ich den zwischen Bergen gelegenen rauschenden Forst, die Kavalkade1 der Herren und Damen, das Hallen und Widerhallen der Jagdhörner, Prinz und Prinzessin, ein junges Paar, das sich liebte und die Liebe verschweigt, die Angst des gehetzten Tieres, das mit herrlichem Schwunge den Bach und den umgestürzten Baum überspringt, das Rasen der Hunde, das brechende Auge des Wildes voller Anklage, sein Verenden und schließlich das Halali. Diesen »Hirschtod« genannten Hornruf der Jägerei konnte ich mir nie genug zu Gehör bringen.
Freilich spielte ich auch gelegentlich »O du lieber Augustin, alles ist hin!« oder »Lott’ ist tot, Lott’ ist tot, Jule liegt im Sterben!« oder weniger harmlose Gassenhauer, die ich auf der Straßenseite meines Doppellebens kennengelernt hatte.
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Tag für Tag begegnete ich meinem Bilde in einem ovalen Wandspiegel mit breitem Mahagonirahmen. Er hing ziemlich hoch, aber vornübergebeugt, sodass ich mich darin sehen konnte. Kam ich von meinen Streifereien durch alle Winkel der Anlagen des Ortes zurück, so stellte ich mich meist unter ihn, und jedes Mal stieg mir die Frage auf, ob ich das gestern auch schon getan, mich im Spiegel wie heute erblickt habe und das mir beweisen könne. Dann schien es mir immer, ich könne das nicht. Wenn ich es aber wirklich nicht konnte, so war es nicht sicher, ob ich am gestrigen Tage gelebt hatte. Heute aber, so schloss ich, lebte ich ganz gewiss.
Es war jedenfalls die Magie des Daseins, die mir damals ins Bewusstsein trat.
1 (bei einem festlichen Anlass auftretende) Gruppe von Reitern <<<
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Der Gasthof Zur Sonne, dem Kurhausportal schräg gegenüber, wurde geführt von einem ehemaligen Schullehrer, der die Tochter des Pastors Booß an der evangelischen Kirche zu Nieder-Salzbrunn geheiratet hatte. Dieser Pastor Booß war ein älterer, kluger Mann und sehr wohlhabend. »Hörn Sie nur, hörn Sie nur!« war seine immer wiederkehrende, unvermeidliche Redensart.
Wenn er meine Eltern besuchte, geschah es auf einen Augenblick: »Hörn Sie nur, ich habe nur eine Sekunde Zeit, hörn Sie nur. Die Arbeit wächst mir über den Kopf, hörn Sie nur. Der Oberkirchenrat, hörn Sie nur, und, hörn Sie nur, alle die neuen Zustände! Wir bekommen auch noch die Zivilehe, hörn Sie nur! Es wird ja alles jetzt auf den Kopf gestellt.«
Aus der Sekunde, die Pastor Booß sich gestatten wollte, wurde erst eine viertel, dann eine halbe Stunde, zuletzt wurde eine Stunde, wurden zwei, drei, vier daraus: so gut hatte sich der alte Herr jedes Mal mit meinem Vater und meiner Mutter auseinandergesetzt. Dabei hörte er weniger ihnen als sie ihm die Beichte ab.
Ich weiß nicht, aus welchem Grunde der damalige Wirt der Sonne, Rudolf Beier, seinen Lehrberuf an den Nagel gehängt hatte. »Ich war nun nicht gerade ganz einverstanden, hörn Sie nur, hörn Sie nur«, erklärte des öftern der Pastor, »aber es war nicht recht zu machen mit ihm. Meine Tochter hat ihn geheiratet. Was sollte ich tun? Ich habe ihm also den Gasthof gekauft. Einverstanden war ich nicht gerade mit der Wahl meiner Tochter, hörn Sie nur, aber in solchen Fällen ist guter Rat teuer.«
Am Ende eines pastörlichen Kurhausbesuches waren oft manche leere Weinflaschen beiseite gestellt.
