Ingrid Noll

Neues vom Tatort Tegel


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wild und ausgelassen, dass die Haare fliegen und sie ihre Bluse durchschwitzt, nicht nur so ganz verhalten wie am 21. September vorm Spiegel, obwohl das auch ganz irre war, so anmutig, so in sich versunken. Also, sie mal richtig wild zu sehen, das wäre schon was, aber ich kann da nicht reingehen, nicht nur wegen dem Eintritt, sondern weil es mich verrückt machen würde, wenn sie da mit anderen Kerlen tanzt und die mit ihr flirten und so.

      Weil manchmal bringt sie in ihrem grünen Fiesta einen Kerl aus dem »Downstairs« mit nach Hause. Ich habe dann längst Posten bezogen, obwohl man nie weiß, wie lange man warten muss. Meistens ist der letzte Bus dann schon weg, und ich muss mit dem ersten am Morgen fahren, aber ich warte trotzdem immer. Ich bin treu. Sie hat noch nie zweimal denselben mitgebracht. Sie ist keinem treu. Ich meine, das ist doch leichtsinnig. Sogar gefährlich. Aber für mich lässt das andererseits alles offen, oder? Denn wenn sie einen festen Freund hätte, so eine richtig gute Beziehung, das wäre auch schlecht. Ich meine, für mich. Dann könnte ich mir gar nichts mehr ausrechnen, oder?

      Sie zieht die Vorhänge zu, wenn sie einen dabeihat. Das tut sie sonst nie. Ich bin dann sehr eifersüchtig. Richtig unglücklich. Und gleichzeitig macht mich der Gedanke ganz geil, dass die beiden da oben hinter den Vorhängen sind und was sie so machen miteinander. Das Licht macht sie in solchen Nächten sofort aus, so als wollte sie den Kerl gar nicht sehen, den sie dahat. Ich meine, klar, Kerstin ist von Natur aus sexy, sie braucht das ab und an, wer nicht? Und von mir weiß sie ja nichts. Da kann ich ihr echt keinen Vorwurf machen, aber verrückt macht es mich trotzdem, wo ich doch der Kerl sein könnte, wenn sie was von mir wüsste. Aber dann müsste das Licht an bleiben. Ich will sie immer sehen. Ich liebe sie. Das Gefühl verzehrt mich. Ich liebe sie sehr. Sie ist … entzückend. Sie ist … einfach Wahnsinn.

      Das mit dem Klauen hat sich übrigens nicht wiederholt. Vielleicht war das im September Anfängerglück, jedenfalls keine Routine durch Gewohnheit. Kerstin sieht wenig fern. Sie liest viel, so richtig dicke Schinken wie Ken Follett und so oder Bücher über gesunde Ernährung und Fitness. Ihr Fiesta ist alt und oft zur Reparatur. Dann fahren wir zusammen im Bus. Einmal hätte ich sie beinahe angesprochen. Aber sie hat so an mir vorbeigeguckt. Als ob ich unsichtbar wäre. Es ging einfach nicht, selbst wenn sie geguckt hätte. Was hätte ich schon sagen sollen? Hallo, Kerstin, du kennst mich nicht, aber ich kenne dich besser als deine Mutter, denn ich beobachte dich seit einem Dreivierteljahr? Aber selbst wenn mir was eingefallen wäre: Sie hat mich einfach nicht gesehen.

      Manchmal denke ich wirklich, mich sieht sowieso keiner. Also mache ich ihr auch keinen Vorwurf. Das ist schon seit meiner Kindheit so, im Kindergarten, in der Schule, auch zu Hause. Mutter vor allem, die konnte alles und jeden ignorieren, wenn sie wollte. Hat einfach auf stur geschaltet und Löcher in die Luft geguckt. Selbst wenn man ihr fast ins Gesicht gekrochen ist wegen einem Lutscher oder später, ob man abends noch länger weg darf. Und Vater hat sich ihr angepasst, der arme Kerl. Ihm war alles egal, was nicht mit Sport zu tun hatte. Später hat er sich totgesoffen. Schön ist das sicher nicht, wenn man immer übersehen wird, das muss ich schon sagen, aber man kann’s überleben, ohne Schaden zu nehmen. Das sieht man ja an mir. Andererseits kein schlechter Gedanke, unsichtbar sein zu können, wenn man’s braucht. Was man dann für Möglichkeiten hätte! Aber das ist natürlich nur so eine Fantasie.

      Zum Rauchen geht Kerstin auf den Balkon. Sie raucht wenig. Zwei, vielleicht drei an einem Abend. Am Sonntagmorgen auch mal gleich nach dem Frühstück und noch vor dem Duschen. Das sind Glücksmomente für mich. Oft, so wie eben gerade, ist sie dann nur im Bademantel, so einem dünnen weißen aus Plüsch, der nur bis kurz übers Knie reicht. Ich denke immer, drunter hat sie nichts an. Das zu denken macht mich unheimlich an. Ich meine, vielleicht hat sie doch etwas an unterm Bademantel, aber das ist nicht so wichtig. Wichtig ist, dass ich denke, sie hat vielleicht nichts an. Das sind so meine Lieblingsstellen im Tagebuch.

