Daniel Siegel

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie


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und Informationsfluss und formt dann selbst den Energie- und Informationsfluss im Verlauf der Zeit. Dies ist die rekursive* Eigenschaft des Geistes, die für komplexe Systeme* typisch ist. Ein komplexes System ist ein Cluster interaktiver Entitäten, das für Einflüsse von außen offen ist und in der Lage ist, sich in chaotische Zustände zu begeben.

      Stimmt dies mit Ihrer eigenen Erfahrung des mentalen Lebens überein? In der Denkweise, die wir hier vorstellen, ist das komplexe System, das wir beschreiben, nicht nur unser Gehirn als Organ des Körpers. Vielmehr ist dieses System des Energie- und Informationsflusses im ganzen Körper verteilt und umfasst den Austausch in unseren Beziehungen. Das mentale Leben ist ein emergenter, sich selbstorganisierender Prozess dieses verkörperten und relationalen Energie- und Informationsflusses. Der Geist ist nicht getrennt von unserem Körper oder von unseren Beziehungen – er entsteht aus diesen Aspekten und reguliert sie gleichzeitig.

      „Regulieren“ ist ein wichtiger Aspekt von dieser Arbeitsdefinition eines Kernmerkmals des Geistes. Regulierung umfasst zwei Teile: Monitoring (Beobachtung) und Modulierung. Wir sehen, wie sich etwas bewegt (Monitoring), und dann formen wir es (Modulierung). Dieses „Etwas“ regulieren wir, indem wir „dem Material“, das sich bewegt, folgen, und es dann umwandeln. Wenn Sie beispielsweise Autofahren, dann müssen Sie Ihre Augen offenhalten, um zu sehen, wohin Sie fahren. Ihre Hände und Füße bedienen derweil das Lenkrad, das Gaspedal und die Bremse, um die Bewegung des Autos zu bestimmen. In dieser Definition wird also der regulierende Aspekt des Geistes hervorgehoben. Dadurch können sich Lehrer, Eltern oder klinisch Tätige darauf fokussieren, wie sie das Monitoring und die Modulierung stärken. Wir sind in der Lage, uns selbst und anderen zu vermitteln, wie wir unsere Erfahrung mit größerer Stabilität beobachten, so dass wir mit zunehmender Tiefe, Klarheit und Detailliertheit sehen können. Sobald wir diese Sichtweise des Energie- und Informationsflusses im Körper und in den Beziehungen klarer erkennen, wird es möglich, den Energiefluss in bestimmter Weise zu modifizieren. So können wir die Systeme – Körper und Beziehungen – in Richtung Wohlbefinden verändern. Wir werden diesen Prozess noch genauer untersuchen: Wenn wir den Energie- und Informationsfluss zu etwas hinbewegen, was Integration* genannt wird, dann nähern wir uns auch der Gesundheit* an. Durch diese Form der Entwicklung der Fertigkeiten des Monitorings und der Modulierung entsteht ein stärkerer, gesünderer, flexiblerer und resilienter Geist.

      Aber was genau wird dabei reguliert? Und wo ereignet sich diese Regulierung eigentlich? Wir sind der Ansicht, dass der Geist sowohl in unserem Körper als auch in unseren Beziehungen entsteht. Auf den ersten Blick ist das für viele Menschen kaum akzeptabel, aber lassen Sie es mich erklären: Mentale Prozesse* befinden sich nicht nur in unserem Körper – sie sind auch in unseren persönlichen Beziehungen wirksam und in unserer Kultur eingebettet. Diese Verständnisweise des Geistes umfasst die wissenschaftlichen Erkenntnisse über das Gehirn und die wissenschaftliche Erforschung von Familien, Gruppen, Gemeinschaften, Kulturen* und Gesellschaften. Wir sind der Ansicht, dass der Geist nicht nur „die Aktivität des Gehirns“ ist, sondern stattdessen als emergenter, selbstorganisierender Prozess gesehen werden kann, der aus körperlichen Prozessen und aus unseren Beziehungen entsteht. Der Geist ist also ein Prozess, der sowohl aus dem Körper als auch aus unseren Beziehungen entsteht: Der Geist ist verkörpert und relational. Nun gut, lassen wir diese Vorstellung hier erst einmal so stehen. Doch was ist dann das „Ding“, das tatsächlich reguliert wird, das „Etwas“, das in unserem Körper und in der Kommunikation mit anderen geteilt wird? Die Antwort lautet: Energie.

