Arnold Mettnitzer

Mit dem Herzen atmen


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Lebensdauer ist mit 40 bis 55 Jahren angegeben. Daraus könnte man schließen, dass seine Ära bis in die 1960er-Jahre reichte und danach nur noch von ausgesprochenen Liebhabern neue Bäume beziehungsweise Sträucher gepflanzt wurden. Der britische Biogärtner Monty Don vermutet, dass es unser Instantzeitgeist ist, der der Quitte keine Beachtung mehr schenkt. Wie mein Quittenbuch verrät, ist die Frucht bedingt durch den hohen Anteil an sogenannten Steinzellen, an dem ausgesprochen harten Fruchtfleisch und am Gehalt an Fruchtsäuren und Gerbstoffen, roh nicht genießbar. Wer an ihrem Genuss interessiert ist, benötigt also viel Zeit.

      Noch im 19. Jahrhundert wurde der Anbau von Quitten trotz ihrer herben Widerspenstigkeit als ein sich auch wirtschaftlich lohnendes Projekt betrachtet. Johann Ludwig Christ schrieb 1814 in seinem „Allgemein-practische(n) Gartenbuch für den Bürger und Landmann über den Küchen- und Obstgarten“: „Die Quitten sind zwar kein Obst für jeden Gartenbesitzer, wenigstens nicht zur eigenen Consumation. Es kann aber indessen mancher bald diese, bald jene Absicht dabey haben, diesen Baum auch in seinem Garten zu haben, um seine Früchte zu erzielen. Wenigstens werde solche in den Apotheken, von Zuckerbeckern und anderen gut bezahlet.“2 Immer wieder bereiten mir Menschen, die wissen, was mir die Quitte bedeutet, mit aus ihr bereiteter Marmelade oder Käse besondere Freude. Eine Freundin beschenkt mich mehrmals im Jahr mit Likör, Käse und Tee aus Quitten, die am Iselsberg wachsen.

      Wer immer den Quittenstrauch im Garten meines Elternhauses gepflanzt hat, alles, was ich heute von der Quitte genieße, ist mir seit Kindertagen vertraut, geradezu heilig, die innigste Erinnerung an das erste Haus meines Lebens. Dieses Haus gibt es schon lange nicht mehr, auch den Lindenbaum davor nicht und schon gar nicht den Quittenstrauch. Verschwunden sind mit ihm auch der Garten, der Brunnen dahinter und die Bienenstöcke meines Großvaters. Nein, eben nicht verschwunden, sondern gebündelt da im Geschmack der Quitte, löffelweise von innen her „verkostbare“ Kindheit. Wie arm bin ich, wenn ich nur an das denke, was im Laufe des Lebens verloren gegangen ist, wie reich aber, wenn ich auf das zu schauen vermag, was mir durch alle Höhen und Tiefen hindurch geblieben ist!

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      Einladung zum Oktoberfest

      In meiner Zeit als Kaplan in Spittal an der Drau besucht uns im Pfarrhof ein Jerusalem-Pilger und bittet für ein paar Tage um Gastfreundschaft. Als Dank dafür liest er uns die Zukunft aus der Hand, prophezeit Ereignisse, die auch kurz danach tatsächlich eintreffen, und sorgt mit seiner heiteren Art für eine angenehme Atmosphäre im Haus. Mir als dem Jüngsten in der Runde sagt er ein langes Leben mit vielen positiven Überraschungen voraus, von einem kleinen Verkehrsunfall in naher Zukunft solle ich mich nicht verunsichern lassen! Als ich dann tatsächlich eine Woche später auf der Fahrt zum Begräbnis meines Onkels Michael schuldlos in einen harmlosen Unfall gerate und mit Blechschaden weiterfahre, ist unser Pilger schon über alle Berge in Richtung Jerusalem unterwegs.

      Zum Abschied hatte er uns noch eine herzliche Einladung ausgesprochen. Wir sollten unbedingt in diesem Jahr zum Oktoberfest nach München kommen und dort seine persönlichen Gäste sein. Einmal im Leben müsse man das erlebt haben, sagt er mit Nachdruck! Und wenn wir tatsächlich kommen könnten, müssten wir es ihm auch rechtzeitig sagen. Seit Jahren wäre er in dieser Zeit rund um die Uhr beschäftigt; er betreibe nämlich dort eine hoch frequentierte Herrentoilette, die wir dann selbstverständlich gratis benützen könnten …

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      Der Geschmack der Freiheit

      Die erste Reise meines Lebens führt mich 1963 zum Beginn der Mittelschule nach Wien. Innerhalb weniger Stunden ereignet sich ein Feuerwerk von Weltpremieren: Im „Opel Rekord“ meines Großvaters geht es über den Katschberg nach Tamsweg, von dort mit der Murtalbahn in der ersten Zugfahrt meines Lebens nach Unzmarkt. Dort steige ich um in die Südbahn. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich einen Zug gesehen und jetzt sitze ich nach der Fahrt in der Schmalspurbahn von Tamsweg nach Unzmarkt in einem „richtigen“ Zug auf der Fahrt von Unzmarkt nach Wien! In der Nähe von Kapfenberg, beim zufälligen Blick aus dem Fenster, entdecke ich einen Flugplatz mit einem Flugzeug auf der Piste, das mir unheimlich groß vorkommt. „Richtige Flieger“ kannte ich bis zu diesem Zeitpunkt ja nur von den Kondensstreifen am Himmel über meinem Elternhaus. In Wien angekommen, finde ich auf dem Pult im Studiersaal des Internats in der Auhofstraße 8 meine Schulbücher vor. Darunter im grauen Umschlag in grünlicher Schrift „I learn English“, was mich kurz darauf hoffen lässt, die englische Sprache könnte vielleicht mit dem Dialekt in Oberkärnten verwandt sein, weil sie sich ja so liest, wie ich daheim zu sprechen gewohnt bin …

