Reiches seinen eigenen Staat gründen.
Barsindschi kämpfte, so war es Tradition, selber mit der Waffe in der Hand an der Front. Die heranrückenden britischen Truppen nahmen ihn, schon schwer verwundet, 1919 am Pass von Basian gefangen. Sie verbannten ihn auf die indischen Andaman-Inseln und nahmen in Kurdistan das Zepter nun direkt in die Hand. Damit hatten sie bald fast alle kurdischen Stämme gegen sich, die noch nie zuvor in der Geschichte eine Zentralgewalt akzeptiert hatten. 62 Würdenträger aus den Gebieten um Mossul, Erbil und Sulaimania forderten in einem Memorandum die Unabhängigkeit, und es hagelte Petitionen, in denen die Rückkehr Barsindschis verlangt wurde.
Einmal Peschmerga, immer Peschmerga:
Mohammed Sahid steht mit 85 Jahren noch an der Front.
Die Engländer gerieten ins Schwanken. 1922 holten sie, um des lieben Friedens willen, den Scheich aus der Verbannung zurück. Kaum zwei Monate später rief Scheich Mahmud sich zum König der Kurden aus. Zwei Jahre lang wehrten sich die mit ihm verbündeten Stämme gegen die Briten. Die setzten wiederum Truppen in Bewegung und auf Sulaimania regneten Brandbomben nieder. 1924 brach der erste große Kurdenaufstand zusammen.
„Unser Nationalismus war immer defensiv“, sagt Scheich Salar, der mich um das Grab herumführt. „Er war und ist nie gegen andere gerichtet. Wir lassen nur nicht zu, dass man uns das Recht auf Selbstbestimmung nimmt.“
SULAIMANIA
„Schlafen verboten“ steht auf den Schildern im Innenhof der Großen Moschee. Was aber tun all die Männer, die sich da auf dem Boden ausgestreckt haben? Sie schlafen, ausnahmslos. Die Mittagssonne brennt, wo sonst gibt es vor ihr einen so guten Schutz? Selbst im Schatten sind es fast 40 Grad.
Ich schaue Scheich Salar al-Hafis, der mich begleitet, fragend an. Er winkt ab und lächelt milde. Allah ist in Kurdistan eben nicht so streng.
KAPITEL 2
BARSAN
„Wir strecken die Hände aus“
Woher der Geist der Versöhnung weht
Noch einmal stehe ich vor einem Grab. Es liegt ganz unscheinbar, fast versteckt, an einem Hang des Berges Schirin. Seit gut deißig Jahren ruht hier der größte Sohn des Landes, der Übervater der Kurden. Wäre ein Stück dahinter nicht eine Gedenkstätte gebaut worden, so liefe man Gefahr, ganz achtlos an diesem Grab vorbeizugehen. Keine Tafel mit irgendeiner Inschrift. Keine Kerze, die feierlich flackert. Nur eine kleine, rechteckige Anhäufung von Erde. Nichts, absolut nichts verrät dem Besucher, wer dieser Tote ist. So wollte es Mustafa Barsani. Schlicht, wie er sein Leben führte, wollte er auch bestattet sein.
Zwei hochkant aufgestellte Steinplatten markieren die Lage des Toten, das ist islamischer Brauch. Sohn Idris, der nur acht Jahre später starb, wurde neben seinen Vater gebettet. Eine hüfthohe Steinmauer grenzt das sechs mal sechs Meter große Geviert ein, man kann sich mit den Händen auf sie stützen. Besucher stehen stumm und andächtig an diesem historischen Platz.
Ein Stück weiter unten liegen fast hundert Männer begraben, die an Barsanis Seite gekämpft haben. „Peschmerga“ nennen die Kurden bis heute all jene, die für die Freiheit ihres Volkes zu den Waffen greifen. Die Bezeichnung bedeutet auf Deutsch: „Die dem Tod ins Auge Sehenden.“ Wer seinen Einsatz mit dem Leben bezahlt, der gilt als „Märtyrer“. Das, aber wirklich nur das, haben sie mit den Islamisten gemein, die heute das Land der Kurden bedrohen.
Der Wind säuselt durch die Blätter der Bäume, die ein wenig Schutz vor der stechenden Sonne bieten. Sanft weht die Brise über die herrliche Landschaft, so als wolle sie alle Wunden streicheln, die sie in den vergangenen hundert Jahren erlitten hat.
Barsanis Erben kamen vor ein paar Jahren zu dem Entschluss, dass sie sich in einem einzigen Punkt über den letzten Willen ihres toten Helden hinwegsetzen müssten. Sein Grab durfte einfach nicht länger einfach so vor sich hin dümpeln. Sie ließen auf einer terrassierten Fläche ein mächtiges Halbrund aus Beton errichten – eine Art Kulturzentrum mit Museum und Veranstaltungsräumen.
