und Sanitätsrat Biefel, nicht minder elegant, lagen wie immer vor dem Portal des Brunnenhauses peripatetisch1 ihrer Praxis ob. Schwindsüchtige und Gesunde promenierten durcheinander, jeder das Glas mit kaltem oder gewärmtem Brunnen oder einem Gemisch von Eselsmolken und Brunnen in der Hand.
Der sauber und stilecht kostümierte Tiroler war ein schöner, zwischen sechzig und siebzig stehender alter Mann mit kraftvoll gebräunten Knien und prächtigen Schultern. Sein gewaltiger Schnurrbart, der kein dunkles Haar zeigte, war wohlgewachsen und wohlgewichst, sein dichtes, schneeweißes Haupthaar desgleichen. Wie eine glänzende, bürstenartige Kappe stand es um seinen Kopf.
Das Wohlgefallen war groß, wo immer dies Musterexemplar eines Steiermärkers, Kärntners oder Pinzgauers vorüberkam. Man wurde dann allgemein auf ihn aufmerksam, als er sich vor dem Musiktempel unter den Augen der Kurkapelle und ihres Dirigenten zu tun machte.
Seine Vorkehrungen, die ich wie alle, die sie sahen, mit einer Art heiteren Spannung verfolgte, zeigten eine gewissermaßen humoristische Seltsamkeit. Er rückte zunächst eine kleine, quadratische, frisch gehobelte Kiste im Gartenkies zurecht, die er mit einem roten Tuch überdeckte. Es löste allgemeines Gelächter aus, als er mit seinen Nagelschuhen diesen farbigen Sockel betrat und krachend eindrückte.
Der kernige Mann ging nun ohne sein Piedestal2 dazu über, die Darbietung der Kurkapelle mit schrillem Vogelgeschmetter zu begleiten, was, wäre es nicht so rührend naiv gewesen, ohne Zweifel ein Unfug war. Als er seine Kunst eine Weile zum Ergötzen der Promenade ausgeübt hatte, sah man drei Brunnenschöpfer in schlesischer Bauerntracht, mit langen Schaftstiefeln an den Füßen, durch das bunte Gewühle schwer herantrapsen. Das Trio packte den weißhaarigen Mann, nahm ihn, nolens volens, teils am Kragen, teils bei den Händen und führte ihn trotz seinem Widerstande, seinem eigenen Proteste und dem der Kurgäste in das Kellergefängnis des Polizeigewahrsams ab. Manser, der neue Brunneninspektor, hatte, seine Kompetenz überschreitend, diese sinnlose Arretierung verfügt.
Die Empörung war allgemein. Wochenlang müssen dem neuen Manne die Ohren von keineswegs schmeichelhaften Urteilen über die Brutalität seines widersinnig-antideutschen Eingriffs geklungen haben.
Meine Schwester Johanna war aus der Pension zurückgekehrt, zu einem schönen Mädchen herangewachsen und ein wahres Musterbeispiel von Wohlerzogenheit. Sie wohnte in einem Zimmerchen des Hotels, hielt sich aber tagsüber meist im Kurländischen Hof, dem Hause des Fräuleins von Randow, auf, deren Pflegetochter, Fräulein Jaschke, eine geprüfte Lehrerin, ihr Unterricht im Französischen gab und überhaupt ihre Erziehung fortsetzte.
Wie Johanna jetzt mit Messer und Gabel bei Tisch verfuhr, erregte mir staunende Bewunderung. Die englische Art und Weise zu essen, bei der man um nichts in der Welt das Messer zwischen die Lippen bringen durfte, war damals aufgekommen. Selbstverständlich, dass Johanna geschmackvoll gekleidet war und dass ihr gesamtes Auftreten nunmehr dem einer Tochter aus gutem Hause entsprach. So war ich überaus stolz auf sie, obgleich ich mich zu ähnlich abgezirkelten Formen, was mich selbst betraf, keineswegs verstehen konnte.
