Gerhart Hauptmann

Das Abenteuer meiner Jugend


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Abend an­ge­mes­sen. Und, wie ge­sagt: den Lui­sen­or­den, eine De­ko­ra­ti­on, die von ihr am meis­ten ge­schätzt und von al­len am meis­ten be­nei­det wur­de.

      Hat­ten das Kind­lein in der Krip­pe, Ma­ria und Jo­seph, Ochs und Ese­lein aber je sol­che Wor­te ge­hört und in sol­chem Ton, wie sie aus dem Mun­de der Trä­ge­rin des Lui­sen­or­dens nun her­vor­gin­gen? Schon die ers­ten Ver­laut­ba­run­gen der wohl­tä­ti­gen Dame schie­nen den Bart­flaum, den sie auf der Ober­lip­pe trug, ge­wis­ser­ma­ßen zu recht­fer­ti­gen.

      »Ihr wisst, dass ihr von mild­tä­ti­gen Men­schen hier be­schenkt wer­det«, hieß es un­ge­fähr, »und ich set­ze vor­aus, dass ihr das an­er­kennt und dank­bar seid.« Es klang re­so­lut, und man wuss­te so­fort, mit Frau Enke an­bin­den wür­de viel Ener­gie er­for­dern. Sie schüt­te­te dann, sich mehr­fach bis zu Kom­man­do­tö­nen stei­gernd, eine Fül­le mo­ra­li­scher For­de­run­gen aus, die nun noch von den ver­wirr­ten Gäs­ten des Christ­kin­des ver­ar­bei­tet wer­den muss­ten, be­vor sie ihre Por­tio­nen er­grei­fen durf­ten.

      Und plötz­lich ver­nahm man zu all­ge­mei­nem Er­stau­nen und Be­frem­den et­was wie einen wü­ten­den Wort­wech­sel. Man er­kann­te dann, dass er ein­sei­tig war, dass näm­lich Ma­da­me Enke ein hohl­wan­gi­ges Berg­ar­bei­ter­weib aufs schreck­lichs­te öf­fent­lich ab­kan­zel­te: man hat­te ihm, hieß es, im vo­ri­gen Jahr Kin­der­klei­der und der­glei­chen ein­be­schert, die sie nicht ver­wen­det, son­dern ver­kauft habe. »Ei­gent­lich ge­hö­ren Sie gar nicht hier­her, Sie ver­die­nen gar nicht, aufs neue be­schenkt zu wer­den. Aber mer­ken Sie sich: es ist heu­te das letz­te Mal, falls Sie sich wie­der­um sol­cher Be­güns­ti­gung un­wür­dig zei­gen!«

      Es war wohl der äu­ßers­te Tief­stand, auf den die ge­mü­ti­schen Ei­gen­schaf­ten der Ma­da­me Enke je ge­sun­ken wa­ren.

      Die­ses Er­leb­nis, im ho­hen Gra­de roh, ent­rüs­tend und an­stö­ßig, ist mir als ein Pa­ra­dig­ma sol­cher Ver­an­stal­tun­gen, wie sie nicht sein sol­len, bis heu­te nach­ge­gan­gen. Ma­da­me Enke hat­te auf mei­ner Büh­ne aus­ge­spielt.

      Die Fa­mi­lie fei­er­te in die­sem Jahr ein sehr an­spruchs­lo­ses Weih­nachts­fest, das mir al­ler­dings eine Drei­vier­tel­gei­ge als Ge­schenk brach­te. Ich hat­te mir ein­ge­re­det, es schlumm­re in mir viel­leicht ein Mu­si­ker. Al­lein der Grund, wes­halb ich mir eine Gei­ge ge­wünscht hat­te, war nicht der. Durch zwei Um­stän­de ist er wahr­schein­lich ge­legt wor­den. Mei­nem Va­ter war eine Gei­ge ge­stoh­len wor­den, die er von sei­nem Groß­va­ter über­kom­men hat­te, ei­nem We­ber und Dorf­mu­si­kus, der als sol­cher auch im Kir­chen­dienst der Stadt Hirsch­berg mit­wirk­te. Die Gei­ge in ih­rem Kas­ten hat­te im Gro­ßen Saa­le der Kro­ne ge­stan­den, Ein­bre­cher hat­ten zur Win­ter­zeit die Schei­ben der großen Gla­stü­ren ein­ge­drückt und die Gei­ge viel­leicht nur des­halb ge­raubt, weil der glän­zen­de Mes­sing­be­schlag des Kas­tens sie an­lock­te. Es mag ein gu­tes, al­tes Ti­ro­ler In­stru­ment ge­we­sen sein, bei­lei­be kein Stra­di­va­ri­us, aber die Pie­tät, die mein Va­ter da­für be­saß, fer­ner die Fan­ta­sie von uns Kin­dern und schließ­lich die un­be­grenz­ten Mög­lich­kei­ten, die bei al­ten Gei­gen ge­ge­ben sind, mach­ten sie am Ende dazu.

      Die­se Gei­ge lag mir im Sinn und des­glei­chen der mu­si­ka­li­sche Ur­groß­va­ter. Und über­dies leb­te in Salz­brunn Dok­tor Oli­vie­ro, ein viel­be­schäf­tig­ter prak­ti­scher Arzt, der aus­ge­bil­de­ter Gei­ger war und sei­ne be­rufs­frei­en Stun­den der Gei­gen­kunst wid­me­te. Wäh­rend des Kur­saal­win­ters ent­stand das fan­tas­ti­sche Gerücht, dass er we­gen ei­ner Gei­ge in Un­ter­hand­lun­gen ste­he, die fünf-, sechs- oder acht­tau­send Ta­ler kos­ten sol­le. Es war ein be­grün­de­tes Gerücht, die Gei­ge ge­lang­te in sei­ne Hän­de.

