Manfred Eisner

Raue Februarwinde über den Elbmarschen


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meine heilige Sonntagsruhe derart zu stören?« Der Geschäftsführer der Genossenschaft ist offensichtlich über den Anruf wenig erfreut.

      »Tut mir leid, Herr Rademacher, dass ich Ihre Siesta unterbreche, aber ich muss Ihnen ein sehr bedauerliches Ereignis melden, das zudem keinen Aufschub erlaubt!« Schneider erzählt seinem Vorgesetzten von dem Vorfall, so wie dieser ihm soeben gemeldet worden war.

      Nachdem Alfred Rademacher seinem ersten Entsetzen lauthals Luft gemacht hat, beruhigt er sich und senkt seine Stimme. »Mensch, Schneider, das kommt ja wohl wirklich zum allerunglücklichsten Zeitpunkt. Keine Ahnung, um wen es sich bei dem Toten handeln könnte? Ich meine, hat er irgendetwas mit unserem Unternehmen, mit unseren Gegnern oder etwa mit unserem Projekt zu tun?«

      »Soweit unsere Mitarbeiter mir soeben berichteten, ist die Antwort eindeutig nein! Es scheint sich um eine uns völlig unbekannte Person zu handeln, jedenfalls hat keiner der dort ermittelnden Beamten irgendwie erkennen lassen, dass die Identität des Toten bekannt sei. Mir scheint, der Täter hat einfach nur nach einem günstigen, weil weitab gelegenen und kaum frequentierten Ort gesucht.«

      »Ihr Wort in Gottes Ohren, mein lieber Schneider! Fällt Ihnen irgendetwas ein, was wir eventuell tun sollten?«

      »Ich denke, zunächst am besten die Ruhe bewahren, sehr geehrter Herr Rademacher. Informieren Sie doch erst einmal die anderen Vorstandsmitglieder. Meiner Meinung nach sollten wir ›abwarten und Tee trinken‹, wie der alte, weise Friese sagt. In der augenblicklichen Situation können wir sowieso nichts anderes tun. Vielleicht lässt sich unsere PR-Dame vorsorglich einen passenden Text für die Verlautbarung an die Medien einfallen. Das könnte sich durchaus positiv für uns auswirken, sobald der Vorfall publik wird.«

       *

      »Hast du nun endlich deine Entscheidung getroffen, Schwiegervater? Die Bedenkzeit, die Regine und ich dir vor zwei Wochen gegeben haben, ist um. Wir müssen nun endlich erfahren, woran wir sind.«

      Norbert Bahlke fängt sich einen scheelen Blick des Altbauern Theo Thode ein. »Ick hef yum segt, ick lass mi nie nich de Pistol op de Bost setten!«, antwortet er stur.

      »Dann dait uns dat mannig leid, Vadder, dann schalt wi nun uttrecken!«, verkündet seine Tochter Regine mit von Tränen erstickter Stimme.

      Der Altbauer springt von seinem Stuhl auf, hinkt hinüber zu seiner Tochter und umarmt sie. »Woll du worhaftig dien ol’n Vadder leddig loten, mien Deern?«

      »Kannst du uns nicht wenigstens etwas entgegenkommen?«, fragt Norbert Bahlke. »Natürlich möchten Regine, die Kinder und auch ich keineswegs von hier weg. Du musst aber verstehen, dass es so, wie es bisher war, nicht weitergehen kann. Wir haben kein Geld mehr in der Kasse, sind praktisch pleite und müssen jede Woche zwei Milchkühe dem Schlachter überlassen. Sieh doch der Realität ins Gesicht! Diese Art Landwirtschaft wirft in der heutigen Zeit keinen Gewinn mehr ab, von dem wir alle einigermaßen anständig leben könnten. Und ich muss an unsere Zukunft und an die unserer Kinder denken. Die sollen doch was Ordentliches lernen! Leider haben sie hier auf dem Hof kaum noch eine Zukunft, und ohne Bildung bekommen sie keinerlei Chance für ihr Leben. Die Windräder wären unsere Rettung. Glaube mir, wir meinen es nicht böse mit dir, aber ich kann doch nicht weiter mit ansehen, wie meine ganze Familie darbt, nur weil du uns diese uns einzig verbliebene Möglichkeit vereitelst.«

      Regine sieht ihren Vater flehend an. »Vadder, denk doch an unsere liebe verstorbene Modder, dien Siglinde, die hätte uns ganz bestimmt recht gegeben!«

      Altbauer Theo Thode wendet sich von seiner Tochter ab und dreht sich zu seinem Schwiegersohn um. Dieser bemerkt verwundert, dass zwei dicke Tränen über die wettergegerbten, runzligen Wangen des Alten kullern. Mit heiserer Stimme gibt sich Theo Thode geschlagen. »Dann mokt man in Gottes Nomen, wat ihr wullt!« Schwer hinkend verlässt er die Wohnküche.

      Erleichtert fallen sich Norbert und Regine in die Arme.

       *

      »Ruf bitte all die Freunde zusammen, Elisabeth! Es gibt brisante Neuigkeiten!«

      »Was ist denn los, Martha, weshalb die Aufregung?«, flötet Elisabeth Beckstein, die Erste Vorsitzende des BÜGEWIR – Bürger gegen Windräder e. V. – mit Sitz in Neufeld am Dithmarscher Nordseeufer, verwundert ins Telefon.

