschen vor diesem Grab. Ein Volk, so scheint es, verneigt sich hier vor seinem ersten großen Führer.
Scheich Mahmud, 1881 geboren, läutete das blutigste Jahrhundert in der Geschichte der Kurden ein. Er entstammte einer Familie, der die geistige Führung der Region oblag. Die Weltmacht Großbritannien, die nach dem Ersten Weltkrieg das Gebiet beherrschte, setzte ihn als Gouverneur ein, um so die Region indirekt regieren zu können. Barsindschi aber weigerte sich, als bloßer Befehlsempfänger zu fungieren. Er ließ Sulaimania