Arnold Mettnitzer

Mit dem Herzen atmen


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Sie Gedanken an den Tod?“ Mitscherlich: „Mit 87 sind sie ziemlich in der Nähe. Ich habe auch nichts dagegen. Ich meine, sterben ist etwas … Noch nie ist einer vom Tod zurückgekommen. Sie sterben und niemand kann Ihnen sagen, was das ist. Niemand! Es hat immer etwas Unheimliches, etwas ganz und gar Unbekanntes. Wer tröstet mich da und hält meine Hand?“

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      Troubled water

      Das eheliche Glück meiner Eltern war bereits nach wenigen Monaten verflogen. Trotzdem sollte es noch Jahre dauern, bis meine Mutter – nicht zuletzt durch den Beistand eines behutsam an der Not seiner „Schäfchen“ orientierten Seelsorgers – den Mut fasste, sich von meinem alkoholkranken Vater zu trennen. Keine leichte Entscheidung für eine achtundzwanzigjährige Frau mit sechs Kindern im Alter von zwei bis acht Jahren. Keine leichte Entscheidung in einem ländlich-katholischen Umfeld, dem zumindest nach außen hin an „ordentlichen Verhältnissen“ gelegen war.

      Geredet hat Mama (fast) nie darüber, oder besser gesagt, nur in der ihr eigenen Art eines vielsagenden Schweigens. Und so hat sich unter uns Geschwistern ein stilles Übereinkommen ergeben, die Mutter mit Fragen nach unserem Vater nicht zu überfordern. Mir als dem Ältesten fiel das besonders schwer. Nicht zu wissen, wie es meinem Vater geht, hat mir wehgetan. In meinen Gymnasialjahren habe ich dann begonnen, ihn regelmäßig zu besuchen, mit ihm zu „watten“ und ihn dabei möglichst oft gewinnen zu lassen. Beim Kartenspiel gegen seinen Sohn zu verlieren, konnte er schwer verkraften, ebenso, wenn er bemerkte, dass sein Gegner ihn trotz besserer Karten gewinnen lassen wollte. Insofern waren meine Besuche bei ihm alles andere als einfach, oft schwierige Gratwanderungen zwischen Zumutung und verletztem Stolz. Manchmal aber wurden daraus kleine Sternstunden, in denen er aus seinem Leben erzählte und dabei immer wieder darüber redete, wie sehr er sein „Ingele“, unsere Mutter, geliebt habe. Wenn er davon zu reden begann, klang für mich immer ein uneingestandener Schmerz mit, so als wüsste er im Tiefsten seines Innersten darum, das Schicksal seiner Familie mit sechs Kindern zum großen Teil selbst verschuldet zu haben. Ihm daraus Vorwürfe zu machen, wäre mir in all unseren Begegnungen im Traum nicht eingefallen. Im Sommer 1994, kurz nach seinem 64. Geburtstag, so alt wie ich heute bin, wird mein Vater mit akuter Multiorganschwäche ins Krankenhaus eingeliefert. Bei meinem Besuch dort wird mir sehr schnell der Ernst seiner Erkrankung bewusst. Als ich ein paar Tage später von der dramatischen Verschlechterung seines Zustandes erfahre, bin ich gerade mit meiner Mutter im Auto unterwegs und entschließe mich, ihn sofort zu besuchen. Dass meine Mutter mitkommen will, überrascht mich, ist sie doch all die Jahre nach ihrer Scheidung meinem Vater kein einziges Mal mehr persönlich begegnet. Allein trete ich an sein Sterbebett und sage ihm, dass auch Mama mitgekommen wäre und draußen warte. „Soll nur draußen bleiben“, lautet sein kurzer Kommentar. Als ich mich später von ihm verabschiede, frage ich meinen Vater, ob Mama hereinkommen dürfe. „Wenn sie unbedingt meint, dann soll sie halt kommen“, antwortet er knapp. Angespannt betritt meine Mutter das Krankenzimmer. „Inge!“, ruft ihr mein Vater entgegen. Ich schließe hinter ihr die Türe und lasse die beiden allein. Als Mama nach einer guten Stunde herauskommt, hat sie Tränen in den Augen. Als würde sie mich gar nicht wahrnehmen, sagt sie halb laut vor sich hin: „Nie hätte ich gedacht, dass ich diesem Menschen nach 34 Jahren so aus ganzem Herzen verzeihen kann!“ Ein paar Tage später, am 25. Juli 1994, stirbt mein Vater im Krankenhaus in Spittal an der Drau. Ich bin überzeugt davon, dass er im Grunde seines Herzens auf diese Begegnung gewartet hat, um versöhnt und in Frieden sterben zu können.

      Das Vergeben und das Verzeihen gehören zu den innigsten Kulturleistungen des Menschen. Ohne die Kunst der Versöhnung, ohne die Kraft der Vergebung, ohne gelebtes Verzeihen verlieren die kleinen und großen Gemeinschaften in unserer Gesellschaft ihren inneren Halt. Nach nichts hat ein Mensch mehr Sehnsucht als nach dem anderen Menschen, der sich ihm vor allem an den entscheidenden Wegkreuzungen des Lebens als Mensch erweist. Schon Paracelsus wusste, dass „der Mensch des Menschen beste Medizin“ ist und „das beste Maß dafür die Liebe“ bleibt.