Wenn ich mich mit meiner schönen Schwester damals in den Promenaden zeigen konnte, fand sich dagegen mein Familienstolz aufs höchste befriedigt.
Beständig schien sie Geburtstag zu haben, wenn man die Huldigungen durch Konfekt und Blumen berücksichtigte, mit denen tagaus, tagein ihr Zimmer bedacht wurde.
Ein besonderer Verehrer Johannas war der alte Ostelbier3 Huhn, derselbe, der mir einmal das Danaergeschenk des Rollwagens mit vier Pferden in einem Verkaufsstand der Elisenhalle aufgedrängt hatte. Auch Gustav Hauptmann, wie selbstverständlich, huldigte ihr. Es war nicht das erste Mal, dass einer hübschen Nichte gegenüber der Onkel in den Courmacher überging.
Durch Johannas Erfolge wurde damals Tante Elisabeth Straehler, eine der nun verwaisten Schwestern vom Dachrödenshof, aus ihrem Versteck hervorgelockt. Dass sie bereits zweiunddreißig zählte, die Nichte Johanna aber kaum siebzehn, konnte sie dieser schwer vergeben. Noch ist mir ihr Antlitz erinnerlich, dessen Nase und Mund eine gewisse Scheelsucht nicht verbergen konnten, wenn sie Johannas ansichtig ward. Da trug meine Schwester etwa ein zu kurzes Kleid, oder es war zu tief ausgeschnitten. Sie nannte es auch einen Skandal, wenn es sich durch lebhafte Farben und hübschen Schnitt auszeichnete, und stand nicht an, auf gewisse provokante Damen der Straße dabei anzuspielen. Ihr Mundwerk brachte es manchmal so weit, dass sich Hannchens Zorn in wütenden Tränen austobte.
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Die Reste des Geistes vom Dachrödenshof standen nicht mehr im Zentrum des Orts, sondern waren gleichsam irgendwo ins Dunkel der Peripherie gerückt, besonders seit Manser erschienen war und eine angeblich ziemlich pomphafte Residenz in den langen Dienstgebäuden hinter dem Brunnenhof errichtet hatte. Für das bucklige Täntchen Auguste gilt dies indessen nur bedingt. Fromm und resigniert wie sie immer war, wurde sie nur durch das bittere Aufbäumen ihrer Schwester gegen die veränderten Umstände aufgestört und in deren seelische Miseren wieder und wieder gegen ihre Neigung hineingezogen. Gemeinsam freilich war beiden Schwestern die entschiedene Absage an die neue Zeit, die sie durchaus nicht verstehen konnten, nur dass Tante Auguste sich nicht erst jetzt von der Welt abzuwenden brauchte, da sie schon seit langem ihr Genügen in der Bibel, in Thomas a Kempis, in frommen Poesien und Musik gesucht und gefunden hatte.
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Um jene Zeit schloss ich mich auf eine fast seltsame Weise an meine Schwester an. Liebte ich sie? War es Eifersucht? Ich maßte mir jedenfalls an, sie auf mancherlei Weise zu tyrannisieren.
Ich hatte Freude an jedem heimlichen Schabernack. Hatte meine Schwester sich in den heißen Nachmittagsstunden, um zu schreiben, zu lesen oder zu ruhen, in ihr Zimmer zurückgezogen und eingeschlossen, was bei dem Gasthofbetrieb nur natürlich war, so schlich ich heran, klopfte bescheiden an die Tür und war, wenn Johanna öffnete, nicht zu sehen. Ich wiederholte diesen Streich mehrmals am Nachmittag und wurde von ihr niemals entdeckt. Blieb begreiflicherweise das bescheidene Klopfen mit der Zeit wirkungslos, so führte ich Faustschläge gegen die Tür, ein Unfug, den meine Schwester nicht überhören konnte.
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Die Verkaufsstände des Badeortes