Tiere zu Gesicht bekommt, ist, zu wissen, dass sie eben hierzulande noch die Möglichkeit haben, sich zurückzuziehen, um in ihrem natürlichen Umfeld fernab jeglicher Zivilisation zu leben.«
Julie schaute kurz nachdenklich drein. »Von der Seite habe ich es noch gar nicht betrachtet.« Sie runzelte ihre Stirn und es schien, als sei sie zu einem Entschluss gekommen. »Ich denke, du hast absolut Recht, Trudy. Mit dieser Sichtweise werde ich nicht traurig sein, wie manch anderer Besucher, wenn ich kein Glück haben sollte, wilde Tiere zu sehen.«
Trudy nickte zufrieden. »So ist es!«
Innerlich jedoch sah es in Wahrheit ganz anders bei Julie aus. Sie malte sich doch schon seit Wochen aus, wie es wohl sein wird, dem einen oder anderen Karibu, Wolf oder Elch in Freiheit zu begegnen, ganz abgesehen von ihrem innigsten Wunsch, dem Oberhaupt des kanadischen Nordens, dem Grizzly zu begegnen.
Nachdem ein Moment des Schweigens verstrichen war, unterbrach Trudy die Stille: »Ian, den du schon bald am Abend kennenlernen wirst, ist ein richtiger Buschmann. Keiner kennt sich in der Wildnis hier oben besser aus als er. Das hier ist seit Jahren sein Zuhause und in den Wintermonaten gehört er sogar zu den wenigen Menschen, die immer noch trappen. Er wird dich in der ersten Woche bei uns zu Ausflügen mitnehmen, damit du lernst, dich besser zurechtzufinden. Ich bin mir fast sicher, dass er dich auch an weit abgelegene Orte mitnehmen wird, die kaum einer kennt außer ihm selbst. Des Weiteren ist er einer der größten Menschen die ich kenne. Also erschrick nicht, wenn du ihn siehst.« Wieder ließ Trudy ihr spitzbübisches Lächeln sehen.
Rechter Hand sah Julie nun in der Ferne zwei kleine aneinandergebaute und ziemlich marode Holzhäuschen stehen. Der einst weiße Anstrich des rechten Häuschens war so gut wie komplett abgeblättert und es schien, als würden beide jeden Moment zusammenfallen. Davor war ein von den Witterungsverhältnissen gezeichnetes, rustikal hölzernes Willkommensschild in den Boden geschlagen.
Noch bevor in Julie der Gedanke aufkommen konnte, dass sie nun wohl gleich auf der Ranch ankommen würden, kam ihr Trudy freudig zuvor: »Wir sind nun gleich da. Sieh, da vorne, das kleine Häuschen!« Sie nickte in dessen Richtung und fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Ian hat es damals mit seiner Frau selbst gebaut, als sie hier hoch in den Norden gekommen sind. Sie haben einige Zeit darin gelebt. Heute ist es für uns schon fast wie ein historisches Denkmal. Man kann es nicht mehr bewohnen, aber es gibt ein nostalgisches Bild am Eingang der Ranch ab. Ian assoziiert es in seinen Gedanken mit wundervollen Erinnerungen, die er dort mit seiner Frau erleben durfte. Sie ging leider viel zu früh von ihm und ihr Verlust zehrte sehr an ihm.« Trudys sanfte Stimme und ihre klaren blaugrauen Augen spiegelten Betroffenheit und tiefes Mitgefühl wider.
Julie schwieg ergriffen.
Sie passierten das Häuschen und bogen nach rechts auf einen weichen Waldweg ab.
»Nun gut …«, meinte Trudy, »lass uns nicht der Vergangenheit nachhängen, wir leben im Hier und Jetzt und das Leben geht weiter, nicht wahr?«
Julie zog ihre Augenbrauen leicht nach oben und nickte. Allmählich kehrte das Lächeln auf ihr Gesicht zurück.
Riesige cremebeige Rundstammbalken waren mit langen halbrunden Querbalken als Eingangsschild der Ranch errichtet worden. Hoch oben, auf dem ersten von insgesamt vier großen Holztafeln, stand auf pastellblauem Hintergrund der Name der Ranch in großen schwarzen Lettern. Ein Reiter in einer hügeligen Sommerlandschaft und ein Hundegespann mit Schlitten auf einer weißen, schneebedeckten Ebene, die beide von der offiziellen Blume des Yukon Territoriums, dem schmalblättrigen Weidenröschen, gesäumt waren, waren liebevoll darauf gemalt. Auf den anderen Tafeln darunter, deren blauer Hintergrund nach unten hin immer dunkler wurde, waren die Leistungen der Ranch, die Richtung zum Büro und die Richtung zur Lodge angegeben. Schon kurz nach diesem beeindruckenden Holzgebilde ließen sie das Büro, eine kleine, ziemlich neue Blockhütte, rechts von sich liegen.
