Sybilla Seraphina Mewes

Sphärenwechsel – Tagebuch eines inkarnierten Engels


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verschwunden.

      Manchmal fand ich mich auch plötzlich außerhalb meines Körpers wieder und da kamen dann Zwerge, die unter unserer Erdgeschosswohnung lebten und die mich an den Händen fassten und herumwirbelten.

      Ganz oft sah ich auch eine wunderschöne Landschaft vor mir. Begleitet wurde das von einem Summen und Brausen, welches sich aus weiter Ferne näherte und mich schließlich völlig umgab. Ich wusste nicht, was das war und konnte es auch nicht abstellen. Daher konnte ich mich nicht darüber freuen, weil ich wusste, dass diese Landschaft nicht so schön blieb. Und in diesem Moment faltete sich diese Landschaft zu einer Kugel, wurde ganz dunkel und bucklig und rollte mit lautem Getöse auf mich zu. Ich hatte aber an der Stelle keine Angst, weil ich wieder schon wusste, dass die Kugel wieder zu der schönen Landschaft wurde. So ging das ständig hin und her: Landschaft – Kugel, Landschaft – Kugel, oft über Stunden und erholsamen Schlaf fand ich keinen.

      Wenn meine Eltern und meine Schwester manchmal abends ausgingen und ich alleine zu Hause bleiben musste, war so ein Abend immer mit Angst durchsetzt. Obwohl alle Lichter an blieben (ich wollte das so) und ich eine lange Musikkassette von meiner Schwester hörte, fürchtete ich mich entsetzlich. Da waren klackende Schritte auf dem Parkett, die sich vom Wohnzimmer her zu mir bewegten, das Parkett knackte und knarzte, Türen klappten, Geschirr und Besteck klapperte, Stimmen wisperten aus weiter Ferne und wieder beugte sich etwas über mein Bett. Ich lag wie erstarrt im Bett, versteckte mich unter meiner Bettdecke und traute mich nicht, mich zu bewegen.

      Im Mecklenburger Urlaub wanderten wir sehr oft im Wald und suchten Pilze. Schon damals liebte ich den Wald über alles; das Licht zusammen mit dem vielen Grün, die Geräusche der Bäume, der Gesang der Vögel, das Summen der Insekten und vor allem die verschiedenen Düfte. Besonders der Pilzduft hatte es mir angetan. Am liebsten hätte ich die Pilze gleich roh gegessen. Ich saß auf dem Waldboden und fiel in eine Art leichte Trance. Bilder stiegen in mir hoch, ich und auch die Umgebung veränderte sich. Ich sah mich als kleines braunes Wesen blitzschnell zwischen den Pilzen umhersausen und mich von den Pilzen ernähren. Ich sah auch meine Behausung unter einer Wurzel, dann viele Behausungen und viele solcher Wesen. So ging es immer weiter, bis meine Eltern mich mehrmals riefen. Ich hatte sie zuerst gar nicht gehört, weil ich nicht mehr ansprechbar gewesen war.

      Mein Vater sagte zu alldem immer, auch späterhin, dass würde ich mir alles nur einbilden oder hätte es nur geträumt. Das wäre eine einfache Erklärung gewesen, aber so war es nun mal nicht.

      Jedes Mal, wenn ich krank war, hörte ich stundenlang Märchen, in denen ständig jemand starb. Eines Tages fragte ich meinen Vater, was passieren würde, wenn jemand tot sei und was der Tod ist. Er antwortete mir, das sei wie einschlafen und nie wieder aufwachen. Dann käme die Person in einen Holzkasten also Sarg, und würde in der Erde verbuddelt werden. Ich schaute ihn mit großen Augen an: „Und da ist dann gar nichts mehr? Der macht nie wieder irgendwas?“ Er sagte: „Nein, da ist überhaupt nichts mehr.“ Eine Stimme in mir regte sich sachte: „Nein, das kann nicht sein.“ Und sie wurde lauter und lauter: „Neeeiiin ...“ Aber ich sagte nichts darauf, obwohl ich in mir spürte, dass das nicht stimmen konnte.

      Meine Mutter arbeitete ganztägig in der städtischen Bücherei und mein Vater als Lehrerbildner an einem Institut. Er kam schon am Nachmittag nach Hause, brachte aber immer eine Menge Arbeit mit, hauptsächlich zu korrigierende Aufsätze oder Hausarbeiten der Studenten.

      Ich musste mir mit meiner Schwester ein Zimmer teilen; sie war neun Jahre älter und von der ersten Sekunde an eifersüchtig auf mich. Unterm Tisch trat sie oft nach mir und stritt dann alles ab. Oder dann, wenn ich mit ihr in der Stadt war, so mit drei Jahren, versteckte sie sich plötzlich und ich bekam fürchterliche Angst, weil ich nicht mehr wusste, wo ich war und wie ich nach Hause kommen konnte. Sie musste mir auch öfters mittags das Essen machen, da meine Eltern beide länger arbeiteten und ich schon mittags aus der Schule kam. Und da kochte sie manchmal ihr Lieblingsessen, was ich am wenigsten mochte: Lungenhaschee. Das war zerkleinerte Lunge und schmeckte so eklig glibberig. ‚Ih gitt, wie konnte jemand so was gern essen?‛ Meine Halbschwester aß oft meinen Weihnachtskalender leer und wenn ich dann weinte, freute sie sich darüber.

