Max Geier. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung widmete Hauptkommissar Neidhard Kardigglding ein ganzes Heft, und der Bayerische Rundfunk richtete dem verdienstvollen Staatsbeamten eine eigene Talkshow anstelle der »Münchner Runde« ein. Die Tatsache, dass es sich bei dem Verurteilten um einen blinden, contergangeschädigten, nur sechzig Kilogramm wiegenden Mann handelte, spielte sowohl bei der Urteilsfindung als auch im Verlauf der Berichterstattung eine eher untergeordnete Rolle.
TILO BALLIEN
Bei ihr ist noch Licht
Gerade ist sie wieder rein. Jetzt kann ich rauchen. Ich will noch etwas warten.
Ich habe viel Zeit. Meine Arbeitslosigkeit stört mich nicht, was diesen Aspekt betrifft. Ich habe gern viel Zeit. Zum Nachdenken. Ich denke viel nach, sehr viel. Ich kann stundenlang über irgendwas grübeln. Manchmal schreibe ich auf, was ich wichtig finde. Das vernichte ich meistens, wenn ich es später wieder lese. Aber ich vergesse nie, was ich einmal gedacht und aufgeschrieben habe. Deshalb kann ich es ruhig zerreißen, weil ich es im Kopf habe. Aber das muss niemand anders lesen. Erst recht das Tagebuch nicht.
Viel Zeit zu haben kann teuer sein. Ich komme hin mit meinem Geld. Ich gehe nicht in Cafés oder in Kneipen oder ins Kino. Bier zu Hause ist billiger. Und mehr Kino als die Glotze bieten die Filmpaläste auch nicht. Und die Videotheken sind doch echt billig. Ich weiß gar nicht, wie die überleben. Zu Hause habe ich jedenfalls keinen Popcorngestank in der Nase wie im Kino und muss nicht zusehen, wie Pärchen miteinander knutschen. Die kriegen vom Film oft gar nichts mit. Ich bin allein. Eigentlich immer. Beim Videogucken kann ich machen, was ich will. Ich ziehe die Vorhänge zu und bin ganz für mich.
Was ich sagen will: Ich hätte an diesem bestimmten Tag nie und nimmer überlegt, ob ich nicht trotz der damit verbundenen Kosten reingehen soll, wenn es plötzlich nicht wie verrückt angefangen hätte zu regnen. Der Himmel war aschgrau und die Atmosphäre schwer. Man fühlte sich wie unter einer umgedrehten alten Zinkbadewanne. Im Radio hatten sie zwar gesagt, die Sonne würde den ganzen Tag nicht scheinen, aber von Regen war keine Rede gewesen. Deshalb hatte ich den Schirm zu Hause gelassen. Pech. Oder auch nicht. Denn hätte ich einen Schirm gehabt, wäre ich ihr vermutlich nie begegnet. Das war also geradezu schicksalhaft. Irgendwie.
Natürlich hätte es auch jemand völlig anderes sein können als gerade sie. Daran habe ich schon manchmal gedacht. Sie verließ das Café, als ich mich unter dem Vordach unterstellen wollte, um mich vor dem Regen zu schützen oder, wie gesagt, vielleicht sogar reinzugehen. Sie warf einen ärgerlichen Blick zum Himmel. Ihre Augen waren groß und dunkel. Ich bin ihr nachgegangen, ganz spontan. Ich bin schon manchmal Leuten nachgegangen, einfach so. Mal gucken, was sie so machen. Aber die meisten machen nichts. Ich meine, nichts Besonderes oder Aufregendes. Die meisten gehen nach Hause oder verschwinden jedenfalls in irgendwelchen Häusern, und ab diesem Zeitpunkt sind sie einfach weg. Da kann man ewig warten. Sie bleiben, wo sie sind. Stinklangweilig. In die meisten Häuser kann man ja nicht reinsehen, wenigstens nicht in die oberen Stockwerke.
Sie rannte unter dem Regen hindurch in das Kaufhaus zwei Häuser weiter. Dort ist sie dann nur herumgeschlendert und hat sich Sachen angesehen. In der Abteilung für Damenwäsche ist sie lange geblieben. Da konnte ich sie nur aus sicherer Entfernung beobachten, damit keiner denkt: Was macht der Kerl da in der Dessous-Abteilung? Würde ja niemand glauben, wenn ich sagte: Ich guck mir was für meine Alte an. Ich fragte mich, ob sie solche Sachen trägt wie die, die sie sich anschaut, so ganz zarte Teile. Sie hat aber nichts gekauft. Ich dachte, wahrscheinlich hatte sie auch einfach keinen Schirm dabei und wollte nur den Regenguss abwarten.
Als der Regen vorüber war, ist sie vom Kaufhaus zur Bushaltestelle gegangen. Ich habe die Monatskarte vom Sozialamt, also bin ich mit in den Bus. Sie hat bezahlt, also fährt sie nicht regelmäßig, schloss ich daraus. Ich bin, glaube ich, ein ganz guter Beobachter. Ich habe mich ganz hinten in die letzte Bank gesetzt, damit ich sie immer im Blick hatte. Sie wirkte müde. Einmal hat ihr Handy geklingelt, nix Ausgefallenes wie melodisches Furzen oder irgendein Popsong, wie das jetzt viele lustig finden, einfach nur Klingeling. Sie hat nur ein wenig mürrisch aufs Display geschaut und ist nicht rangegangen. Das hat mich gefreut.