Wieder suche ich, diesmal tief in den Bergen, nach den geistigen Wurzeln dieses Volkes. Woher kommt es, dass die irakischen Kurden so ganz anders „ticken“ als ihre Nachbarn? Warum glaubt heute jeder, der in ihr Land kommt, plötzlich in einer anderen Welt zu sein, obwohl sie auf der Landkarte schier eisern umschlossen scheint von Arabern, Türken und Persern?
„Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen“, sagt Mebaschar Hado. Kurden lieben Geschichten, das haben sie aus den Zeiten mitgenommen, in denen es noch kein Fernsehen gab. Da saßen sie in ihren einsamen Dörfern tagsüber vor dem Haus beim Tee, abends drinnen auf dem Teppich bei Huhn und Reis und tauschten die neuesten Nachrichten aus. Mebaschar gehört zum „Gastfreundschaftskomitee“ dieser Gedenkstätte und hat sich für mich ein paar Stunden freigenommen. Denn er will mir erklären, welcher Geist vom Grab des Mustafa Barsani ausgeht.
Er berichtet von einer der vielen Schlachten, die zu Marksteinen in der Geschichte der Kurden wurden. 1932 war es, bei Dola Waje, gar nicht weit entfernt von hier. Die Kurden hatten sich wieder einmal gegen die Zentralregierung in Bagdad erhoben. Eine irakische Spezialeinheit, aus der Luft unterstützt von britischen Flugzeugen, rückte gegen sie vor. Die Peschmerga leisteten zunächst keinen Widerstand, lockten die Soldaten immer tiefer ins Tal von Barsan hinein. Sie hatten beiderseits die Höhen besetzt, von dort nahmen sie dann den Feind unter Feuer. Am Ende war es ein Kampf Mann gegen Mann und ein irakischer Soldat schoss dem jungen Barsani, der einen Rebellentrupp kommandierte, eine Kugel in den linken Arm. Die Peschmerga überwältigten ihn und wollten ihn auf der Stelle töten. Barsani aber, gerade einmal 29, fiel ihnen in die Arme. „Lasst ihn leben!“, befahl er. „Er ist ein tapferer Mann.“ Der gefangene Schütze traute seinen Ohren nicht. „Ich bin Kurde“, brach es aus ihm heraus. Von nun an wollte er nicht mehr für Bagdad kämpfen und wurde sozusagen undercover ein wertvoller Informant für die Aufständischen. Die Kurden, so endet diese Geschichte, gewannen die Schlacht. Sie erlaubten, dass alle verwundeten Feinde zu ihren Einheiten zurückgebracht wurden – und halfen in vielen Fällen sogar beim Transport.
Mebaschar macht eine Pause und denkt nach. Dann fällt ihm eine zweite Geschichte ein. Sie spielt 1947, kurz bevor Mustafa Barsani, nunmehr 44, ins Exil in die Sowjetunion aufbrach, das letztlich zehn Jahre dauern sollte. Seine Peschmerga zogen ausgezehrt durch kurdische Dörfer. „Er hat ihnen trotzdem streng verboten, von den Einwohnern Essen zu fordern. ‚Verlangt von ihnen nie etwas mit Gewalt‘, hat er ihnen eingehämmert. ‚Wie wollt ihr sonst ihre Sympathien gewinnen?‘“ Die Folge sei gewesen, dass die Dörfler den Kämpfern aus freien Stücken Nahrung angeboten hätten.
Dann ist da noch eine dritte Geschichte. Sie habe sich Ende der 1960er-Jahre ereignet, sagt Mebaschar. Da war Barsani schon ein alter Kämpe, die Kurden fochten noch immer für ihren eigenen Staat, und Bagdad war so wie eh und je entschlossen, sie lieber zu vernichten als zu verstehen. Ein Mann namens Nasim Kasas war damals Chef des irakischen Geheimdienstes, und er war aus nachvollziehbaren Gründen bei den Kurden besonders verhasst. Zwei junge Peschmerga traten vor Barsani und behaupteten, sie würden es schaffen, ihn umzubringen – mit einem Bombenanschlag auf sein Haus.
„Könnt ihr mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen, dass dabei auch noch andere ums Leben kommen?“, fragte sie der Kurdenführer.
„Nein, natürlich nicht“, antworteten sie. „Wie können wir so etwas garantieren?“
„Dann dürft ihr diesen Anschlag nicht machen“, entschied Barsani. „Merkt euch für immer: Nie dürft ihr Unschuldige töten!“ Mebaschar schweigt und lässt die Anekdoten wirken. „Mitkämpfer, die heute noch leben, brechen in Tränen aus, wenn von Mustafa Barsani die Rede ist“, fährt er fort. „Niemand war so gut zu den Leuten wie er.“ Noch eine Pause und dann fügt er hinzu: „Wenn er mit seinen Peschmerga einen Fluss durchqueren musste, stieg er