Arnold Mettnitzer

Mit dem Herzen atmen


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Turrini und danach mit Erwin Ringel helfen mir, diese Mauer nach und nach abzubauen.

      Nach dem Fall der anderen Mauer, 1989 in Berlin, entsteht ein geflügeltes Wort: „Wer nach allen Seiten hin offen ist, ist nicht ganz dicht!“ So mag ich damals auf viele gewirkt haben, ungefragt offen und „nicht ganz dicht“. Aber es ermutigt mich und macht Appetit auf einen neuen Weg. Die Abenteuerlust und der Zauber des Anfangs legen Kräfte frei und geben mir das Gefühl, jetzt erst geboren zu sein. Eine im mehrfachen Sinne des Wortes spannende Zeit.

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      Hoffnung für beide Seiten

      Im Kampf um die Unabhängigkeit der baltischen Staaten war es zwischen diesen und Russland immer wieder zu erbitterten Kämpfen gekommen. Als dabei einmal der Oberbefehlshaber einer der kämpfenden Truppen lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus eingeliefert wurde, warteten Pressevertreter beider Lager gespannt auf den ärztlichen Bericht über den Zustand des in Lebensgefahr schwebenden Helden. Die eine Seite hoffte, er möge am Leben bleiben, die andere wünschte sein Ende herbei. Als der behandelnde Arzt vor den Presseleuten sein Bulletin verkündete, fasste er es in dem einen Satz zusammen: „Für beide Seiten besteht Hoffnung!“

      Als mein Lehrer Erwin Ringel in den ersten Monaten meiner Lehranalyse im Wiener Rathaus während eines Empfanges auf Diözesanbischof Egon Kapellari traf und von diesem gefragt wurde, wie es mir denn aus seiner Sicht gehe, borgte sich Ringel das Wort seines baltischen Kollegen und antwortete: „Für beide Seiten besteht Hoffnung!“ In einer für mich damals nicht vorhersehbaren Art sollte mein Lehrer recht behalten: Weder ist mir seither die Lust an der Seelsorge vergangen, noch kann ich mir heute vorstellen, im Rahmen der kirchlichen Seelsorge tätig zu sein.

      Immer wieder musste ich in den Zeiten des Übergangs an ein mir lieb gewordenes französisches Sprichwort denken, das Erneuerungsphasen des Lebens mit der Technik des Weitsprungs vergleicht. Dort ginge es ja darum, sich in der Kunst zu üben, sich zurückzunehmen, die Kräfte zu bündeln, um mit geballter Kraft besser nach vorne springen zu können: „Reculer pour mieux sauter.“ – „Zurückzuweichen, um besser nach vorne springen zu können.“ Oder, um es mit einem geflügelten Wort zu sagen: „Love it, change it, or leave it!“ – Das, was du tust, musst du lieben! Wenn du es nicht (mehr) lieben kannst, musst du es ändern! Wenn sich dadurch nichts ändert, musst du es lassen und etwas anderes suchen, das den Intentionen deines Herzens mehr entspricht!

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      Grillparzer im Pornoladen

      Zur Premiere von Peter Turrinis Theaterstück „Grillparzer im Pornoladen“ am 15. September 1994 im Wiener Rabenhof bin auch ich eingeladen. Mein Sitzplatz befindet sich direkt hinter Bürgermeister Helmut Zilk und seiner Gattin Dagmar Koller, deren Kommentare während des Stücks mich ähnlich erheitern wie Dolores Schmidinger und Otto Schenk in den Hauptrollen auf der Bühne. Was dort den Zuschauern geboten wird, ist wunderbares Theater, beinahe eine Liebesgeschichte zwischen zwei älteren Menschen und unfreiwillig komisch, in einem Pornoladen.

      Nach der Premiere bewegt sich der Kreis der geladenen Gäste in Richtung des Wiener Nobelstundenhotels „Orient“ am Tiefen Graben im 1. Bezirk. Weil ich telefoniere, verliere ich den Anschluss an die Gruppe und stehe wenig später alleine vor der Eingangstür zum „Orient“. Plötzlich und unerwartet begrüßt mich dort der damalige Österreichische Botschafter auf den Philippinen, Dr. Wolfgang Jilly. Er ist ein langjähriger Freund, den ich bereits während meines Studiums in Rom kennengelernt und gemeinsam mit Bischof Egon Kapellari während seiner Zeit als österreichischer Botschafter in Chile in Santiago de Chile besucht habe. Auf seine Frage, was ich hier denn suche, antworte ich ihm, dass ich im „Orient“ zu einer Premierenfeier eingeladen bin. Er klopft mir auf die Schulter und meint: „Gratuliere! Jeder muss einmal damit beginnen!“ Und wie ich ihm vorschlage, doch mit mir zu kommen, um sich von der Lauterkeit meiner Absicht zu überzeugen, lehnt er mit dem Hinweis darauf ab, dass ihm seine Frau diese Geschichte nicht glauben würde. Damit versäumt er ein wunderbares Fest, das mit selbstgebackenen Süßigkeiten der Großmütter der Damen des Hauses erst in den frühen Morgenstunden ausklingt …

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      Svjatoslaw Richter

       Wenn du einem Spiel zuschaust, ist es Vergnügen, wenn du es spielst, ist es Erholung, wenn du daran arbeitest, ist es Studium.