      Energie* wird von Physikern als die Fähigkeit beschrieben, „etwas zu tun“. Manchmal kann Energie einen dazu befähigen, eine „Arbeit“ zu verrichten, aber zu anderen Zeiten ist es einfach die „Fähigkeit, Dinge zu tun“: ein Potential schaffen, eine Bewegung, Veränderung oder Handlung auslösen. Aus dieser Perspektive kann Information* als ein Wirbel von Energie betrachtet werden, ein Energiemuster, das etwas anderes als sich selbst symbolisiert. Das Wort „Eiffelturm“ ist ein Energiemuster, das symbolisch für den Turm steht, aber es ist nicht der Turm selbst. Die Energie des Turmes kann als Klangwellen mittels kinetischer Energie (wenn wir die Worte hören) oder als Lichtwellen mittels der Energie der Photonen (wenn wir das geschriebene Wort sehen) weitergetragen werden. So kommunizieren wir in Beziehungen – durch den Austausch von Energie- und Informationsflüssen. Im Gehirn wird zwischen den Neuronen* elektrochemische Energie ausgetauscht. Jede dieser Energieformen kann ein Muster mit Bedeutung annehmen, einen Energiefluss, der für etwas anderes steht, als den Energiewirbel selbst. Das meinem wir mit Informationen, die von Energie getragen werden. Allerdings tragen nicht alle Energieflüsse Informationen. Laute Geräusche können Merkmale, Aspekte, eine Beschaffenheit und eine messbare Dimension haben, aber diese Daten sind nicht das Gleiche, wie eine Information in der Weise, wie wir den Begriff hier definieren. Bedeutung und ein symbolischer Wert bilden die Essenz von Information. Information ist ein bestimmtes Muster in der Bewegung von Energie im Verlauf der Zeit – etwas, das wir als Fluss* bezeichnen.

      Als Ganzes genommen setzt dieses Kernverständnis des Geistes als einen verkörperten und relationalen Prozess, der den Energie- und Informationsfluss reguliert, diese Facette des Geistes in den Kontext unserer sozialen Interaktionen und den der Muster neuronaler Aktivierung* im Gehirn. Wir müssen diese beiden Aspekte nicht voneinander trennen – jeder von ihnen ist ein grundlegender Aspekt vom Wesen und Ort des Geistes. Das System, auf das wir uns hier konzentrieren, existiert nicht im Gehirn oder in Beziehungen – es ist ein System, das den Energie- und Informationsfluss im Gehirn und zwischen uns entstehen lässt. So wie eine Münze Kopf, Zahl und Kante besitzt, so hat auch die Wirklichkeit des Energie- und Informationsflusses mindestens drei Facetten: den Austausch in „Beziehungen“, verkörperte Mechanismen im „Gehirn“ und Regulierung im „Geist“.

      Die selbstorganisierenden Prozesse, die in unserem Körper und in unseren Beziehungen aus dem Energie- und Informationsfluss entstehen, bringen sicherlich unsere mentalen Aktivitäten hervor. Sie kanalisieren diesen Fluss und die Funktion als wichtige regulative Aspekte unseres mentalen Lebens. Es könnte auch sein, dass die anderen beiden Facetten des Geistes, unsere subjektive Erfahrung und unsere Erfahrung des Gewahrseins, letztendlich als emergente Prozesse gesehen werden können, die auch aus diesem Fluss entstehen. Wir verstehen den Geist zum Teil als einen regulativen Prozess, der den Energie- und Informationsfluss formt, aus dem er entsteht. Dies verdeutlicht die selbstorganisierenden und rekursiven Eigenschaften komplexer Systeme – in diesem Fall den Energie- und Informationsfluss im Körper und unseren Beziehungen. Die subjektive Erfahrung und das Gewahrsein sind möglicherweise natürliche emergente Prozesse, die aus diesem Fluss entstehen. Hier aber stellt sich die Frage: Sind diese Aspekte des mentalen Lebens „selbstorganisierend“ oder sind sie eine andere emergente Eigenschaft dieses Systems? Was „genau“ subjektive Erfahrung oder Gewahrsein „ist“, ist eine faszinierende Frage. Um ihr nachzugehen, brauchen wir auf unserer Reise einen wahrhaft offenen Geist.

      Wir können nun diese Arbeitsdefinition des regulativen Aspekts des Geistes in der großen Spannbreite von Disziplinen anwenden, und damit Menschen unterstützen, die die Entwicklung eines gesunden Geistes fördern wollen. Fachleute, Eltern oder persönlich Interessierte, die daran interessiert sind, ihren eigenen Geist zu stärken, können die faszinierenden neuen Erkenntnisse aufnehmen und anwenden. In diesen Erkenntnissen zeigt sich, wie das Gehirn und unsere Beziehungen zum gesunden Wachstum der Menschen beitragen. Wir werden noch genauer untersuchen, wie wichtig es ist, einen „gesunden Geist“ zu definieren. Denn dadurch können wir das Wachstum eines solchen Geistes auf eine Weise fördern, die dieses Vorhaben leichter vermittelbar, besser verständlich und effektiver macht.

      Obwohl wir nicht die Tiefennatur des Bewusstseins erklären oder sagen können, „was“ genau subjektive Erfahrung ist, heben wir hier einen sehr wichtigen Aspekt des Geistes hervor, nämlich den regulativen Prozess. Die unmittelbare Anwendung dieser Definition der selbstorganisierenden Funktion des Geistes besteht darin, dass wir andere und uns selbst lehren können, wie es möglich ist, den Geist auf eine stabilere Weise zu regulieren. Wenn wir lernen, wie wir mit mehr Stabilität beobachten, können wir die Einzelheiten des Energie- und Informationsflusses in unserem Körper und in unseren Beziehungen mit mehr Klarheit, Tiefe und Detailliertheit sehen. Dann sind wir in der Lage, diese neu wahrgenommenen Dimensionen zu nutzen, um sie in Richtung