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      Hubert

      Nie spüren wir deutlicher als durch den Tod, was uns ein Mensch bedeutet; erst recht, wenn es ein Freund ist; und der Schmerz, den wir dabei empfinden, hat wohl auch damit zu tun, den kostbaren Wert einer Beziehung zu Lebzeiten nicht gründlich genug ermessen zu haben …

      Mit Hubert Luxbacher habe ich meinen besten Freund verloren. Vor Jahren haben wir beide in einem Fernsehfilm über die Kunst einer Männerfreundschaft nachgedacht. Zu gerne hätte ich ihm noch ein letztes Mal gesagt, was er mir bedeutet. Aber mit diesem Schmerz bin ich heute hier nicht allein. Seine Liebe hat vielen Menschen gegolten. Er hat die Menschen gerngehabt und es war seine besondere Begabung, das auch zeigen zu können. So ist er vielen im besten Sinn des Wortes zum „Guten Hirten“ geworden … „Lux, das Licht, es leuchtet nicht“, hat im Gymnasium in Tanzenberg sein Geschichtslehrer Schnabl gespottet, weil er ihm „die Balkanfrage“ nicht beantworten konnte! Und ob sein Licht geleuchtet hat! Und wie! Sein Lachen, der Schalk in seinen Augen, sein herzlich-unkompliziertes Wesen, auch seine akribische Genauigkeit, die ich manchmal als unnütze Kompliziertheit abgetan habe … All das hat uns viel von seinem Licht, von seiner Lebendigkeit und Leidenschaft gezeigt.

      Hubert war der Weltmeister pastoraler Sonderwünsche: Ob bei der legendären Schweinsstelzenversteigerung am Ostermontag in St. Wolfgang ob Seeboden oder bei einer Trauung während eines Fallschirmflugs über dem Millstätter See, mit seinen Aktionen hat er Oberkärntner Pastoralgeschichte geschrieben. Ein etwas irritierter Diözesanbischof rief mich damals an, um nachzufragen, ob Hubert die Trauung in der Luft, im Wasser oder vielleicht sogar unter dem Wasser vorgenommen habe. Was er angegangen ist, hat er mit vollem Herzen und aus ganzer Seele unternommen. Halbherzigkeit war ihm zuwider. Bürokratische Hürden konnten ihn zur Weißglut bringen. Das hat ihn oft mehr Kraft gekostet, als er tatsächlich zur Verfügung hatte. Die Menschen haben es ihm gedankt, nicht alle, aber viele haben ihn auf Rosen gebettet und auf Händen getragen, ihn dabei aber auch immer wieder neu gefordert und nicht selten überfordert. – Ich bin überzeugt davon, dass sein Tod auch damit zu tun hat. Und ich habe auch oft gespürt, dass diese Überforderung für ihn oft schwerer zu tragen war, als er sich das selbst einzugestehen vermochte. Sein Herz war stark und groß und dann doch zu schwach, um weiterzuschlagen.

      Hubert war ein Seelsorger aus Leidenschaft. Er hat Gott geliebt und die Art seines kindlichen Vertrauens hat ihn in einer Weise von Gott reden lassen, die schlicht, einladend, nie ausgrenzend war. Und wer dabei sein Lachen und seine „luxigen“ Augen erleben durfte, hat verstanden, was er sagen wollte: „Ich kann euch die Existenz Gottes nicht beweisen, aber ich freu mich aus ganzem Herzen, dass mir keiner von euch seine Nicht-Existenz beweisen kann. Gerade deshalb ist es so sinnvoll, dass wir darüber miteinander im Gespräch bleiben!“

      Als Freunde haben wir uns beide nicht geschont und uns gegenseitig nichts geschenkt, in unseren Diskussionen haben wir einander kräftig eingeschenkt. Er hat mich immer wieder einen gefährlichen „Systemzerstörer“ genannt und ich ihn oft einen unerträglichen „Systemerhalter“. Beide haben wir es ernst gemeint mit unserer Kritik aneinander. Die soliden Begründungen für unsere Standpunkte reichten in langen Gesprächen weit hinein in die Nacht. Unsere Freundschaft hat ein großes Stück weit gerade davon gelebt.

      Hubert hat der römisch-katholischen Kirche die Treue gehalten. Nicht blinder Gehorsam hat ihn dabei geleitet, sondern ein wacher, kritischer Geist, der manchmal aus der Haut fahren wollte, wenn allzu Menschliches in dieser „seiner“ Kirche den Verdacht aufkommen ließ, Vorschriften, Regeln und Strukturen wären wichtiger als die Nöte und Sehnsüchte der Menschen. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, auf seinen kirchlichen Dienst zu verzichten. Dazu waren ihm die Menschen zu wichtig, die er wie Schafe ohne Hirten nicht hätte allein lassen können. Als ich mich aus Gewissensgründen aus dem kirchlichen Dienst zurückziehen musste und zu Fuß über Gleinalm und Mariazell nach Wien wanderte, hat er mich in seine Arme genommen und bitterlich geweint. Er war auch der Erste, vor dem ich mich zu meiner Partnerin bekannte. Auch sie hat er umarmt und in sein Herz geschlossen.

      Hubert hat vielen Menschen die Kirche als Asylstätte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe gezeigt. Er war für viele das sympathische Antlitz einer Kirche,