      Wassily Kandinsky

      (1866–1944)

      Meinem Kollegen Alfred Kirchmayr verdanke ich den schönen Satz, wonach ein Mensch erst dann reif ist, wenn er den Ernst wiederfinden kann, den er als Kind beim Spielen hatte. Der spielende Mensch, oder besser gesagt, erst der spielende Mensch ist in der Kraft seiner Kreativität lebendig und in der Lage, diese seine Welt unverwechselbar mitzugestalten. Mag sein, dass die großen Erfindungen und Entdeckungen unendlich viel Mühe und zeitlichen Aufwand erfordert haben, aber die Tatsache, dass es so weit kommen konnte, hat wohl immer auch mit der Leidenschaft des Herzens zu tun, an den Dingen, die uns beschäftigen, so lange mit aller Leidenschaft dranzubleiben, bis sie uns durch alle Tiefschläge und Talsohlenerfahrungen hindurch mit einem Male und dann endlich ganz leicht und spielerisch von der Hand gehen. Oft erlebe ich gerade in der Musik diese Art des Spielerisch-Kreativen als den Inbegriff des Lebendigen. Es bedarf allerdings einer großen Professionalität, die zuallererst darin besteht, Können und Wollen als inneren Ruf wahrzunehmen, der den Berufenen erst dann zur Ruhe kommen lässt, wenn er sein Bestes gegeben hat und trotzdem nie genau wissen wird, ob das, wofür ihn andere loben, tatsächlich auch das Beste war, das zu geben er mit etwas Glück in der Lage sein könnte.

      Einer meiner kulturellen Höhepunkte als Rektor des Bildungshauses in St. Georgen am Längsee war die Begegnung mit Svjatoslaw Richter (1915–1997), der als Pianist in Moskau Sergei Prokofjew kennenlernte, 1942 dessen 6., 7. und 9. Sonate uraufführte und von Prokofjew dessen 9. gewidmet bekam. Nachdem Richter in seiner Heimat bereits als Berühmtheit galt, durfte er 1960 erstmals in den Westen reisen. Am 19. Oktober 1960 gab er sein umjubeltes Debüt in der Carnegie Hall in New York, an das sich eine große USA-Tournee anschloss. Es folgten Auftritte in Europa, ab 1971 auch in Deutschland.

      Wie kaum ein anderer Pianist verlieh er seinen Interpretationen eine individuelle Note. Dabei fesselten sein poetisches Spiel und sein weicher Anschlag noch mehr als seine Virtuosität. Ganz zum Schluss seines Lebens schickte der Maestro seine Schüler aus, um an Orten, die sich seine Kunst nicht leisten konnten, nach Sälen zu suchen, in denen er spielen wollte. Nicht mehr die Carnegie Hall, nicht mehr der Goldene Saal des Wiener Musikvereins waren seine bevorzugten Plätze, sondern Orte wie der Festsaal des Bildungshauses St. Georgen am Längsee, der nie zuvor solche Musik erlebt hat und wohl auch niemals nachher erleben wird können. Die spielerische Leichtigkeit und Innigkeit, mit der der Maestro damals Chopins Etüden spielte, bleibt mir in herzlicher Erinnerung, ebenso das Gespräch mit ihm im Künstlerzimmer. Nie zuvor hätte ich gedacht, wie sehr ein so großer Künstler sich über die kleinen und scheuen Wortspenden der musikalisch nicht sehr gebildeten Konzertbesucher freuen konnte. Unvergessen auch das gemeinsame Abendessen nach dem Konzert im Restaurant Bachler in Treibach-Althofen. Nach dem ersten Löffel seiner Gorgonzolarahmsuppe ruft der Maestro aus: „Diese Suppe ist ein Traum!“ Das Gästebuch des Restaurants belegt unser Abendessen dort durch die Eintragung vom 15. 2. 1989 „mit besten Wünschen“, und Kazuto Osato, Richters legendärer Klavierstimmer, fügte auf Japanisch hinzu: „Danke für das wunderbare Mahl!“

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      Kurt Marti

      Kurt Marti (1921–2017) besucht mit Friedrich Dürrenmatt das Freie Gymnasium Bern. Der Sohn eines Notars folgt zunächst dem Weg des Vaters und studiert zwei Semester an der juristischen Fakultät der Universität Bern, bevor er sich für ein Studium der evangelischen Theologie entscheidet. Zunächst beginnt er damit an der Universität in Bern und setzt es dann 1945 bis 1946 an der Universität Basel fort, wo sein theologisches Denken besonders von Karl Barth geprägt wird.

      In den Jahren 1947 bis 1948 ist Marti ein Jahr lang Kriegsgefangenenseelsorger in Paris. Nach seinem Hochschulabschluss und der Ordination wird er Pfarrer im bernischen