Ilka Sokolowski

Die heimliche Geliebte


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es wird Zeit, dass Sie hereinkommen. Es ist zu kalt. Außerdem gibt es bald Abendessen.«

      »Komme, Frau Loss«, sagte Justus und machte sich mit einer übertriebenen Verbeugung über den Befehlston in ihrer Stimme lustig. »Gleich.«

      Das Fenster wurde wieder geschlossen.

      »Ich mag nicht, wenn sie in mein Zimmer geht«, murmelte Justus. Dann zwinkerte er Leo zu. »Sie kann sie nicht leiden.«

      »Äh, mich?«

      »Die Wildschweine. Weil sie manchmal in den Park kommen.«

      Für Leo das Stichwort für einen abrupten Rückzug. Als sie wieder zur Vorderseite des Hauses gingen, fiel ihr auf, dass Justus ein Bein nachzog. Den leicht schwankenden Gang versuchte er durch besonderen Schwung auszugleichen, was ihn aber erst recht auf einen leichten Schlingerkurs brachte. Der weite Mantel segelte schwungvoll mit.

      »Du wolltest zu Doktor Singer«, stellte er unvermittelt fest.

      »Ja«, sagte Leo. Mittlerweile waren sie bei ihrem Fahrrad auf dem Vorplatz angekommen. »Ich kenne sie von früher. Ich bin übrigens Leo.«

      Feierlich schüttelten sie sich die Hände.

      »Sie ist weggefahren«, sagte Justus. »Das ist gut.«

      »Warum?«

      »Weil ich in ihr Zimmer muss.«

      Leo sah ihn beunruhigt an. Vielleicht war er doch verrückter, als sie geglaubt hatte. Er klopfte auf seine Jacke, unter der sich eine leichte Beule abzeichnete.

      »Ich leih mir manchmal was zum Lesen. Das weiß sie aber nicht. Muss es zurücklegen, bevor sie es merkt.«

      »Du hast etwas genommen, was du eigentlich nicht haben darfst?«

      |77|»Nein! – Ja. – Aber ich bring es zurück«, sagte er verlegen. »Und dann ist alles gut, sie hat ja nichts gemerkt.«

      Leo konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

      »Was liest du denn so?«

      »Alles Mögliche. Am liebsten Geschichten über andere Leute. Wie sie so leben.«

      »Ah, Biografien«, nickte Leo.

      »Kann sein. Diesmal hab ich aber was anderes erwischt, so eine Liebesgeschichte. Ich bring sie zurück!«, versicherte er.

      Justus begutachtete Leos Fahrrad von allen Seiten und zog dabei mit seinem Bein Kreise im Kies.

      »Deins?«

      Leo nickte und stellte das Blinklicht an. Er strich über die Feder am Lenker.

      »Hast du eine Elster aufs Korn genommen?«

      »Gefunden. Hier, schenk ich dir. Ein Glücksbringer. Fährst du auch Rad?«, fragte Leo.

      Er schüttelte den Kopf, während er abwechselnd die Feder und Fahrradlenker streichelte. »Früher mal. Aber mit dem Bein …«

      Leo hätte ihn gern gefragt, was damit passiert war, und sich noch länger mit ihm unterhalten. Aber in der Eingangstür erschien wie ein misstrauischer Wachhund Frau Loss.

      »Sie sind noch da? – Justus, Sie müssen jetzt aber hineinkommen, es wird schneien.«

      Leo winkte noch und zog sich die Mütze über die Ohren.

      »Komm mal wieder vorbei«, rief Justus über die Schulter, während Frau Loss ihn ungeduldig ins Haus zog. »Und pass auf die Wildschweine auf, sie sind überall!«

      Als sie auf die dunkle Straße einbog, hörte sie ihn fröhlich grunzen.

      Inzwischen war es völlig finster. Der schmale Lichtkeil, den die Fahrradlampe auf den Weg warf, machte die Dunkelheit rechts und links nur noch undurchdringlicher. Leo überfiel eine bleierne Müdigkeit. Die Erschöpfung nach der langen Strecke, die Anspannung |78|und die Enttäuschung darüber, dass sie Katie nicht angetroffen hatte, hingen wie Gewichte an ihren Beinen. Schweiß lief ihr den Rücken herunter, aber ihre Füße waren kalt.

      Nur noch ein kleines Stück durch den Wald, komm schon, Leo. Und dann so schnell wie möglich nach Stadthagen und schnurstracks in den nächsten Zug nach Hause.

      Scheinwerfer tauchten auf, kamen näher, blendeten ab, fuhren vorbei. Leo warf einen Blick hinter sich. Das Blinklicht funktionierte zum Glück immer noch und schickte tapfer kleine Lichtsignale in die Nacht.

