Daniel Siegel

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie


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innerhalb von Dyaden, Familien, Schulen, Gemeinschaften und unserer gesamten Gesellschaft als wichtige Aspekte der Entwicklung des Geistes im Verlauf der Zeit und auch hinsichtlich seiner Funktionsweise in der Gegenwart zu sehen. Gemäß dieser Sichtweise sind der Geist, die Beziehungen und das Gehirn Teil einer Wirklichkeit: sie sind ein Energie- und Informationsfluss. Wer wir sind, ist nicht unabhängig von unseren Beziehungen oder von unserem verkörperten Gehirn, sondern wir entstehen genau daraus. Kultur ist keine „Hinzufügung“, die nur Experten verstehen können, sondern es ist die relationale Matrix, in der sich der Geist entwickelt. Lehrer, Kliniker und Eltern – in der Tat wir alle – können die Kraft der Beziehungen nutzen, um das gesunde Wachstum anderer zu fördern. Wir können auch zu „kulturellen Evolutionisten “ werden, die in unseren modernen Gesellschaften die Bedingungen für gesunde Beziehungen schaffen. Hier können wir vorschlagen, dass eine gesunde Beziehung an der Würdigung von Unterschieden zwischen Menschen und der Kultivierung ihrer Verknüpfung* durch mitfühlende, respektvolle Kommunikation erkennbar ist. In buchstäblich allen Dimensionen der Interpersonellen Neurobiologie werden wir diese Erkenntnis wiederfinden: Gesundheit entsteht durch die Verknüpfung differenzierter* Teile eines Systems. Daran sehen wir, dass Integration* die Grundlage guter Gesundheit ist.

      Wenn eine Beziehung integriert ist, dann bewegt sie sich in Harmonie. Das hört sich gut an, aber was genau ist eine integrierte Beziehung? In einer Beziehung besteht Integration aus der Kultivierung mitfühlender Kommunikation, welche die Innenwelten zweier Menschen in einen engen Kontakt bringt. Integration ist die Verknüpfung differenzierter Teile, deshalb werden integrierte Beziehungen durch die Wertschätzung von Unterschieden und die Förderung mitfühlender Verbindungen gekennzeichnet. Solch eine Beziehung zeigt das Merkmal der integrativen Kommunikation*, in der die Innenwelt jedes Menschen – der subjektive Aspekt des Geistes – für seine einzigartigen Eigenschaften gewürdigt wird und in fürsorglicher Kommunikation verbunden ist.

      Integration ist etwas anderes als Vermischung. Integration setzt voraus, dass wir Elemente unseres differenzierten Selbst aufrechterhalten, während wir auch unsere Verknüpfung stärken. Zu einem Teil eines „Wir“ zu werden, bedeutet nicht, dass wir unser „Ich“ verlieren. Integration als ein Schwerpunkt der Intervention in einem ganzen Spektrum von Integrationsbereichen* wird zur fundamentalen Grundlage dafür, wie wir die Prinzipien der Interpersonellen Neurobiologie in der Förderung gesunder Beziehungen anwenden können.

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      Gehirn und Körper

      Worum geht es?

      Das Gehirn* ist ein Begriff, der meist verwendet wird, um ein Organ des Körpers zu bezeichnen, das sich im Schädel befindet und Milliarden von Zellen enthält, die in verschiedenen Gruppen angeordnet sind. Diese Ansammlung von Zellen, der obere Teil des zentralen Nervensystems, den wir meist als Gehirn bezeichnen, ist durch das periphere Nervensystem und all die Signale aus den physiologischen Prozessen* untrennbar mit dem ganzen Körper verbunden. Die Informationen aus dem erweiterten Nervensystem* haben eine unmittelbare Wirkung darauf, wie die im Schädel befindlichen Zellen, oder das „Kopfgehirn“, funktionieren. Hormonelle Informationen aus dem Blutkreislauf formen die Hirnprozesse ebenso wie das Immunsystem. Die Annahme, dass „das Gehirn“ von diesen vielfältigen Informationseingaben des ganzen Körpers unabhängig sei, scheint auf falschen Grundlagen zu beruhen. Aus diesem Grund benutzen wir in der Interpersonellen Neurobiologie* den einfachen Begriff „Gehirn“ als eine Abkürzung für die neuronalen Mechanismen des gesamten Energie- und Informationsflusses*, der sich durch die weitverzweigten wechselseitigen Verbindungen des Körpers und die im Schädel befindlichen Ansammlungen von Zellen bewegt. Kurz gefasst, mit „Gehirn“ bezeichnen wir die verkörperten* Mechanismen des Energie- und Informationsflusses im Körper.

      Implikationen: Was bedeuten das Gehirn und der Körper für unser Leben?

