doch nur, dass du deinen Schulabschluss bekommst. Vielleicht hatten wir auch die Hoffnung, dass eine andere Umgebung etwas ändern würde.
Seit dem Vorfall mit Sebastian hatte sich dieses schleichende Gift ängstlicher Vorsicht in unserem Haus ausgebreitet. Gespräche mit dir waren unendlich anstrengend, endeten immer im Streit. Ich konnte nichts sagen oder tun, was dir genügt hätte.
Erinnerst du dich an den Abend, an dem ich dir sagte: »Aber ich liebe dich doch.« Du hast geantwortet: »Jaja. Nicht mal das kannst du ohne ein Aber sagen.«
Obwohl du jedes Wochenende zu Hause warst, vertiefte sich der Graben zwischen uns. Jedes Bemühen meinerseits, dir wieder näherzukommen, quittiertest du mit Schweigen und einem Blick, der zu sagen schien: Das reicht nicht!
Ich überwarf mich mit Sebastian, der sich – in meinem Bemühen um dich – verraten fühlte.
Ich höre, wie ich damals argumentierte: Aber er weiß, dass er zu weit gegangen ist. Er hat daraus gelernt. Er bereut es doch.
Dabei wusste ich es besser. Wenn ich jene Zeit an mir vorüberziehen lasse, spüre ich meine Zweifel in jedem meiner Sätze. Aber ich wollte es glauben. Du warst doch mein Sohn. Ich hatte dich doch, genau wie deinen Geschwistern, Mitgefühl gelehrt. Diese überlegte Boshaftigkeit konnte nicht Teil deiner Persönlichkeit sein.
Im Internat kamst du offensichtlich gut zurecht, und deine Besuche zu Hause wurden seltener.
Ich schäme mich, das zu schreiben, aber ich war froh. Dein Schweigen zermürbte mich. Unter deinen abfälligen Blicken wurde ich ungeschickt. Ich legte meine Sätze Wort für Wort zurecht, klopfte sie auf Missverständliches ab, bevor ich sie aussprach. Wenn du sonntags ins Internat zurückkehrtest, war ich erschöpft.
Nach deinem achtzehnten Geburtstag hatten wir nur noch Kontakt, wenn du Unterschriften oder Papiere für deine BAföG-Anträge brauchtest.
Erst im Gerichtssaal habe ich erfahren, wie sehr man dich im Internat gefürchtet hat. Auch dass du während deines Studiums zweimal wegen schwerer Körperverletzung verurteilt wurdest, erfuhr ich erst dort.
Oh, ich weiß, was du jetzt sagen wirst. Wenn ich mich für dich interessiert hätte, hätte ich davon gewusst. Ich gebe dir recht. Ich habe keine Fragen mehr gestellt. Ich wollte die Antworten nicht!
Lass uns unsere letzte Karte vergleichen.
Tanja.
Ich habe sie nie kennengelernt. Zwei Jahre wart ihr ein Paar. Deine Kommilitonen beschrieben dich als extrem eifersüchtig. Die Aussage einer Flurnachbarin hat mir den Atem verschlagen. Du hast Videofilme ausgeliehen – Kinderfilme! Und dann hast du von Tanja verlangt, sie solle bügeln und mit dir die Filme ansehen.
Du hast zu mir, während die junge Frau sprach, hinübergesehen. Ganz ruhig. Ganz freundlich. So als wären die Worte der Frau ein Geschenk an mich.
Mir war übel, Christian.
Du hast Tanja, sechs Monate nachdem sie dich verlassen hatte, mit einer Angelschnur erdrosselt. Kein Affekt, Christian. Nicht der plötzlich aufwallende Zorn deiner Kindertage. Du hast sie offensichtlich tagelang, die Angelschnur in der Manteltasche bereit, verfolgt. Dann, an einem Abend, an dem sie sich alleine von der Disco auf den Heimweg machte, erkanntest du deine Gelegenheit.
Nichts hatte sich verändert. Wie nach deinem Angriff auf Sebastian hast du auch im Gerichtssaal geschwiegen. Wie damals schien dein Blick zu sagen: Sie hat mir wehgetan. Es war ihre Schuld!
Ich weine, Christian. Du wirst die nächsten acht Jahre im Gefängnis sitzen, und ich weine vor Erleichterung.
Die Welt wird in dieser Zeit sicher sein vor dir.
Du bist mein Sohn, und ich liebe dich. Ohne Aber.
Ich wünsche mir, sie würden dich bis an dein Lebensende einsperren. Und auch das ohne Aber.