      Sie dachte an Katie und an das Seniorenheim. Was für ein Ort zum Arbeiten und Leben! Nicht unschön, nein, das nicht, im Sommer und bei Tageslicht war es sogar sicher sehr idyllisch. Aber ob Katie sich dort nicht schrecklich einsam fühlte? Kein Wunder, dass sie an ihrem freien Tag das Weite suchte.

      Wieder näherte sich Motorengeräusch. Lichtfinger tasteten sich vor, kamen näher, wurden kräftiger. Ein Auto kam von hinten. Die Strecke war gerade, ihr Blinklicht blinkte, der Fahrer musste sie schon entdeckt haben. Vorsichtshalber fuhr sie trotzdem so weit rechts wie es ging.

      Klang wie ein Sportwagen. Himmel, hatte der ein Tempo drauf! Leo drückte sich noch ein Stückchen weiter an den Rand. Kein Platz zum Anhalten, nur ein Graben.

      Sie konnte es nicht glauben: Der Wagen beschleunigte noch! Der Motor heulte auf, und Leo wurde vom Sog erfasst, als ein roter Blitz so dicht an ihr vorbeiraste, dass einer Mikrobe die Haare zu Berge gestanden hätten. Wenn Mikroben Haare hatten. Aber dieses Detail war im Moment von untergeordneter Bedeutung. Leo riss den Lenker herum und warf sich zur Seite. Schlamm spritzte auf, als sie in den Graben hechtete. Das Fahrrad flog hinterdrein und krachte ihr in den Rücken.

       Verdammt. – Verdammtverdammtverdammt.

      Es tat höllisch weh. Sie wusste im ersten Moment nicht, was schlimmer war, der Schmerz oder der Schock. Als sie den Kopf hob, |79|waren die Rücklichter des Geisterautos schon in der Dunkelheit verschwunden.

      Fluchend rappelte sie sich auf. Manchmal wurde die Welt von merkwürdigen Dingen zusammengehalten: Je lauter Leo fluchte, desto besser ging es ihr. Schmatzend gab der Schlamm ihre Hände und Beine frei, und als sie zitternd und auf allen vieren aus dem Graben kroch, brüllte sie vor Wut.

      »Idiot! – Scheißkerl! – Idiot!« Nicht sehr einfallsreich, aber wohltuend.

      Leo tastete sich ab. Sie hatte sich das Kinn aufgeschrammt und ein gründliches Schlammbad genommen, aber ansonsten schien sie glimpflich davongekommen zu sein. Nur mit ihrem Rücken stimmte etwas nicht, sie konnte nicht gerade stehen. Irgendwo über dem Kreuzbein stach es böse. Sie hielt sich die schmerzende Stelle und versuchte tief durchzuatmen. – Was für ein Wahnsinniger! Völlig gestört. Oder betrunken. Unvermittelt überkam sie das dringende Verlangen nach einem großen Schluck Rum.

      Mit Mühe und Not zerrte sie das Fahrrad aus dem Graben; ihr Rücken protestierte schmerzhaft. Dem Drahtesel war nichts passiert, sogar das Licht blinkte noch. Zitternd und frierend durchwühlte sie die Satteltaschen. Gott sei Dank, die Kamera war heil, die Flaschen mit Rum und Bitterschnaps auch. Nur die Schale bestand jetzt aus drei Teilen. Leo schraubte die Rumflasche auf und legte den Kopf in den Nacken. Etwas Feuchtes wehte ihr ins Gesicht, betupfte ihre Hände, schlüpfte in den Jackenkragen. Es schneite.

      Na wunderbar, auch das noch.

      Nach dem dritten Schluck Rum fühlte sie sich besser. Mit einer Hand voll Laub wischte sie sich notdürftig den Schlamm ab. Noch ein Riegel Schokolade, und sie war in der Lage, weiterzufahren. Vorsichtig stieg sie auf und stellte erleichtert fest, dass die Schmerzen auszuhalten waren, wenn sie kerzengerade saß. Dafür bot sie dem Schnee die größtmögliche Angriffsfläche. Nun gut, man konnte eben nicht alles haben.

      |80|Irgendwann während der Fahrt durch Schnee und Dunkelheit verlor sie jedes Zeitgefühl. Sie war sicher, den direkten Weg nach Stadthagen eingeschlagen zu haben, aber die Strecke kam ihr quälend lang vor. Endlich tauchte der Bahnhof auf, bis auf wenige Reisende verlassen und trostlos. Aber sie hatte Glück, der nächste Zug sollte in einer halben