      Gerade ist sie wieder rein. Wie immer, wenn es einigermaßen warm ist, lässt sie die Tür einen Spalt offen. Jetzt kann ich rauchen. Die Zigarette in der hohlen Hand, dass man die Glut nicht sieht in der Dämmerung. Einundzwanzig Uhr dreißig. Es wird bald ganz dunkel sein. Sie haut sich jetzt mit ihrem Schmöker in den Sessel, trinkt vielleicht einen Schluck Weißwein dazu. Ich sehe dann stundenlang nur ihren Haarschopf und manchmal eine wippende Fußspitze. Ich denke, dann ist sie in einer ganz anderen Welt, ganz weit weg. So wie ich in meiner ganz eigenen Welt bin, wenn ich in meinen Gedanken unser Tagebuch durchgehe und umschreibe.

      Aber das ist etwas für meine einsamen Stunden, das will ich jetzt nicht tun. Unten machen sie spätestens um zehn das Licht aus, die alten Mertens gehen immer früh zu Bett. Vielleicht schaffe ich es heute, auf Kerstins Balkon zu klettern. Das hatte ich schon ein paarmal vor, habe mich aber nie wirklich getraut. Aber heute will ich. Dann werde ich ihr doch viel näher sein. Und ich denke, sie will das auch. Alle wollen jemanden, der ihnen nahe ist, nicht nur mal für eine Nacht, sondern für lange. Für immer. Aber wenigstens ab und an. Deswegen geht sie doch in die Disco, oder? Diese Scheißkerle! Wenn da auch nur ein Guter drunter gewesen wäre, wäre Kerstin schließlich auch nicht mehr allein. Ich bin ihr treu. Nur weiß sie nix davon.

      Ich denke, heute kann ich es schaffen raufzuklettern. Ich muss mich nur zusammenreißen. Einmal muss es ja doch sein. Das Regenrohr ist fest, das habe ich getestet. Ich meine, ich will sie nicht erschrecken, ich doch nicht. Ich liebe sie doch. Ich werde warten, bis sie im Bett ist und das Licht ausgemacht hat. Dann noch eine halbe Stunde, um sicher zu sein, dass sie schläft. Ich will doch nur erst einmal gucken. Ich will ihr nichts tun. Ich will sie nur sehen, wie sie da in ihrem Bett liegt. Vielleicht kann ich mal ihre Wäsche in die Hand nehmen, sie riechen und befühlen. Mehr will ich doch gar nicht.

      Und wenn sie wach wird? Und wenn sie schreit? Weil sie sich erschreckt, obwohl ich sie doch liebe und nicht erschrecken will? O Scheiße! Warum ist das Leben so kompliziert? Ich will nichts Böses, aber die Leute würden bestimmt sonst was denken. Ich meine, was gehen mich die Leute an? Trotzdem, ich muss ganz vorsichtig sein, ihretwegen, aber auch meinetwegen.

      O Kerstin! So lange habe ich schon gewartet. Ich kann nicht mehr warten. Sonst geht etwas kaputt in mir, das weiß ich. Also werde ich nicht mehr warten. Nur noch, bis du fertig bist mit Lesen. Und dann noch eine halbe Stunde.

      MECHTILD BORRMANN

      Brief an einen Sohn

      Bielefeld am 22. August 2006

      Christian,

      schon die Anrede fällt mir schwer. Zwei Briefbögen habe ich bereits in den Papierkorb geworfen. Auf dem ersten hatte ich ganz selbstverständlich »Lieber Christian« geschrieben. Dann erschien mir dieses »Lieber« unangemessen. Auf dem zweiten Bogen stand »Geliebter Sohn«. Das fühlte sich besser an, denn es sagte nichts über dich aus, sondern nur über meine Liebe zu dir. Aber auch dieses Blatt habe ich zerrissen. Nicht, dass ich dich nicht mehr liebe, aber kaum dass ich es niedergeschrieben hatte, spürte ich deine Zurückweisung.

      Du bist mir fremd geworden. Ich weiß, dass es dich schmerzt, wenn du diese Zeilen liest, aber mich trifft dieses Eingeständnis nicht weniger. Auch hier die Hürde der falsch gewählten Worte. Diese Vorsicht, mit der ich Begriffe austausche, an den Sätzen feile, um Missverständnisse zu umgehen. In Wahrheit weiß ich gar nicht, ob es dich schmerzt. Aber kann ich schreiben: Ich hoffe, dass es dich schmerzt? Ich wünsche mir, dass es dich schmerzt.

      Ich sehe dich zustimmend nicken. Das würde deine Sicht unserer gemeinsamen Geschichte untermauern. Du würdest darin nicht meinen Wunsch sehen, dass ich dir gerne etwas bedeuten würde. Du würdest herauslesen, dass ich dir Schmerz wünsche. Unsere Gespräche sind, seit du fünfzehn warst, an den Formulierungen gescheitert. Damals hatte ich den Eindruck, du suchtest danach. Du suchtest die Sätze nach ihren Schwachstellen ab, um sie zu zerbrechen.

      Dein Vater und ich sind immer der Meinung gewesen, dass elterliche Liebe, Bildung und ein intaktes soziales Umfeld einem Kind optimale Entwicklung garantieren. Heute bezweifle ich das!

      Oh, ich höre dich sagen, dass ich es mir mit dieser Überlegung leicht mache. Dass ich versuche, mich meiner Verantwortung zu entziehen. Aber das stimmt nicht. In dem Wort Verantwortung steckt das Wort Antwort. Ich suche eine Antwort auf die Frage: Habe ich einen Mörder geboren,