Daniel Siegel

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie


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Heben der Finger vom limbischen Bereich (symbolisiert durch den Daumen) geschieht (s. Abb. D-3). Jetzt können wir sehen, wie wir den Weg nach unten* gehen („Low Road“) und viele der Funktionen des mittleren präfrontalen Cortex* verlieren, wozu auch emotionale Balance, Empathie und Moral* gehören. Wir können nun nicht länger flexibel reagieren, verlieren die Einsicht in uns selbst und handeln aus irrationalen Impulsen, die wir in diesem Moment als gerechtfertigt empfinden, um das unfreundliche und verletzende Verhalten eines anderen Menschen zu erwidern. Dies ist ein vorübergehender Zustand* des frontalen Kontrollverlusts, bei dem die regulierenden* Präfrontalregionen die unteren subkortikalen Prozesse nicht mehr ausgleichen. Solch ein Bruch* in unseren Beziehungen mit anderen zerreißt das Wir-Gefühl, das aus der integrativen Kommunikation* entsteht. Hier sehen wir, wie Hindernisse bei der neuronalen Integration* zu Beeinträchtigungen bei der interpersonellen Integration führen.

      Wenn Menschen etwas darüber lernen, wie das Hirn funktioniert, kann eine Krise wie zum Beispiel der „Weg nach unten“ („Low Road“) in eine Möglichkeit für Wachstum verwandelt werden. Solange sie nicht wissen, wie und warum sich das Gehirn manchmal ausschaltet, sind viele Menschen sehr selbstkritisch und schämen* sich so sehr für ihr Verhalten, dass sie sich nicht wieder an ihr Kind, ihren Freund, ihren Partner oder ihren Kollegen wenden, um sich wieder zu verbinden*. Selbstbeschuldigung wird zu dauerhaftem Selbsthass, einen Form mangelnden Selbstmitgefühls, verbunden mit Feindseligkeit und Selbstherabsetzung. Dies verstärkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein „Weg nach unten“-Verhalten in der Zukunft mit höherer Intensität und Häufigkeit auftreten und über längere Zeit nicht gelöst (wieder verbunden) wird.

      Selbst kleinen Kindern kann man in der Schule etwas über die Grundlagen des Gehirns beibringen. Wenn wir etwas über die verkörperten Aspekte des Geistes wissen, können wir die Mechanismen verändern, durch die Energie und Information fließen. Der Schlüssel zu diesem Ansatz besteht darin, dass das Gewahrsein* durch die Aneignung von Wissen und Fertigkeiten „erwachen*“ kann, um die Art und Weise, wie Energie und Information durch das Gehirn fließen, zu verändern. Heute weiß man etwas, über das man zu einem früheren Zeitpunkt nur eine Intuition* aus der klinischen Erfahrung hatte: Der Geist kann die Aktivität und Struktur des Gehirns verändern. Indem man die Kraft des Gewahrseins nutzt, um absichtsvoll Energie und Information in neuer Weise zu fokussieren, kann die neuronale Aktivierung* verändert werden. Aufmerksamkeit* ist der Prozess, durch den Energie und Information durch die neuronalen Netze* des Gehirns gebündelt werden. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf eine integrative Weise bündeln, können wir beispielsweise Differenzierung kultivieren und dann diese differenzierten Regionen miteinander verknüpfen. Der neurowissenschaftliche Spruch, „Neurons that fire together, wire together“ („Neuronen, die zusammen aktiviert werden, vernetzen sich*“), zeigt, dass die gemeinsame Aktivierung von Neuronen* ihre Verknüpfungen miteinander verändert. Die Nutzung der Aufmerksamkeit zur Veränderung der Aktivität des Gehirns – und dadurch letztendlich die Veränderung der Architektur des Gehirns – ist Teil des umfassenden Prozesses, durch den Erfahrungen die neuronale Struktur verändern. Dieser Prozess wird als Neuroplastizität* bezeichnet.

