wie sie von der autonomen Regionalregierung verwendet wird. Sie hat drei horizontale Streifen: Rot steht für das vergossene Blut, Weiß steht für den Frieden und Grün für die gebirgige Natur. Im Zentrum der Flagge scheint eine Sonne mit 21 Strahlen – eine uralte Glückszahl dieses Volkes.
Der Boden rund um das Dorf Barsan ist mit besonders viel Blut getränkt. Um den Peschmerga die Unterstützung zu entziehen, ließ Saddam Hussein ab 1983 Siedlungen in diesem Gebiet zerstören und Tausende von Männern hinrichten. Aber heute, dreißig Jahre danach, sind nicht einmal mehr Narben zu sehen. 59 Dörfer sind neu errichtet worden, teils mithilfe internationaler Organisationen, so wirkt die ganze Gegend wie ein einziges Neubauprojekt. Anfangs waren es Witwen, die mit ihren Kindern ein neues Leben begannen, mittlerweile gibt es in diesem Tal jedoch auch wieder tatkräftige Männer. „Wir haben Regenfälle von Oktober bis Mai“, sagt Mebaschar. „Viele Früchte wachsen hier ohne jede Bewässerung: Mandeln und Melonen, Trauben, Feigen und wilde Birnen.“
Ich treffe mit ihm den ersten, aber lange nicht den letzten erstaunlichen Menschen in Kurdistan. Er ist der lokale Chef des kurdischen Geheimdienstes Asaisch, wurde 1973 geboren und offenbart mir, dass er philosophische Werke von Locke, Descartes und Spinoza gelesen habe. „Schon als kleines Kind wollte ich immer Bücher haben“, erzählt er. „Ich wuchs im Iran auf, weil meine Eltern dorthin geflüchtet waren. Dort las ich viel über die kurdische, persische und europäische Geschichte.“ Nach seiner
Rückkehr, als erwachsener Mann, brachte er sich ganz alleine Englisch bei, mit Kopfhörer und Computer.
„Die Leute von Barsan haben schon an Umweltschutz gedacht, als es dieses Wort noch gar nicht gab“, sagt er. „Hier wurden die Bäume nie großflächig abgeholzt. Sie sehen ja, alles ist hier voller Bäume, daher ist die Landschaft besonders grün. Wissen Sie, was hier passiert ist? Eine echte Kulturrevolution!“
„Wie bitte?“, sage ich.
„Ja, das war das Werk von Scheich Abd al-Salam. Sie werden es nicht glauben, aber der setzte von 1885 an bahnbrechende Reformen durch.“ Er zählt sie der Reihe nach auf: Privater Großgrundbesitz wurde abgeschafft, der Boden unter den Bauern verteilt. Zwangsehen, von Eltern arrangiert, wurden ebenso verboten wie die damit verbundene Mitgift. Jedermann wurde vor dem Gesetz gleich. Die Moschee war nicht mehr nur eine Gebetsstätte, sondern auch ein Raum für Diskussionen und Schlichtung von Streitereien. In jedem Dorf wurde ein Komitee gegründet, das sich um die Belange der Allgemeinheit zu kümmern hatte. Es war wie ein Urkommunismus, noch ehe die Oktoberrevolution ausbrach, und wie ein republikanischer Minikosmos, während große Teile Europas noch von Kaisern und Königen regiert wurden.
„Humanität war das Topthema jener Zeit“, findet Mebaschar. „Die lokalen Scheichs gingen in die Städte und saugten sich dort mit Informationen voll. Die neuen Ideen wurden zu einem Motto, unter dem sich sieben Stämme zu einer Art Konföderation zusammenschlossen: die Schiwani und Dolameri, die Misuri und Baroschi, die Nisari, Gardi und Harki Binadscheh – sie alle wollten von nun an nur noch Barsanis sein.“
Die ungestümen Demokraten von Barsan schickten 1907 ein Telegramm an die Hohe Pforte in Konstantinopel. Sie stellten an den Herrscher des Osmanischen Reiches, dem sie formell untertan waren, unerhörte Forderungen: In den Kurdengebieten sollte Kurdisch die Amts- und Schulsprache sein, der Gouverneur und seine Beamten Kurdisch sprechen müssen, ein Teil der Steuern für den Bau von Straßen und Schulen in den Kurdengebieten verwendet werden. Für den Sultan war das nichts anderes als Aufruhr und Abtrünnigkeit. Sieben Jahre später wurden Abd al-Salam und dessen drei Leibwächter von einem kurdischen Scheich, der heimlich mit den Türken paktierte, verraten: Sie waren eingeladen, bei ihm zu übernachten, und wurden von seinen Leuten im Tiefschlaf überwältigt. Alle vier wurden in Mossul erschossen. „Das waren“, meint Mebaschar, „unsere ersten Märtyrer.“
Der Geist von Barsan ist die zweite große Quelle, aus der die heutigen Kurden schöpfen.