      Die Aktivistin Martha Waldberg antwortet: »Jonas hat mich gerade angerufen. Er sagt, dass in einer Fundamentgrube am neuen Windpark bei Oldenmoor eine Leiche gefunden wurde. Ob das einer von unseren Leuten ist?«

      »Mensch, Martha, denk doch mal nach! Glaubst du wahrhaftig, dass bei diesem miserablen Wetter auch nur einer von denen hier eintrifft? Auf der B 5 und auf der Zufahrtsstraße nach Neufeld türmen sich meterhohe Schneewehen. Unter diesen Umständen glaube ich kaum, dass wir die Freunde überhaupt zusammenkriegen! Weiß man denn nicht, wer der Tote ist?«

      »Soweit ich erfahren konnte, ist nichts darüber bekannt. Aber allein die Tatsache des makabren Fundes ausgerechnet an diesem neuralgischen Ort lässt doch die Vermutung zu, dass es einer von uns ist. Rein psychologisch würde das zudem bestens in unsere Liste der Argumente gegen diesen verfluchten Windpark passen. Doch wahrscheinlich hast du recht. Bei diesem Wetter traut sich wohl kaum jemand vor die Tür, geschweige denn in sein Auto, um zu dir hinauszufahren. Aber bitte ruf doch alle unsere Freunde an und informiere sie. Sie sollen ihre Lauscher offen halten und alles zusammentragen, was sie in Erfahrung bringen können. Wir treffen uns dann, sobald wir mehr wissen und sich die Wetterlage beruhigt hat.« Martha hält einen Moment inne und fährt dann fort. »Sag mal, da fällt mir noch etwas ein: Weißt du, wo unser Lübecker Mitstreiter abgeblieben ist? Ich habe schon seit zwei Wochen nichts mehr von ihm gehört. Auch auf meine Mails hat er nicht geantwortet.«

      Als Elisabeth Beckstein sich dazu äußern will, wird sie von Martha unterbrochen. »Du auch nicht? Komisch! Na, dann man tschüss, liebe Elisabeth, hol di und erfriere ja nicht an deinem Deich!« Sie legt auf und überlegt. Vielleicht hat ihre ein wenig überkandidelte Aktivistin Martha gar nicht so unrecht mit dem Gedanken, dem verhassten Windkraftprojekt ein wenig ans Bein – oder eher zutreffend an den Mast – zu pinkeln. Sie ruft bei ihrem Vize, dem Gymnasiallehrer Menno Brauer, an und hat dessen Ehefrau Julia am Apparat. Ihr Mann sowie ihr Sohn Jonas seien unterwegs, erklärt Julia Brauer und versichert ihr, den beiden Bescheid zu geben, sobald diese wieder zu Hause eintreffen. Schließlich informiert Elisabeth Beckstein die medizinische Beraterin des Vereins, Frau Dr. Grete Voss. Diese verspricht, mit ihrem Kollegen, Herrn Dr. Vollmert, Kontakt aufzunehmen, von dessen Frau sie beiläufig beim heutigen Sonntagsgottesdienst erfahren habe, dass dieser zu einer Leichenschau gerufen worden sei.

       *

      Nili und Waldi winken ihren Kollegen hinterher, bis der Streifenwagen von der Hofauffahrt auf die Hauptstraße abgebogen ist. Während sie wieder in das Haus gehen und Waldi die Tür schließt, sagt er leise: »Sag mal, meine Schnuggelfrau, wo können wir uns hier ungestört ein wenig unterhalten? Ich muss dir etwas sehr Wichtiges sagen.«

      Nili schaut ihn zunächst verwundert an. »Ich habe wohl bemerkt, dass Ihnen etwas über die Leber gelaufen sein muss, mein geliebter Herr EKHK Mohr!«, bemerkt sie, nun lächelnd. »Bitte folgen Sie mir unauffällig!« Sie geht voran und öffnet die Tür zu Onkel Olivers Büro. »Hier dürfte uns heute wohl kaum jemand stören. Also, Liebster, was beschwert dein Gemüt?« Nili setzt sich in den Bürosessel am Schreibtisch.

      Nachdem Waldi ihr gegenüber auf dem Lehnstuhl Platz genommen hat, räuspert er sich und schaut auf den Boden. »Ich weiß nicht genau, wie und wo ich beginnen soll.« Er versucht erst einmal seine Gedanken zu ordnen. Nach kurzer Pause setzt er fort: »Also, ich muss da etwas weiter ausholen. Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass zurzeit – und besonders hier im nördlichen Schleswig-Holstein – eine bittere Fehde zwischen Befürwortern und Gegnern von Windkraftanlagen ausgebrochen ist. Sicher, seit der Energiewende ist es nötig geworden, die nach und nach stillgelegten Kernkraftwerke durch Erzeugung alternativer Energien zu ersetzen. Dabei ist allerdings der Zuwachs an Windrädern in dieser Region um einiges zu hastig erfolgt. Dies geschah auch – und das muss ich leider betonen –, ohne die direkt davon Betroffenen vorab zu informieren