Gelände vorbei.
|72|Vereinzelte Gehöfte lagen wie Schiffe in der hereinbrechenden Dunkelheit vor Anker. Schließlich kam das letzte Stück offene Landstraße, dann wieder Wald.
Ein herrschaftliches Gebäude löste sich aus der Wand aus Dunkelheit, ein großer, rechteckiger Kasten aus massiven Sandsteinblöcken. Leo hatte selten einen Ort gesehen, der einsamer wirkte, obwohl alle Fenster hell erleuchtet waren. Wald-Residenz stand in verschnörkelten Buchstaben auf einem rustikalen Holzschild, das an zwei Pfeilern mit einem Dach darüber aufgehängt war. Wie der Eingang zu einer Ranch und ziemlich deplatziert, dachte Leo und schob ihr Rad die Auffahrt entlang. Unter ihren Füßen knirschte Kies. Das Leuchtfeuer aus Lichterketten, Fußwegbeleuchtung und Laternen reichte aus, um einen parkähnlichen Garten zu erhellen. Eine Steintreppe führte zum Eingangsportal hinauf, beidseitig von mächtigen Rhododendren flankiert.
Leo klingelte. Schritte kamen näher und die große Eingangstür schwang auf. Eine ältere Frau mit gewelltem weißen Haar und einem nervösen Zucken im Gesicht baute sich vor Leo auf.
»Unsere Besuchszeit ist schon vorbei.« Zuck. »Zu wem wollten Sie?« Zuckzuck.
»Ich bin eine Freundin von Katarina Singer; Leonore Heller. Ich würde gern …«
»Bedaure. Frau Doktor hat heute ihren freien Tag.«
Das nervöse Zucken nahm zu, als wollte eine Hälfte ihres Gesichts unbedingt verhindern, dass die andere freundlich lächelte.
Leo spähte an der Frau vorbei in die Eingangshalle. Auf dem Steinfußboden lag ein flauschiger Teppich. Von der endlos hohen Decke hing an einer langen Eisenkette ein Lüster herunter, dessen Glasprismen funkelten und blitzten. Unwillkürlich musste Leo an Professor Irschinger denken. Auch er hatte lange Jahre ein Heim geleitet, das allerdings längst nicht so luxuriös gewesen war. Er hatte ständig um Gelder und Mittel kämpfen müssen. Für die meisten Menschen bedeutete Altwerden gleichzeitig auch Armwerden.
Leo fiel die merkwürdige Stille im Haus auf. Von den Bewohnern |73|des Heimes war nichts zu sehen, nur leises Geschirrgeklapper verriet, dass sich irgendwo Menschen aufhielten.
Als könnte sie Gedanken lesen, erklärte die zuckende Dauergewellte: »Unsere Senioren haben sich gerade im Fernsehraum versammelt. Ich möchte sie dort nicht zu lange allein lassen. Wenn ich wüsste, wann Doktor Singer wiederkommt, könnten Sie warten, aber …« Sie ließ den Satz in der Schwebe.
»Machen Sie sich keine Umstände. Wenn Sie vielleicht ausrichten, dass ich hier gewesen bin?« Unter Zuckungen wurde es versprochen, dann stand Leo wieder vor verschlossener Tür.
Was für ein ungastlicher Ort.
Leo zuckte mit den Schultern, wandte sich um und – fuhr zusammen. Neben dem dunklen Hügel der Rhododendrenbüsche stand ein Mann. Einen Moment verharrten sie beide regungslos, dann kam er langsam näher, bis Leo im Licht der Eingangslaterne sein Gesicht erkennen konnte, das glatt war und merkwürdig alterslos unter dem grauen Haar. Der Mann trug einen braunen Kleppermantel, der ihm fast bis auf die Füße reichte. Die Pelerine auf den Schultern ließ ihn auf den ersten Blick kräftig wirken. Er überragte Leo zwar um einige Zentimeter, schien aber abgesehen von den Schultern eher schmächtig zu sein.
Mit einem verschwörerischen Lächeln hob er einen Zeigefinger.
»Gleich kommen sie!«
Er legte den Finger auf die Lippen und winkte Leo mit der anderen Hand, ihm zu folgen.
Unschlüssig blieb sie stehen. Wer war er? Ein Heimbewohner, einer von der verrückten Sorte? Er griff nach ihrer Hand und wiederholte eindringlich: »Gleich kommen sie!« Seine Finger fühlten sich warm und rau an.
Leo war inzwischen viel zu neugierig, um sich aus dem Staub zu machen. Sie folgte ihm zur Rückseite des Hauses. Etwas stimmte mit seinem Gang nicht; er hielt sich nicht nur vornübergebeugt, sondern schwankte auch seltsam hin und her. Betrunken war er nicht, sie hatte keine Alkoholfahne gerochen. Ob er Tabletten |74|bekam, die seine Motorik störten? Schlurfschlurfschlurf machten seine Schritte im Kies und begleiteten das rhythmische Knirschen ihrer Schuhsohlen. Zusammen veranstalteten sie einen ganz schönen Lärm.