      Das Wissen über das Gehirn ermöglicht es uns, Verwirrung in Einsicht* und Selbstbeschuldigungen in Selbstmitgefühl zu wandeln. Wenn wir andere und uns selbst etwas über die Mechanismen des Energie- und Informationsflusses im Gehirn lehren, wird der Geist gestärkt. Dies wird möglich, weil wir dem Selbst* nicht mehr die Schuld an automatischen Verhaltensweisen geben, sondern stattdessen unsere Erfahrung in Selbsterkenntnis und Selbstverantwortung verwandeln. Eine weitverbreitete Reaktion von Menschen, die etwas über das Gehirn gelernt haben, ist folgende: „Es mag nicht mein Fehler gewesen sein, weil mein Gehirn dies getan hat, aber es liegt in meiner Verantwortung, etwas zu verändern.“ Selbst kleine Kinder können lernen, wie der Energie- und Informationsfluss sich durch die Mechanismen des Gehirns bewegt. Das ist der „verkörperte“ Aspekt der relationalen* und verkörperten Natur des Geistes.

      Wenn wir die verschiedenen Teile des Gehirns kennenlernen, werden wir darin bestärkt, nicht mehr länger nur passiv festzustellen, was das Gehirn für unser Leben vorgesehen hat, sondern wir werden zu den aktiven Autoren unserer eigenen, sich entfaltenden Geschichten, die vom Gehirn beeinflusst sind. Wenn wir beispielsweise lernen, dass die Verknüpfung* differenzierter* Teile des Nervensystems ein wichtiges Mittel ist, um das Gehirn zu integrieren und dafür zu sorgen, dass es harmonisch funktioniert, können wir diese Integration* in unserem Leben absichtsvoll schaffen. Durch das Fokussieren unserer Aufmerksamkeit* können wir bestimmte Regionen im Hirn selektiv aktivieren und dadurch strukturelle Veränderungen im Gehirn erreichen. Dies ist eine zentrale Konsequenz aus dem Wissen über die Funktionsweise des Gehirns und der Aufmerksamkeit, weil wir durch sie wichtige Veränderungen in der Funktion und Struktur des Gehirns erreichen können. Wir müssen den neuronalen Aspekten unseres Lebens nicht tatenlos zusehen. Beispielsweise gibt es bestimmte Hirnregionen, die besonders integrativ sind, weil sie aktiv verschiedene Gebiete miteinander verknüpfen. Wenn wir dies wissen, können wir in der Hirnforschung nach diesen Gebieten suchen. Zudem können wir überlegen, wie das Fokussieren des Geistes diese integrativen Gebiete aktivieren und stärken kann. Integration im Gehirn erzeugt ein ausgeglichenes und koordiniertes Nervensystem. Im Gegenzug erlaubt ein integriertes Gehirn empathische* Beziehungen*. Ein integriertes Gehirn ist die Grundlage für einen resilienten und gesunden* Geist.

      Ein Bereich des Gehirns, der besonders integrativ wirkt, ist der präfrontale Cortex*, der sich hinter der Stirn befindet. In einem Handmodell des Gehirns*, das wir in der Interpersonellen Neurobiologie verwenden, befindet sich diese integrative Region in dem Gebiet, wo die beiden mittleren Fingernägel liegen, wenn die Finger eine Faust bilden. Das Handmodell zeigt die drei wichtigsten Bereiche des dreieinigen Gehirns (s. Abb. D-3). Die Finger als Ganzes stehen für den äußeren Neocortex oder Cortex*, der es uns ermöglicht, die äußere Welt wahrzunehmen und zu denken (s. Abb. D-1). Unter dem frontalen Teil dieser kortikalen Region ruht der limbische* Bereich – er wird hier vom Daumen repräsentiert –, der eine Reihe grundlegender Erfahrungen verarbeitet, wie unsere Emotionen*, Motivationen, verschiedene Arten von Erinnerung*, die Einschätzung von Bedeutung* und unsere Arten der Bindung* (s. Abb. D-2). Unter dieser limbischen Region befindet sich der Hirnstamm*, der durch die Handfläche repräsentiert wird. In diesem Gebiet entsteht die grundlegende Erregung* des Körpers und Gehirns und die Kampf, Flucht oder Erstarrungs- Reaktion bei Gefahr. Auf den Hirnstamm und das limbische System einwirkende Einflüsse kommen auch aus dem Rückenmark (vom Handgelenk repräsentiert). Diese Einflüsse erreichen letztendlich auch die präfrontalen Regionen im Cortex.

      Der präfrontale Cortex verknüpft diese unterschiedlichen Gebiete miteinander und hat eine dominante Wirkung auf die Modulierung der Einflüsse aus den unteren Bereichen. Dieser Prozess wird manchmal als absteigende Hemmung beschrieben. Dabei kann ein Prozess der „kortikalen Kontrolle“ entstehen, in dem subkortikale* Aktivierungen von den hemmenden Einflüssen des Cortex, insbesondere der Präfrontalregionen, außer Kraft gesetzt werden. Die Präfrontalregionen koordinieren und balancieren Einflüsse aus dem Cortex, dem limbischen System, dem Hirnstamm, anderen Körperregionen und selbst Einflüsse von anderen Gehirnen (das heißt, anderen Menschen). Auf diese Weise integriert der präfrontale Cortex soziale, somatische, kortikale, limbische und im Hirnstamm lokalisierte Systeme und macht sie zu einem funktionsfähigen Ganzen. Diese integrativen Mechanismen ermöglichen es uns, in unserem Körper und unseren