Ingrid Noll

Neues vom Tatort Tegel


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bieten zu können.

      Um aber ganz auf der sicheren Seite zu sein, trafen wir uns noch drei Stunden vor Beginn der Veranstaltung, der üblicherweise auf 19.30 Uhr angesetzt war, in der Humboldt-Bibliothek, um auf der richtigen Bühne zu proben. Das musste sein, denn die war mit ihren knappen Abmessungen doch etwas ganz anderes als das leer geräumte ehemalige Klassenzimmer im Theaterhaus Mitte. Außerdem bekamen wir vom auch schon vorab nach Tegel geeilten Tonmeister unsere kabellosen Headset-Mikrofone angepasst. Alles verlief zu unserer vollsten Zufriedenheit, und wir konnten, bevor alles losging, noch hinüber in die Fußgängerzone Alt-Tegel gehen, um Kaffee zu trinken und uns mit einem Stück Käsekuchen zu stärken. Meine Schauspieler waren auch privat befreundet beziehungsweise gehörten denselben Netzwerken an, sodass die Stimmung glänzend war. So schien es mir jedenfalls.

      Gegen 19 Uhr schlenderten wir zur Humboldt-Bibliothek zurück. Ich zeigte meinen Leuten die mittlerweile bebaute Insel im Tegeler Hafen. »Da hat die Reinickendorfer Kriminacht in den ersten Jahren immer stattgefunden, im Sommer natürlich. Das war herrlich, und da sind wir auch auf die Rekordzahl von 750 Besuchern gekommen. Als es dann aber einmal kräftig gewittert hat und wir in die Humboldt-Bibliothek umziehen mussten, hat das so viel Mehrkosten verursacht, dass man beschlossen hat, gleich ins Trockene zu gehen – das aber nicht im Sommer, sondern im November.«

      Am Eingang hatte sich schon eine kleine Schlange gebildet, und brav stellten wir uns an, obwohl wir ja zu den Akteuren des Abends gehörten. Dann war ich an der Reihe, nannte meinen Namen und wurde mit meinem Ensemble zusammen durchgewunken. Kurz nachdem wir eingetreten waren, begrüßte uns Helge Schätzel und hieß uns willkommen. Ich hatte noch etliche Hände zu schütteln, so die meines verehrten Verlegers Dr. Norbert Jaron. Wir gingen nun an Büchertisch und Catering-Büfett vorbei durch die Halle in Richtung des langen Tisches, der links neben der Bühne stand und an dem die Kolleginnen und Kollegen Platz nehmen konnten, die an diesem Abend lesen sollten beziehungsweise den »Krimifuchs« in Empfang nehmen durften, den Preis für den besten Kriminalroman mit Berlin-Bezug, der im letzten Jahr erschienen war, für ein Drehbuch für einen TV-Krimi oder einen Auftritt als Kriminalkommissar oder -kommissarin. Da für meine Schauspieltruppe an diesem Tisch nicht genügend Platz war, zog man sich in den weiten, mit Buchregalen bestückten und jetzt abgedunkelten Raum hinter der Bühne zurück. Dies auch, um sich zu sammeln und den Text noch einmal durchzugehen.

      Pünktlich um 19.30 Uhr, als auch der letzte der 350 Stühle besetzt war, begann das kleine Swing-Orchester zu spielen, und es kam Stimmung auf. Wir waren mit meinem Sketch als krönender Abschluss der ersten Halbzeit eingeplant, sollten also erst nach drei kurzen Lesungen auf die Bühne kommen. Nachdem sie zwei Stücke gespielt hatten, räumten die Musiker die Bühne, und der Moderator, Uwe Madel vom rbb, erschien auf ihr, ein Mikrofon in der Hand, um alle zu begrüßen. Er tat das so professionell, aber gleichzeitig so herzerfrischend, dass das der ganzen Veranstaltung viele Pluspunkte einbrachte. Dann stellte er den Kollegen A vor, und der las und las. Es folgte die Kollegin B, und die las und las. Beide hatten keine Kurzgeschichten mitgebracht, sondern trugen verschiedene Passagen aus ihren neuesten Romanen vor, was immer wieder langatmige Erklärungen notwendig machte. Dann kam der Kollege C, und auch der las und las. Ich hatte mich inzwischen zu meiner Schauspieltruppe gesellt, und wir konnten es alle vor Ungeduld kaum noch aushalten. Als C am Ende war, wurde noch einmal musiziert, dann endlich wurden wir auf die Bühne gerufen.

      »Und nun der Running Gag jeder Reinickendorfer Kriminacht: der Sketch mit und von Horst Bosetzky, den Älteren bekannt als -ky. Er hat eine Schauspielerin und einen Schauspieler mitgebracht, die Sie von der Bühne und dem Bildschirm her kennen: Lexa Krojanke und Jannek Schloppe. Die beiden legen sich hinter uns ins Bett und beginnen mit ihrem Liebesspiel, während ich noch kurz mit Horst Bosetzky plaudere.«

      So geschah es dann auch, und Uwe Madel befragte mich nach meinem körperlichen Zustand und meinen neuesten Romanen, bis Lexa Krojanke und Jannek Schloppe mit ihrem Dialog begannen.