Während Leo noch darüber nachdachte, ob in diesem Heim vielleicht Patienten mit einem Hang zu gefährlichen Gefühlseruptionen wohnten, die mit Medikamenten ruhiggestellt werden mussten, und sie hier gerade mal wieder einen grandiosen Fehler beging, hob der Mann neben ihr erneut den Finger an die Lippen.
Die offene Parkwiese grenzte auf einer Seite an ein Maisfeld. Es war noch nicht abgeerntet und die trockenen Blätter raschelten unheimlich. Dahinter lag der Wald wie ein dunkles Lebewesen auf der Lauer. Aus einigen Fenstern auf der Rückseite des Heimes fielen Lichtschneisen in den Park, die sich in der Dunkelheit schon nach wenigen Metern auflösten. Leo und ihr Begleiter blieben im Schatten stehen, als direkt neben ihnen ein Fenster aufleuchtete. Der Mann neben Leo verharrte wachsam.
»Mein Zimmer!«, wisperte er. Im Fenster erschien der Umriss eines Mannes. Er drückte sein Gesicht an die Scheibe.
»Karl!« Erleichtert trat Leos Begleiter einen Schritt vor.
Das Fenster wurde geöffnet und der, der Karl hieß, beugte sich hinaus und blinzelte mit kurzsichtigen Augen hinter fingerdicken Brillengläsern in die Nacht. Leo bemerkte, wie sorgfältig er gekleidet war: kariertes Jackett, blütenweißes Hemd und Fliege. Sein weißes, streichholzkurzes Haar war so dick, dass es in Büscheln über den Ohren abstand. Es schien noch jemand neben ihm zu sein, irgendwo weiter unten, denn Karl wurde abgelenkt und sah zu Boden.
»Ja doch! – Ja!«, flüsterte er. Leo reckte sich und erkannte die Oberseite eines Kopfes, bedeckt von flaumigem dunklen Haar.
»Was ist?«, fragte der Mann neben ihr.
»Du musst aufpassen!«, warnte Karl. »Die Loss sucht dich.«
»Keine Sorge. Komme gleich. Will ihr nur was zeigen.«
Er meint mich, dachte Leo. Karl schob sein Gesicht in ihre Richtung. |75|Es war zweifelhaft, ob er in der Finsternis viel sah, aber er deutete eine Verbeugung an:
»Gnädige Frau!«
Eine lange, magere Hand tauchte von unten auf und zerrte an seinem Ärmel. Karl beugte sich hinunter und wandte sich dann wieder an Leo:
»Entschuldigen Sie uns«, sagte Karl. »Wir müssen!«
Er schloss das Fenster und verließ mit seiner unsichtbaren Begleitung den Raum. Das Licht ging wieder aus.
»Karl und Esmeralda«, erklärte der Mann neben Leo. »Esmeralda sitzt im Rollstuhl, aber sonst ist sie in Ordnung.«
Leo suchte noch nach einer passenden Antwort, als der Mann ihre Aufmerksamkeit auf den Wald lenkte.
»Jetzt geht’s los!«
Direkt am Waldrand knackte es. Und dann brach etwas mit dem Getöse einer Planierraupe durch das Unterholz. Leos Muskeln spannten sich an. Sie warf einen nervösen Blick auf den Mann neben sich. War es in Ordnung, dass sie hier seelenruhig herumstanden? Kein Zaun trennte den Park von dem Niemandsland auf der anderen Seite. Je näher der unheimliche Lärm kam, desto mehr erwärmte sie sich für den Gedanken, ins Haus zu flüchten.
Und dann kamen sie. Gedrungene schwarze Gestalten am Waldrand. Sie hielten inne. Sie witterten. Sie grunzten.
Wildschweine! – Es waren Wildschweine, eine Rotte mit Tieren in allen Größen. Leo fand sie allesamt beeindruckend groß. Zielstrebig hielten sie auf das Maisfeld zu, um zwischen den hohen Stängeln zu verschwinden. Im Inneren des Feldes begannen sie geräuschvoll ihre Mahlzeit.
»Hast du gesehen? Sie kommen jeden Abend. Und manchmal auch frühmorgens«, wisperte es neben ihr. »Ich kann sie aus meinem Zimmer sehen.«
Plötzlich wurde das Fenster aufgerissen. »Justus?« Die Frau, die Leo die Tür geöffnet hatte, lehnte sich hinaus. »Justus, sind Sie da irgendwo?«
|76|Sie hatte sich