      Nach der Scheidung meiner Eltern besuchte ich meinen Vater alle zwei bis drei Wochen am Sonntag. Er wohnte nun bei der anderen Frau, wegen deren Brief meine Mutter so ausgerastet war. Meine Eltern schilderten mir beide ihre Version, warum die Ehe gescheitert war. Beide gaben dem anderen die Schuld und wollten das über mich austragen. Und meine Mutter war oft eifersüchtig, wenn ich meinen Vater mal ‚außer der Reihe‘ besucht hatte.

      In den weiteren Jahren sah ich meinen Vater unregelmäßig. Manchmal fuhren wir zusammen zu Familienfeiern der Verwandten von seiner neuen Frau. Unsere Begegnungen verliefen meistens neutral-harmonisch. Dennoch spürte ich, dass er gewisse Erwartungen mir gegenüber hegte. Schon immer hatte er mich als zu sensibel und verträumt gefunden. Unzählige Male musste ich mir Mimose, Zimperliese und Mehrsuse anhören.

      Er selbst hatte sich der Landschaftsmalerei verschrieben und dachte nun, dass ich seine künstlerischen Anlagen geerbt hätte. Da dem aber nicht so war, schlug mir manchmal eine latente Enttäuschung von ihm entgegen. Meine Potentiale lagen jedoch ganz woanders.

      Als diese sich zu zeigen begannen, entschied er sich, weil er als Mensch ja einen freien Willen hat, plötzlich gegen meinen Seelenauftrag und das Ganze eskalierte.

      In meinem 27. Lebensjahr hatte ich eine Phase, in der ich mich nur noch von Rohkost ernährte. Bei einem Gespräch mit meinem Vater und seiner Frau, bei dem es nicht nur um diese Ernährung ging, sondern auch um den Glauben an Gott, um alternative Heilmethoden etc., geriet das Gespräch aus dem Gleis. Mein damaliger Lebenspartner wies beide mit Ironie darauf hin, ob sie sich denn mit ihrem üppigen täglichen Tablettencocktail wohl fühlen würden. Uhh, das war zuviel für meinen cholerisch veranlagten Vater. Er lief rot an, sprang von seinem Gartenstuhl auf und rannte aufgebracht ins Haus. Betroffenes Schweigen herrschte für einige Minuten zwischen uns.

      Im weiteren Gespräch erzählte ich seiner Frau von meinen außerkörperlichen Erfahrungen und den Geistwesen, die ich wahrnehmen konnte. Damit wollte ich ihnen besondere Botschaften nahe bringen, aber auch das wurde völlig falsch verstanden. Dabei bemerkte ich nicht das leicht spöttische Grinsen von ihr. Diese sagte zu mir:

      „So etwas darf dein Vater aber nicht erfahren, ich glaube, da rastet er dann völlig aus.“

      Bisher hatte ich mich mit den beiden immer gut verstanden, bis auf so einige affektierte Freunde von ihnen. In deren Gesellschaft hatte ich mich oft unwohl gefühlt, weil ich damals schon sofort fühlen konnte, dass vieles nur aufgesetzt und nicht wahrhaftig war.

      Diesmal jedoch war die Stimmung gedrückt, als ich wieder nach Hause fuhr.

      Drei Tage später lag ein Brief im Briefkasten mit meinem Vater als Absender. Nichts Böses ahnend öffnete ich den Brief und war völlig unvorbereitet auf das, was ich zu lesen bekam:

       „Meine liebe Tochter,

       unser letztes Zusammensein hat mich doch sehr in Aufregung versetzt und ich frage mich, in was du da hinein geraten bist. So wie ihr euch zurzeit ernährt, empfinde ich als äußerst gefährlich und einseitig. Und auch solche Geschichten mit außerkörperlichen Erlebnissen lässt mich auf einen verwirrten Geist schließen. Menschen, die an einen Gott glauben und ihn anbeten, gehören meiner Meinung nach alle in die Irrenanstalt. Dass die meisten Krankheiten von seelischen Problemen herrühren sollen, hat deine Mutter auch schon behauptet, pass bloß auf, dass du nicht so wirst wie sie.

       Wenn ihr uns weiterhin besuchen wollt, dann nur unter der Voraussetzung, dass ihr euch mit dem Essen uns unterordnet und in Zukunft solcher Art Gespräche unterbleiben, da mir so eine Aufregung zu sehr schadet.

       Mit freundlichen Grüßen

       Dein Vater“

      Ich saß da wie vom Donner gerührt, ich fühlte mich wie gelähmt, als ich das las; eine eisige Hand griff nach meinem Herz, drückte zu und kalte Schauer liefen über meinen ganzen Körper. Etwas in mir zerbrach, für immer.