Sie waren nur ein paar Meter weitergefahren, als Trudy schließlich den Wagen vor einer wunderschönen Lodge anhielt und den Motor abstellte. Strahlend sah sie zu Julie hinüber. »Hier sind wir nun also!«
Die Lodge lag inmitten eines von Fichten, Kiefern und Birken bewaldeten Gebietes. Stellenweise reichten unterschiedlich hohe Büsche direkt an das Gebäude. Die Grüntöne der Vegetation gingen fließend ineinander über und hoben die dunkelbraune Lodge von der Umgebung ab. Das fahlgraue Dach verschmolz mit den Farben des Himmels. Da die Sicht aufgrund des trüben Wetters sehr eingeschränkt war, war es zunächst nicht möglich, die das Tal der Fish-Lake-Gegend umgebenden Berge zu sehen.
Während des Aussteigens betrachtete Julie die Lodge genau und war auf Anhieb begeistert. »Ganz nach meinem Geschmack«, dachte sie, als sie leise die Wagentüre hinter sich schloss. Sie musste einen kurzen Moment verstreichen lassen, bevor sie in der Lage war, sich um ihr Gepäck zu kümmern.
Trudy hatte in der Zwischenzeit den Kofferraum geöffnet. Während sie nun zum Eingang der Lodge ging, rief sie Julie zu, dass sie den Kofferraum schließen solle, sobald sie ihren Rucksack ausgeladen hatte.
Beeindruckt und vollbepackt näherte sich Julie der Lodge. Eine kleine einfache Veranda war dem Eingangsbereich vorgelagert. Rechts und links davon war jede Menge Brennholz gestapelt. Es diente als Vorrat für den schon bald nahenden, langen Winter. Ebenso beidseits der Eingangstüre und an der nach Süden gerichteten Seite, befand sich eine große Fensterfront, deren hellbraune Rahmung in einer tannengrünen Fassung eingearbeitet war. Das Glas der Fenster war mit feinen Holzlatten versehen, die die Fenster wiederum in kleinere Fenster unterteilten. Als Julie schließlich die Lodge betrat, nahm sie einen behaglichen, holzigen Duft wahr. Sie hielt einen Moment inne und sah sich um. Gleich links war ein offener Raum, der ringsum gesäumt war von einer hölzernen Sitzmöglichkeit. Einige handgemalte Bilder waren an den Wänden angebracht und darunter befanden sich über und über Haken zum Aufhängen von Kleidungsstücken. Dieser Teil der Lodge war eine riesige Garderobe wie es den Anschein machte. Julies Blick schweifte weiter. In der Garderobe führte eine kleine Türe in den linken hinteren Teil der Lodge, in dem sich unter anderem das Badezimmer befand. Rechts von der kleinen Türe führte eine Treppe in den oberen Bereich der Lodge. Direkt daneben stand ein riesiger Brennofen mit zwei wuchtigen, metallenen Töpfen darauf. Hinter und neben diesem befand sich die Küche. Ein alter Schrank und viele Ablagemöglichkeiten an den Wänden, auf denen sich Gewürze, Geschirr und andere Küchenutensilien befanden, rundeten das urige Bild, das alles ergab, ab. Eine sehr einfache Spüle befand sich in der Mitte der Küchenwand direkt unter einem Fenster. Ein weiterer Schrank und eine massive Arbeitsplatte mit Stauraum darunter, grenzten den Küchenbereich vom Essbereich ab. An der Decke verliefen kupferne Gasleitungen, die die Lampen mit dem nötigen Brennstoff versorgten. Auf der Treppe befanden sich ein paar große Wasserkanister, die die Wasserversorgung sicherstellten. Es war somit nicht zu übersehen, in welcher Einfachheit man hier lebte.
Der Regen setzte abrupt und heftig ein und verstärkte das Gefühl der Gemütlichkeit für den Besucher. Trudy bat Julie ihr zu folgen. Sie wollte ihr das Zimmer zeigen, in dem sie für eine Woche wohnen konnte, bevor man sie zur Hütte begleiten würde. Gemeinsam gingen sie die knarzende Holztreppe hinauf. Im oberen Stock befand sich ein großer Aufenthaltsraum, in dem ein gemütliches, altes und durchgesessenes Sofa stand. Ein paar Sessel im gleichen Stil standen ebenso im Raum verteilt. In der Mitte gab es einen Tisch und an der Brüstung zur Treppe befand sich ein kleines Bücherregal. Die Wände waren nur halb hoch, da sich das Dach weit nach unten zog. In den Dachschrägen befanden sich ein paar Fenster, die wie kleine Gauben in das Dach eingelassen waren und dem Raum eine gewisse Niedlichkeit verliehen. Trudy führte Julie nach rechts und wies ihr in einem kleinen Vorraum ihr Zimmer zu. Es lag an der Nordseite der Lodge.
»Wenn du dein Gepäck verstaut hast, sieh dich ruhig in Ruhe um. Du kannst auch draußen die Hunde und die Pferde besuchen, wenn du magst. Ich möchte noch einige Vorbereitungen erledigen, bevor die nächsten Gäste eintreffen. Die anderen werden vermutlich nicht vor dem Abend hier sein. Wir werden dann gemeinsam zu Abend essen und das Wesentliche für die nächsten Tage besprechen. Ach, wenn du bis dahin Hunger bekommst, ich habe unten in der Küche eine Platte mit Käse für dich vorbereitet. Daneben liegt Brot. Wir haben immer frisches Obst in der Schale auf dem Esstisch, da kannst du dich auch bedienen. Cookies und andere Süßigkeiten findest