Ich schätze, dass sie so neunzehn, vielleicht zwanzig ist. Genau weiß ich das nicht, müsste aber hinkommen. Während der Fahrt hat sie aus dem Fenster oder vor sich hin geschaut und manchmal mit der Hand ihr Haar geprüft. Ob es schon trocken ist. Sie ist brünett. Brünett gefällt mir am besten. Vielleicht ist deshalb alles so gekommen, wie es jetzt ist. Ich dachte, ich setze mich direkt hinter sie. Bestimmt duftet ihr Haar gut, oder vielleicht berührt mich eine Strähne, wenn ich eine Hand wie zufällig und ein bisschen lässig auf die Vorderlehne lege. Aber das habe ich dann natürlich nicht gewagt. Ich bin nicht so einer.
Die Fahrt war lang. Sie stieg erst an der Endhaltestelle aus, draußen in der Waldheimsiedlung, wo die flachen Neubauten und viele Einfamilienhäuser stehen. Ich sah ihr unauffällig nach. Es war schon dämmerig. Der Regen hatte nachgelassen, es tröpfelte nur noch ein kleines bisschen, unentschlossen und lustlos. Ich drehte mir eine Zigarette, während sich die Leute entfernten. Als sie so fünfzig Meter weit gegangen war, folgte ich ihr.
Sie ging gut zweihundert Meter in die Siedlung hinein, bis zu den Häusern, die ganz am Rand des Wäldchens stehen, hinter dem der See beginnt. Sie betrat das Haus Krähenwinkel 32, eines dieser flachen Mietshäuser für vier Parteien, die nach hinten raus unten große Terrassen und oben Balkons über die ganze Hausfront haben. Kurz danach ging ein Licht im ersten Stock an. Wahrscheinlich die Küche. Alles andere blieb dunkel.
Ich ging auf die andere Straßenseite und zündete mir die Zigarette an. Ich holte meinen Stadtplan hervor. Ich habe immer einen Stadtplan bei mir, man weiß ja nie, wohin einen der Tag führt. Ich tat, als suchte ich etwas auf dem Plan. Tat ich ja auch wirklich. Wann ist man schon mal hier draußen? Ich musste mich erst ein wenig orientieren. Dann ging ich zur nächsten Ecke, wo der Krähenwinkel schon fast an den See stößt und der Fischerweg links abbiegt.
Rechts beginnt der Wald. Da ist nur so eine Art Trampelpfad, den wahrscheinlich Kinder beim Spielen ausgetreten haben. Ich folgte ihm, schlug mich dann rechts in die Büsche, stieg den kleinen Abhang hoch und war bald auf der Rückseite vom Krähenwinkel 32. Ich hatte die Häuser genau abgezählt. Die Ecke ist die 38. Bei ihr war alles dunkel. Ich rauchte meine Zigarette zu Ende, ohne den Blick von ihren Fenstern zu nehmen, ein normal großes, und zum Balkon hin ein breites mit der Balkontür daneben. Alles ohne Gardinen.
Ich wartete. Geduld ist eine meiner Stärken. Ich habe Zeit. Irgendwann ging das Licht an. Sie trug jetzt keinen Mantel mehr, nur Rock und Pullover. Ich sah, dass sie schlank war, nicht zu sehr, aber auch nicht pummelig. Viele Möbel konnte ich nicht erkennen, obwohl ich gute Sicht hatte. Das lag am Blickwinkel leicht von schräg unten. Der Balkon stört nicht groß, weil er nur ein dünnes Gitter hat. Trotzdem schade, dass der Hügel nicht höher ist, auf dem ich stehe. Wahrscheinlich hat man ihn nur als Lärmschutz angelegt wegen der Autobahn, die auf der anderen Seite nicht weit entfernt verläuft. Hier sind nur Büsche, nichts zum Raufklettern. Also kommt man nicht höher.
Ich erkannte ein Regal mit vielen Büchern und einem blauen Plüschtier, eines von diesen billigen Viechern, die man auf dem Rummel an der Losbude bekommt, wenn man Pech hat, oder wenn man mit drei Würfen alle Büchsen vom Brett schmeißt. Bestimmt hat sie das mal geschenkt bekommen und traut sich nicht, es wegzuschmeißen, falls der mal kommt, der ihr das geschenkt hat und fragt, wo sie es denn hat.
Sie legte ihre Handtasche ab, vermutlich auf einen Sessel oder so was. Sie stellte den CD-Player an, der im Regal zwischen den Büchern steht. Aber hören konnte ich natürlich nichts. Ich drehte mir eine neue Zigarette, aber ich wurde damit nicht fertig, weil etwas geschah, worauf man immer hofft, was aber ganz selten eintritt.
Sie zog ihren Pullover aus. Sie hatte sehr helle Haut. Ich wünschte, sie hätte länger so gestanden, den Pulli in der einen Hand und mit der anderen sich durch das Haar fahrend. Das Haar wurde dadurch nicht ordentlicher, eher wilder. Das sah gut aus. Ich dachte einen Moment lang, das macht sie für mich, aber das ist natürlich Quatsch. Sie wusste ja gar nichts von mir. Sie schien etwas zu überlegen und sich nicht schlüssig zu werden.
Dann