       Schloppe (hält mit dem Entkleiden inne): »Woher, Lexa, soll ich wissen, dass das alles echt bei dir ist – und du mir nicht nur zeigen willst, was für eine tolle Schauspielerin du bist?«

       Lexa: »Das Gleiche gilt für dich, lieber Jannek. Dazu kommt, dass du auch noch selber Drehbücher schreiben willst. Und woher soll ich wissen, dass du die ganze Show mit mir nicht nur abziehst, um eine schöne Szene zu haben?«

      Alles lief nun nach Plan, keiner hatte einen Hänger oder versprach sich, bis Fabio Sullenschin von hinten auf die Bühne gestürzt kam, wo ein schwarzer Vorhang eine Treppe zur Galerie verbarg.

      Sofort schrie er entrüstet: »Jetzt habe ich euch Schweine endlich einmal in flagranti ertappt! Das sollt ihr mir beide büßen!«

      Wie x-mal geprobt, riss er nun sein Messer hervor, um es Jannek Schloppe in die Brust zu jagen. Doch …

      Ich kann minutenlang nicht weiterschreiben, weil der Anblick zu schrecklich war, der sich mir, der ich dicht daneben stand, nun darbot.

      Eine echte Klinge war dem armen Schloppe direkt ins Herz gefahren, und das Blut schoss in einer Fontäne heraus. Lexa schrie fürchterlich, während Sullenschin und ich dastanden, als hätte ein Regisseur »Freeze!« gerufen.

      Im Publikum klatschte man zuerst, weil man an eine schauspielerische Glanzleistung aller Akteure glaubte, dann merkten die in den ersten Reihen, dass hier wirklich ein Mensch erstochen worden war.

      Ich schrie nun: »Einen Notarzt! Die Polizei!«, während andere schon ihr Handy herausgerissen hatten und 112 wählten.

      Mehrere anwesende Journalisten riefen ihre Redaktionen an. Die Schlagzeile: Tegeler Kriminacht – echter Mord auf offener Bühne.

      *

      Den Mordfall Schloppe wurde einem Kommissar übertragen, der zwar noch jung an Jahren war, aber einer alteingesessenen Berliner Familie entstammte, die schon viele Kriminalbeamte hervorgebracht hatte: Peer Kappe. Seine Kollegin Mia Maximilian hatte dagegen in ihrem Stammbaum nur Arbeiter aus dem Lausitzer Braunkohletagebau und Verkäuferinnen von HO und Edeka aufzubieten.

      Am Montagvormittag kam Peer Kappe bei der allgemeinen Lagebesprechung schnell zum Kern des Ganzen.

      »Irgendwer hat, aus welchen Motiven auch immer, das Theatermesser der Truppe um Horst Bosetzky gegen ein echtes Messer ausgetauscht. Zu eurer Information: Ein Theatermesser hat einen massiven Holzgriff und eine stumpfe Klinge aus Metall, welche im Griff verschwindet und mittels einer Feder wieder aus dem Griff herausgedrückt wird. Es sieht einem Dolch sehr ähnlich – und gegen einen echten Dolch ist es auch ausgetauscht worden. Der Schauspieler Fabio Sullenschin, der den tödlichen Stich ausgeführt hat, Horst Bosetzky, der Stückeschreiber und Regisseur, und alle anderen geben an, nichts vom Austausch der Messer bemerkt zu haben. Im Halbdunkel des Raums hinter der Bühne kann vieles geschehen sein.«

      »Jeder der über dreihundert Besucher der Kriminacht könnte es also gewesen sein?«, kam eine Frage aus den hinteren Reihen. »Habt ihr denn die Personalien aller Anwesenden feststellen können?«

      »Nein, der Ruf ›Niemand verlässt den Saal!‹ kam erst, als viele die Humboldt-Bibliothek bereits in Panik verlassen hatten.«

      »Na, wunderbar!«

      »Dann müsst ihr, Kollegin Maximilian, Kollege Kappe, alles routinemäßig angehen, alle abklopfen, die Schloppe persönlich gekannt haben und ein Motiv gehabt haben könnten. Und hört euch um, ob unter den Besuchern oder den Schauspielern ein Psychopath gewesen sein könnte!«

      Zurück in ihrem Büro, überlegten sich Peer Kappe, Mia Maximilian und die Kolleginnen und Kollegen ihrer Mordkommission ihre nächsten Schritte und notierten sie mit einem blauen Filzer an ihre Tafel:

       1. Alle Geschäfte abklappern und im Internet nachforschen, wo es Messer gibt, die einem Theatermesser täuschend ähnlich sehen. Herausfinden, ob jemand eines gekauft hat, der bei der Kriminacht war.

       2. Nach dem verschwundenen Theatermesser suchen.

       3. Mit Bosetzky sprechen.

       4. Mit Lexa Krojanke