Manfred Eisner

Raue Februarwinde über den Elbmarschen


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Timm zuckt mit den Schultern. »Der ist nicht da. POM Seifert und PM Klages wurden heute früh erneut zum Tatort gerufen, weil die Itzehoer KTU dort nach weiteren Spuren sucht.«

      Nili ergänzt: »Ach ja, wegen des heftigen Schneefalls konnte die Spusi gestern dort nichts Wesentliches finden. Ich bezweifle allerdings, dass es ihnen heute bei diesem Regen besser gelingen wird.«

      »Hast recht, Nili, es ist wirklich ein Schietwetter!«, kann Boie Hansen gerade noch von sich geben, als ihn auch schon eine heftige Niessalve überkommt. Die beiden Damen gehen schleunigst auf sicheren Abstand.

      »Gesundheit! Ich sag doch, Sie gehören ins Bett, Chef!« Helga Timm zückt eine Packung Taschentücher und hält sie Boie Hansen hin.

      »Papperlapapp! Ist doch nur ’n Schnupfen, wat shall dat!«, kontert Hansen mürrisch und zieht ein Taschentuch aus der Packung. »Zeig mir doch mal die Vermisstenanzeige von eben, Helga!« Als er diese über den Schreibtisch entgegennimmt und mit ihr den Anmeldezettel des Gasthofes »Zur Lindenschenke«, schnäuzt er sich zunächst und überfliegt dann das Geschriebene. »Schau doch mal im Computer nach, ob du etwas über diesen Werner Reimers findest. Gemäß Anmeldezettel ist er Mechatroniker, gebürtig am 22.10.1980 in 23554 Lübeck, dort wohnhaft in der Kurauer Straße 7.«

      Nili spitzt die Ohren, als sie dessen Vornamen hört. Womöglich handelt es sich um KOK Köppen, der unter dem Decknamen »Werner Reimers« agiert hat. Auf ihre beiläufige Nachfrage erfährt sie von dem gerade erfolgten Besuch des Gastwirtes Petermann und dessen Meldung über das Verschwinden seines Gastes.

      »Ich hatte Herrn Petermann gesagt, dass jemand von unserer Dienststelle vorbeikommen wird, um das Zimmer des Herrn Reimers zu inspizieren und ein Protokoll aufzunehmen. Aber jetzt sind ja die beiden Kollegen draußen. Was soll ich also tun?«

      Geschäftig macht sich Helga an ihrem PC zu schaffen. »Hm, Werner Reimers gibt es einige in Lübeck: einen Zahnarzt, einen Malermeister, einen emeritierten Professor Doktor. Aber keinen Mechatroniker, und schon gar nicht unter der angegebenen Anschrift – also Fehlanzeige!« Ihr Gesichtsausdruck verrät Enttäuschung.

      Nili überlegt. »Ist doch alles ziemlich seltsam, meint ihr nicht auch? Wenn du nichts dagegen hast, Boie, könnte ich ja mit der Kollegin Timm zum Gasthof fahren. Was hältst du davon?«

      Boie Hansen nickt. »Eine gute Idee. Wie du siehst, sind wir für den Fall, dass zwei Einsätze gleichzeitig zu geschehen haben, vollkommen unterbesetzt. Ich bleibe so lange hier und halte die Stallwache, bis ihr zurückkommt. Dann gehe ich allerdings gern wieder zurück ins Bett!«

      PMA Timm und Nili steigen aus deren Cross Polo und begeben sich in die nur schwach beleuchtete Gaststube. Das Gasthaus »Zur Lindenschenke« empfängt sie mit der so typischen schummrigen Dorfkneipenatmosphäre und einem schalen Geruchsverschnitt aus kaltem Rauch und abgestandenem Bier.

      »Hier müsste mal ordentlich gelüftet werden!«, entfährt es Helga Timm, bevor sie laut in den Raum hineinruft: »Hallo! Jemand zu Hause?«

      Sie vernehmen dumpfe Geräusche aus der Küche, dann betritt eine zierliche junge Frau die Gaststube. Hinter ihr wippt die Küchentür hin und her. Über ihrer legeren Kleidung trägt sie eine lange braune Schürze. Ihre Haare sind von einem hinter ihrem Kopf zusammengeknoteten Tuch bedeckt. »Tut mir leid, Küche öffnen erst um zwölf!«, verkündet sie, während sie ihre Hände an einem Handtuch abtrocknet.

      »Guten Morgen, wir sind von der Polizei«, begrüßt Helga Timm die Frau. »Ihr Arbeitgeber, der Herr Petermann, war heute bei uns auf der Dienststelle und hat uns erzählt, dass bei Ihnen ein Gast vermisst wird – ein gewisser Herr Reimers. Ich bin Polizeimeister-Anwärterin Timm, und dies ist meine Kollegin, Kriminalhauptkommissarin Nili Masal. Bestimmt sind Sie Frau Grazyna, von der uns Ihr Chef erzählt hat, nicht wahr?« Der ausländisch klingende Akzent der Frau ist Helga Timm nicht entgangen.