„Wir haben nie andere Völker angegriffen, sondern immer nur uns selbst verteidigt“, sagt Mebaschar. „Aber wir lassen auch nie zu, dass man uns unsere Rechte nimmt. Wenn wir kämpfen, schauen wir dem Gegner ins Auge – wir schießen ihm nie in den Rücken.“
Ich trinke meinen letzten Tee und wir sprechen über die Kraft zur Versöhnung. Etwa 200.000 Kurden haben, aus welchen Gründen auch immer, unter Saddam Hussein dem Regime in Bagdad gedient, meist als Polizisten und Soldaten. Sie trugen die Uniform des Feindes und wurden daher dschasch genannt, auf Deutsch etwa „Arschlöcher“. Als Saddam stürzte, wurde kein Einziger von ihnen bestraft. Die dschasch zogen ihre Uniformen aus, gingen nach Hause zu Frau und Kind, erlebten keinerlei Vergeltung.
Mebaschar reicht mir zum Abschied die Hand. „Wir sind es gewohnt“, sagt er, „die Hand auszustrecken.“ Für ein paar Stunden habe ich fast vergessen, dass ich im Nahen Osten bin.
„Wir sind halt irgendwie anders“, meint der Geheimdienstmann mit den philosophischen Werken im Regal. „Anders als die Araber – aber auch anders als ihr im Westen.“
ERBIL
„In Bagdad haben sie Mauern errichtet“, sagt Massud Abdul Khalek, Chef der Wochenzeitung „Standard“ und einer der bekanntesten kurdischen Intellektuellen. „So groß ist inzwischen der Hass zwischen Sunniten und Schiiten. Wie soll da jemals noch ein einheitlicher Staat funktionieren? Ihr Deutschen habt doch selber einmal eine Mauer gehabt. Ihr wisst, was das bedeutet.“
In Kurdistan leben eine Menge arabischer Sunniten und Schiiten. Sie machen Geschäfte miteinander und leben friedlich nebeneinander – in einem Ambiente, das von Kurden geprägt ist. Aber außerhalb Kurdistans gehen sie einander an die Gurgel – in einem Ambiente, das von ihnen selber geprägt ist. Allein 2014, so UN-Angaben, kamen im Irak 12.282 Menschen durch Anschläge und gewalttätige Auseinandersetzungen ums Leben – durchschnittlich 34 pro Tag.
Massud drückt diesen Unterschied so aus: „Sie bekämpfen sich im Schatten von Dattelbäumen – aber nicht im Schatten von Nussbäumen.“
KAPITEL 3
HALABDSCHA
„Wir hatten keine Ahnung, was das war“
Wie ein Kurde das Giftgas-Massaker überlebte
„Wir saßen bei unseren Nachbarn im Keller“, erzählt Omed Raschid. „Seit Tagen schon kreisten Flugzeuge über der Stadt, und wir hörten, wie Bomben einschlugen.“ Peschmerga hatten die irakischen Truppen aus Halabdscha vertrieben, nun kam der Gegenangriff aus der Luft. „Eigentlich fühlten wir uns halbwegs sicher in unserem kleinen Bunker. Aber dann fehlte es auf einmal an frischer Luft. Es begann nach Äpfeln und Knoblauch zu riechen. Wir hatten keine Ahnung, was das war.“
Es war der 16. März 1988. Ein Tag, der wie kein anderer in die Geschichte menschlicher Gräueltaten einging. Nichts hat die Welt in jenem Jahr mehr geschockt als die Bilder von krepierten Kurden, die auf Gehsteigen lagen wie weggeworfene Spielpuppen, und das Foto eines leblosen Mannes, der ein kleines, ebenso lebloses Kind noch schützend in den Armen hielt – ein verzweifelter, aussichtsloser Versuch, den unsichtbaren, unheimlichen Tod fernzuhalten.
Ein Museum kann das Massaker lediglich dokumentieren, so wie es die Gedenkstätte in Halabdscha tut. Eine Stunde lang bin ich durch die Hallen des Grauens gelaufen und hatte alle Bilder wieder vor Augen, die sich vor mehr als 25 Jahren tief ins Gedächtnis eingegraben hatten. Doch auch die beste Ausstellung hinterlässt nicht so viel Wirkung wie die Worte eines einzelnen Menschen, der das Inferno überlebt hat. Daher sitze ich nun mit Omed zusammen. Er wurde, seines Schicksals wegen, als Führer für Besucher ausgewählt. Die Geschichte, die er erzählt, dauert deutlich länger als ein Rundgang. Es ist eine der Geschichten, die ein kollektives Trauma der Kurden geschaffen haben.
„Die Mutter war mit uns Kindern allein“, berichtet Omed, der damals 14 war. „Mein Vater war im Krieg. Er musste als irakischer Soldat gegen die Truppen des Iran kämpfen.“ Ein weltlicher