      Meine erste Reise ins Ausland führt mich im September 1974 nach Rom, um an der Päpstlichen Universität Gregoriana meine theologischen Studien fortzusetzen. Das erste prägende Erlebnis dort ist für mich der Moment, in dem mich meine Italienischlehrerin, Signora Olga Lampe-Minelli, bei der Hand nimmt und mir mit den Worten „Eccolo!“ das Meer zeigt. Weit mehr als das mir vertraute Glück, im Sommer von den Gipfeln der Nockberge ins Liesertal zu blicken, erfüllt mich hier die unendliche Weite des Meeres. Niemals zuvor hat mich die Natur so sprachlos gemacht! Eine größere Weite hatte mir vorher noch niemand gezeigt. In neun Jahren meines römischen Studiums wächst diese Weite in mich hinein. Mit 3000 Studenten aus 130 Nationen in Rom leben und studieren zu können, ist ein seltenes Privileg.

      Meinen Horizont haben auch Menschen erweitert, denen ich in meinem Leben begegnen und ein Stück des Weges gehen durfte. An einige dieser Weggefährten erinnere ich mich in großer Dankbarkeit. Die Erfahrungen und Begegnungen mit ihnen finden für mich an entscheidenden Wegkreuzungen statt:

      1990 zum Geburtstag im November schenkt mir Rosi ein Buch mit der knappen Widmung „molto interessante – hoffentlich findest Du auch die Zeit, darin zu lesen“. Als wäre es nur für mich geschrieben, lässt mich dieses Buch nicht mehr los und verändert mein Leben. Heribert Fischedick, damals noch Pfarrer in Meerbusch bei Düsseldorf und schon Psychotherapeut, erzählt in seinem Buch „Von einem, der auszog, das Leben zu lernen“ (1987) und bringt damit mein Inneres heilvoll-gründlich durcheinander. Ich lese es immer wieder, zuerst allein, dann mit anderen. Wenig später lade ich Heribert nach Kärnten ein und veranstalte mit ihm Seminare.

      1991 im Sommer besuche ich Bischof Egon Kapellari in seinem Urlaub auf der Alm und schütte ihm mein Herz aus, erzähle ihm, dass ich nicht wüsste, wie mein Leben weitergehen solle, dabei aber davon überzeugt wäre, es ändern zu müssen. Sein Wort ermutigt mich: „Was immer Sie tun, es wird uns nichts trennen!“ Ich kann die innere Freiheit, die dieser Satz in mir auslöst, auch heute noch nicht beschreiben. Ich erinnere mich nur, wie beschwingt und befreit ich den Weg von der Alm zu Fuß hinunter ins Tal zurückgelegt habe. Unten angekommen hätte ich viel darum gegeben, noch unterwegs sein zu dürfen und den Geschmack der Freiheit im Unterwegssein genießen zu können. Mein „Versuch, in der Wahrheit zu leben“3, hat so mit kleinen Schritten zögernd begonnen. Nach und nach aber wurde mir klar, dass es keinen Schritt mehr zurück gibt.

      Im Jahr 1990 lerne ich Peter Turrini kennen. Die Uraufführung seines Stückes „Tod und Teufel“ am 10. November dieses Jahres im Wiener Burgtheater ist für mich ein unvergessliches Ereignis. Gemeinsam mit Gerd Bacher, dem legendären Generaldirektor des ORF, sitze ich als Gast des Autors in einer Loge. In der Pause erhebt sich Bacher und sagt zu mir: „Hochwürden, wir gehen! Dieses Stück ist eine Zumutung!“ Stolz entgegne ich ihm: „Ich bin von Peter Turrini persönlich eingeladen. Ich bleibe!“ Kennengelernt hatte ich Turrini im Mai 1990 bei einer „Welturlesung“ aus seinem Theaterstück „Die Minderleister“, zu der ich ihn als damaliger Rektor des Bildungshauses St. Georgen am Längsee eingeladen hatte. Diese Begegnung prägt mich nachhaltig und bildet die Basis für eine bis heute dauernde Freundschaft. Als ich ihn deshalb vor drei Jahren bitte, mein Trauzeuge zu sein, antwortet er mir: „Immer schon wollte ich bei der Hochzeit eines katholischen Pfarrers der Trauzeuge sein!“

      Am 10. Juni 1991, in meinem 39. Lebensjahr, beginne ich mit der Lehranalyse bei Erwin Ringel in Wien und damit die Ausbildung zum individualpsychologischen Psychotherapeuten. Ich erinnere mich noch gut an die erste Stunde, in der ein einziger Wortschwall aus mir herausbricht und ich dabei das Gefühl habe, noch nie jemandem so rückhaltlos mein Leben erzählt zu haben. „Ich fühle mich wie hinter einer