      Ir­gend­wie hat­te sich im An­schluss an die­se Um­stän­de eine fa­na­ti­sche Gei­gen­sehn­sucht in mir fest­ge­setzt. Es kam wohl auch Ei­tel­keit dazu, Ein­drücke der Ge­pflo­gen­hei­ten des ele­gan­ten Ka­pell­meis­ters von der Kur­ka­pel­le. Wenn die­se, wie öf­ters, Strauß­sche Wal­zer spiel­te, nahm er die Gei­ge selbst in die Hand, um die Spie­ler zu hö­he­rem Schwun­ge fort­zu­rei­ßen.

      So zog mein Va­ter denn Dok­tor Oli­vie­ro zu Rat, als mein Wunsch im­mer bren­nen­der wur­de. Man möge mir, sag­te der Dok­tor, ru­hig will­fah­ren, man be­kom­me ja schon für ei­ni­ge Ta­ler ein für den An­fang ge­nü­gen­des In­stru­ment, und was sol­le ein Ver­such, gei­gen zu ler­nen, dem Kna­ben scha­den? Und schließ­lich bot Oli­vie­ro sich an, mich, selbst­ver­ständ­lich ohne Ent­gelt, zu un­ter­wei­sen.

      Worauf denn auch wirk­lich der Un­ter­richt nach Neu­jahr be­gann.

      Dok­tor Oli­vie­ro hat­te die ge­pfleg­tes­te und be­hag­lichs­te Häus­lich­keit. In den Zim­mern hör­te man kei­nen Tritt, weil die Fuß­bö­den mit ei­ner dün­nen Schicht Stroh über­deckt und mit Tep­pi­chen über­spannt wa­ren. Das Ehe­paar Oli­vie­ro war kin­der­los. Er, ein nicht großer Mann mit ei­nem beetho­ven­ähn­li­chen, aber ge­las­sen-gü­ti­gen Mu­si­ker­kopf, sie, eine statt­li­che, schö­ne Frau, die er­heb­lich jün­ger als er sein muss­te. Ich fühl­te mich wohl in die­sem Hau­se, des­sen Kul­tur eine in Salz­brunn un­ge­wöhn­li­che war und in dem ich mit ei­nem stil­len Gleich­maß von Güte be­han­delt wur­de.

      Dok­tor Oli­vie­ro ging wäh­rend der Un­ter­richts­stun­de, im­mer mit aus­ge­such­tes­ter Ak­ku­ra­tes­se ge­klei­det, die Gei­ge an der Schul­ter, mit be­que­men Schrit­ten hin und her, jede Pau­se mei­ner jäm­mer­li­chen Krat­ze­rei be­nut­zend, um sich mit Läu­fen, Tril­lern, Dop­pel­grif­fen, Ok­tav­gän­gen und Fla­geo­letts schad­los zu hal­ten.

      Mit­un­ter blick­te oder trat die schö­ne Arzt­frau her­ein, an vor­neh­mer Hal­tung und Klei­dung ein Typ, nach dem man heut im Hau­se ei­nes Land­arz­tes eben­so­lan­ge wie da­mals su­chen müss­te. Manch­mal er­hielt ich dann eine Sü­ßig­keit, oder es wur­de uns, wenn es drau­ßen sehr kalt war, in den stets über­heiz­ten Zim­mern Tee ser­viert. Man spür­te in al­lem, Ta­pe­ten, Mö­beln, Bil­dern und Vor­hän­gen, eine be­son­de­re Wohl­ha­ben­heit, die in der Tat hier zu­grun­de lag und nicht aus der Berg­manns-Pra­xis stamm­te.

      Nie üb­ri­gens sah man Dok­tor Oli­vie­ro in ir­gend­ei­ner Gast­stu­be noch in der Re­stau­ra­ti­on ir­gend­ei­nes Ho­tels oder gar sei­ne Frau und ihn bei win­ter­li­chen Res­sour­ce­bäl­len oder den som­mer­li­chen Soi­reen für Ba­de­gäs­te. Fürst­lich pri­vi­le­gier­ter Ba­de­arzt war Dok­tor Oli­vie­ro nicht.

      *

      Eine Drei-Kai­ser-Zu­sam­men­kunft stand vor der Tür. Bis­marck hat­te sie im In­ter­es­se des Frie­dens – der Sie­ger will im­mer den Frie­den! – an­ge­regt. Alex­an­der II. von Russ­land, Franz Jo­seph von Ös­ter­reich und Wil­helm I. ei­nig­ten sich zur Auf­recht­er­hal­tung des Frie­dens und des Sta­tus quo. Kurz, al­les traf alle mög­li­chen An­stal­ten, um dem neu­en Reich und der neu­en Welt eine Frie­den­se­po­che zu ge­währ­leis­ten, in der sich ein fried­li­cher Wett­streit, des­sen Kräf­te wie un­ge­dul­di­ge Ros­se in den Ge­bis­sen schäum­ten, gren­zen­los ent­fal­ten konn­te und soll­te.

      In die­se er­war­tungs­vol­le, von nah er­füll­ba­ren Hoff­nun­gen