      »Ja, doch, ich bin Grazyna Król aus Opole, schon drei Jahre hier arbeiten bei Herrn Marius. Guter Chef!«, meint sie berichten zu müssen. »Und ja, der Herr Werner ist schon fast zwei Wochen weg! Sagt nicht Auf Wiedersehen, gegangen weg und kommen nicht mehr! Alle Kleider im Zimmer! Hat nix mitgenommen!«

      »Stimmt, Frau Król, das hat uns Ihr Chef genauso berichtet. Wir würden uns gern Herrn Reimers’ Zimmer ansehen. Geben Sie uns bitte den Schlüssel?«

      Die Frau nickt und geht hinter den Tresen. Einem an der Rückwand befestigten Brett entnimmt sie einen der sechs Schlüssel für die Gastzimmer.

      »War Herr Reimers Ihr einziger Gast?«, erkundigt sich Nili.

      »Ja, jetzt schon. Wenn die Arbeit an Windmühlen wieder anfängt, dann alle Zimmer sind besetzt von Monteuren. Ich zeige das Zimmer, ja? Es hat Nummer vier«, sagt Grazyna und geht voraus, ohne auf eine Antwort zu warten.

      Durch eine Tür am hinteren Ende der Gaststube gelangen sie auf einen Flur und steigen anschließend die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Werner Reimers’ Zimmer entpuppt sich als ein karg möblierter Raum mit einer vergilbt-geblümten Tapete sowie einer ziemlich schmuddeligen Gardine, die vor dem doppelflügeligen Fenster hängt. Die Einrichtung beschränkt sich auf ein altmodisches hölzernes Doppelbett, einen einfachen Tisch mit zwei wackeligen Stühlen, einen Wandschrank mit leicht blind gewordenen großen Spiegeln und eine Wäschekommode. An einer Wand befindet sich ein Waschbecken mit dem obligaten Alibert-Schränkchen darüber.

      »Danke, Frau Król, wir kommen jetzt allein zurecht«, lädt Helga Timm die Frau zum Gehen ein. Dann macht sie sich zusammen mit Nili an die Durchsuchung von Werner Reimers’ Hinterlassenschaft. Leider fällt ihnen dabei nichts Nützliches in die Hände. »Alles nur Krimskrams«, stellt Nili fest. »Überhaupt nichts, was uns über diesen Herrn nähere Auskunft geben könnte«, bemerkt sie listig, nachdem sie eine kleine Kassette unter dem Bett erspäht und diese mit dem Fuß weiter unter das Möbelstück geschubst hat. Helga Timm, die gerade eine Schublade der Wäschekommode durchsucht, bekommt davon nichts mit. »Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Helga?« Nili richtet sich wieder auf, während die Polizeimeister-Anwärterin sich zu ihr umdreht. »Hier ist offenbar nichts zu holen, meinen Sie nicht auch? Ich denke, wir sollten erst einmal zur Dienststelle zurückkehren, damit Boie schleunigst nach Hause kann. Sie übernehmen dort wieder den Dienst. Ich besorge mir ein paar Umzugskartons und komme noch einmal hierher, um alles auszuräumen. Anschließend bringe ich Ihnen die Sachen in die Dienststelle. Und sollte dieser Herr Reimers wieder auftauchen, kann er sich sein Hab und Gut bei Ihnen abholen. Was meinen Sie dazu?«

      Helga Timm überlegt kurz, dann nickt sie zustimmend.

      Nachdem sie das Zimmer verlassen haben, klebt die Polizeimeister-Anwärterin ein amtliches Polizeisiegel an die Tür, verschließt diese und überreicht Nili den Schlüssel.

      Nachdem Nili vier große Umzugskartons im OLBA-Baumarkt erstanden und sich anschließend am daneben gelegenen Imbiss an einem gegrillten Geflügel-Schaschlik gesättigt hat, fährt sie wieder zum Gasthof »Zur Lindenschenke«. Sie legt Frau Król den von Boie Hansen ausgestellten polizeilichen Berechtigungsschein zur Abholung und vorübergehenden Verwahrung von Werner Reimers’ Sachen vor und bittet die Frau um Hilfe beim Einpacken.

      »Was war denn Herr Reimers für ein Mensch?«, fragt Nili, während sie Wäsche aus der Kommode nimmt und diese in einen der Kartons legt.

      »Eigentlich sehr nett und höflich. Auch sehr sauber und ordentlich. Allerdings …« Frau Król, die gerade einen Pullover aus dem Kleiderschrank nimmt, stockt, wohl um sich die passenden Worte zurechtzulegen.

      Nili sieht sie an. »Allerdings was?«

      »Nun ja, er war schöner Mann, hat ab und zu hier Frau im Bett gehabt. Habe ich an Bettwäsche gemerkt, nächsten Morgen beim Aufräumen.«

      Nili horcht auf. »Das ist wohl normal für so einen jungen Menschen, nicht wahr? Haben Sie die Frau irgendwann gesehen?«

      »Nur einmal ganz kurz, von hinten, als sie gegangen.«

      »Können Sie mir sagen, wie sie aussah?«

      »Nein, nicht richtig. Nur ganz wenig, als sie durch die Hintertür hinaus.«