HORST BOSETZKY
Das Theatermesser
Es war ein guter alter Brauch, mich für die Reinickendorfer Kriminacht ein kleines Theaterstück schreiben zu lassen – besser einen Krimi-Sketch von maximal 25 Minuten Länge – und es mit befreundeten Schauspielerinnen und Schauspielern einzuüben und auf die Bühne zu bringen. Dies vor allem, um der Ermüdung der bis zu 750 Gäste vorzubeugen, die zu befürchten war, wenn fünf Kolleginnen und Kollegen nacheinander, nur ab und an von einer Band und einem Moderator unterbrochen, ihre Texte vorlasen. »Horst, du machst dich dadurch nur zum Horst!«, hörte ich manche warnende Stimme, da ich auch immer selbst mitspielen wollte. Aber an die zwanzig Jahre habe ich die Sache durchgezogen. Bis dann … Aber der Reihe nach.
Alles redete immer von »Crime and Sex«, und da Letzterer bei der Reinickendorfer Kriminacht stets zu kurz gekommen war, hatte ich mir für dieses Jahr etwas ganz Besonderes ausgedacht. Mein Stück sollte mit einer Szene im Bett beginnen, wobei aber die weibliche Hauptfigur nicht von ihrem Gatten begattet wurde, sondern von ihrem Lover. Die Dame hatte, das muss hier angemerkt werden, damit keine Verwirrung entsteht, ihren Mädchennamen nach der Eheschließung behalten.
Ein Bett auf der schmalen Bühne der Humboldt-Bibliothek – war das machbar? Und woher bekamen wir ein Bett? Ich schickte eine E-Mail an den Mann, der seit Jahrzehnten alles immer so trefflich managt, und einen Tag später rief Helge Schätzel mich an: »Klar, als Sie zweimal einen Sarg gebraucht haben, ging das ja auch. Ebenso wie mit einer Schaufensterpuppe als Requisit. Die hat damals C&A spendiert, und vielleicht findet sich diesmal auch eine Firma, die uns hilft.« Wenig später war die Sache geklärt, und ich konnte mich ans Schreiben meines Stücks »Auf offener Bühne« machen.
Jannek Schloppe und Lexa Krojanke liegen auf dem Bett, beginnen mit dem Vorspiel und reißen sich bis auf die Unterwäsche alle Kleidung vom Leib. Lexa stöhnt filmreif.
Schloppe hält mit dem Entkleiden inne: »Woher, Lexa, soll ich wissen, dass das alles echt bei dir ist – und du mir nicht nur zeigen willst, was für eine tolle Schauspielerin du bist?«
Lexa: »Das Gleiche gilt für dich, lieber Jannek. Dazu kommt, dass du auch noch selber Drehbücher schreiben willst. Und woher soll ich wissen, dass du die ganze Show mit mir nicht nur abziehst, um eine schöne Szene zu haben?«
Schloppe (richtig theatralisch): »Deine Liebe ist mir wie der Morgen- und der Abendstern. Deine Gegenwart hat auf mein Herz eine wunderbare Wirkung, ich kann nicht sagen, wie mir ist!«
Lexa (lacht abwertend): »Das ist nicht einmal echt, das ist aus Goethes Briefen an die Frau von Stein!«
Schloppe (in Ekstase): »Ich will dir gleich mal zeigen, was an mir echt ist.« (Wirft sich auf sie)
In diesem Augenblick erscheint Fabio Sullenschin auf der Bühne. Sullenschin: »Jetzt habe ich euch Schweine endlich einmal in flagranti ertappt! Das sollt ihr mir beide büßen!« (Reißt ein dolchähnliches Messer aus der Tasche, ein »Theatermesser«)
Schloppe (springt auf): »Fabio, verschone sie – nimm mich!«
Während Lexa schrecklich schreit, sticht Sullenschin Schloppe nieder und will fliehen. Ich schnelle aber vom Autorentisch hoch, springe auf die Bühne und stelle mich Schloppe in den Weg.
Ich: »Halt! Sie laufen mir nicht feige davon, sondern bekennen sich zu Ihrer Tat und stellen sich der Polizei!«
Schloppe (packt mich und setzt mir sein Messer an die Kehle): »Mit Ihnen als Geisel muss ich überhaupt nichts.«
Das war der erste Teil meines Stücks, und nun kommt noch ein Psychologe ins Spiel, bis mich Lexa rettet. Nach rund zwanzig Minuten ist dann alles vorüber.
Wir zogen zweimal am frühen Abend ins Theaterhaus Mitte in der Wallstraße 32, um dort in einem preiswert zu mietenden Raum zu proben. Ich musste mich auch als Regisseur versuchen, was mir aber schwerfallen sollte, da ich zu gerne nach der