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Carl und ich teilten mit der Mutter ein Schlafzimmer. Fenster und Glastüren gingen auf eine breite Veranda hinaus. Darunter lag eine winters gespenstisch verödete Terrasse, an welche die Kurpromenaden und ‑anlagen grenzten. Wir Jungens besonders stellten uns vor, dass Einbrüche von der Terrasse über die Veranda in den niedrigen ersten Stock nicht umständlich sein müssten, wenn auch hie und da der Nachtwächter mit der Pfeife durch die Anlagen ging.
So freundlich die an der Straße gelegene Vorderseite des Kursaals war, umso grusliger war des Nachts die Rückseite. Wenn der Sturm von den klappernden Gabeln der alten Bäume heulend oder wie eine Katze greinend die letzten Blätter riss und Gewölke über den Mond jagten, wäre niemand unter den Salzbrunnern ein Gang durch den Kurpark ratsam erschienen, der sommers tagtäglich ein bunter Festsaal war.
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Entlegene Tanzlokale sind in Schlesien volkstümlich, in Wäldern und auf Höhen gelegen doppelt beliebt. Da der Pächter von Wilhelmshöh wohl schwerlich hätte die Pacht zahlen können, wenn er nur mit dem Sommer und den Kaffeegästen des Bades zu rechnen gehabt hätte, besaß er die Konzession, zu gewissen Zeiten Tanzmusiken abzuhalten. Der von Maler Raabe im Geiste der Romantik burgartig errichtete Bau und Ausflugsort, schwebend über dem Industriebezirk, hatte die größte Eignung dafür. Das Publikum aber, das in den Sommer- und Winternächten auf und ab strömte, erforderte einen furchtlosen Wirt, wie den Müller von Wilhelmshöh, der nötigenfalls zu boxen entschlossen, ja unter Umständen zu noch anderm fähig war. Er ist einmal, wie man sagte, in einen Zweikampf mit einem Kohlenarbeiter, der blutig ausging, verwickelt worden.
Kein Wunder, dass solches und ähnliches unsere jungen Gemüter aufregte. Ich muss der Wahrheit gemäß erklären, weniger mich als den Bruder Carl. Nie ging er zu Bett, bevor er nicht alles abgeleuchtet und insonderheit festgestellt hatte, dass kein Einbrecher etwa versteckt unter einer Bettstelle lag. Man ließ ihn gewähren, da ja eine gewisse Vorsicht an sich nicht verwerflich ist, und suchte nur, ihr Übermaß abzudämpfen. Ich aber habe Carl einmal einen Schabernack gespielt. Ich machte, da ich gewöhnlich früher als er zu Bett geschickt wurde, aus Hose, Weste, Rock und Hut meines Vaters einen Popanz zurecht, den ich unter sein Bett legte. Ich hielt einen mit den Armen der Puppe verbundenen Bindfaden in der Hand, wachte in meinem Bette und wartete. Endlich kam mein Bruder herein, während ich mich schlafend stellte, und leuchtete mit einer Kerze alles ab.
Als er unter seine Bettstelle geblickt hatte, tat er es zum zweiten Male, worauf ich an meiner Schnur zupfte. Er stand erstarrt, hielt das Licht und regte sich nicht, bis er damit auf den Zehen gegen die Tür und aus dem Zimmer schlich.
Mit Doktor Straehler, meinem Vater und meiner Mutter kam er nach einiger Zeit zurück. Die Herren trugen jeder sein Billardqueue, meine Mutter lachte und nannte Carl einen dummen Kerl. Und nun ging’s an ein Unter-die-Betten-Gucken.
Ich hatte die Puppe fortgeräumt, als mein Bruder aus dem Zimmer war. Jetzt, bei der wachsenden Helle, spielte ich Aufwachen. Der Vater, die Mutter, der Onkel hatten jeder ein Licht in der Hand, und der Onkel glossierte die Handlung: »Nein, hier liegt der Halunke nicht! Hier ist die Canaille auch nicht vorhanden! Der Bube hat sich in Luft aufgelöst.