      Die Anwendungen der Interpersonellen Neurobiologie basieren auf den Erkenntnissen der Neuroplastizität: Wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren, formt unmittelbar die Aktivität und Struktur des Gehirns. Durch die heute bestätige Tatsache, dass das Gehirn sich als Reaktion auf unseren Fokus der Aufmerksamkeit verändert, können wir erkennen, dass der Geist, das Gehirn und unsere Beziehungen stark miteinander verwoben sind. Wiederkehrende Muster können die Art und Weise verändern, wie wir uns miteinander verbinden, wie wir unser subjektives inneres Leben erfahren und sogar wie wir die Architektur unseres eigenen Gehirns formen. Diese Perspektive begründet die Sicht der Interpersonellen Neurobiologie auf Interventionen in der Schule und in der Psychotherapie. Wir sind in der Lage, die Menschen darin zu bestärken, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und Fertigkeiten zu lernen, die ihnen helfen, ihre neuronalen Neigungen zu verändern. Ohne Gewahrsein laufen diese Neigungen im Autopilot-Modus* weiter und belassen den Einzelnen in einer passiven Haltung. Wir können uns aber auch die Tatsache zunutze machen, dass der Fokus unserer Aufmerksamkeit die Struktur des Gehirns verändern kann. Dann geht es darum, Menschen zu inspirieren, ihr Gehirn neu zu vernetzen, so dass Integration und damit auch Gesundheit und Resilienz möglich werden.

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      Das Dreieck des Wohlbefindens

      Worum geht es?

      Das Dreieck des Wohlbefindens* steht als Metapher dafür, dass der Geist*, das Gehirn* und die Beziehungen* allesamt Teil eines Ganzen sind (s. Abb. E). Aber wie sind sie miteinander verbunden? Sind es lediglich drei getrennte Bereiche der Wirklichkeit – oder stellen sie eine Wirklichkeit dar, die mindestens drei Aspekte hat? Wir können uns das Dreieck als eine metaphorische Landkarte vorstellen, ein visuelles Bild, das eine Wirklichkeit mit mindestens drei wechselseitig abhängigen* Facetten symbolisiert. Dieses Dreieck repräsentiert den Prozess*, durch den Energie und Information fließen*, und wie sich dieser Fluss im Verlauf der Zeit verändert. Beziehungen sind das miteinander Verbinden in diesem Fluss*. Das Gehirn ist der Begriff, der das erweiterte Nervensystem* bezeichnet, das im ganzen Körper verteilt ist. Es wirkt als der verkörperte* Mechanismus dieses Flusses. Und was ist der Geist? Wir schlagen vor, dass der Geist ein emergenter Prozess* ist, der innerhalb der Menschen und zwischen ihnen aus dem System* des Energie- und Informationsflusses entsteht. Ein Aspekt des Geistes wird als Selbstorganisation* bezeichnet, es ist ein emergenter Prozess, der die Grundlage seiner Entstehung reguliert*. Wir sehen, dass der Geist aus der Bewegung von Energie* in dem System entsteht, das aus dem Körper und unseren Beziehungen gebildet wird. Es entsteht ein emergenter selbstorganisierender Prozess, der den Energie- und Informationsfluss reguliert. Der Geist ist neben anderen Merkmalen der regulative Prozess, der den Energie- und Informationsfluss in und zwischen Menschen formt.

      Hier eine kurze Beschreibung des Dreiecks: Regulation (Geist) besteht aus dem Beobachten und der Modifizierung des Energie- und Informationsflusses. Austausch (Beziehung) ist das Teilen von Energie und Information zwischen zwei oder mehr Menschen. Der Mechanismus (Gehirn) ist das strukturelle Mittel, durch den der Energie- und Informationsfluss im Körper entsteht. Das Dreieck stellt ein System dar, das System des Energie- und Informationsflusses, während es sich durch die Mechanismen des Körpers (Gehirn) bewegt, ausgetauscht (Beziehungen) und reguliert wird (Geist). Dadurch werden die drei Aspekte nicht voneinander getrennt, sondern stattdessen sind der Geist, das Gehirn und die Beziehungen drei Aspekte einer Wirklichkeit – dem System des Energie- und Informationsflusses.

      Manchmal haben Wissenschaftler Bedenken dazu geäußert, dass dieses Modell die Elemente auf eine Weise trennt, die nicht hilfreich ist. Als Antwort auf derartige Überlegungen ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Metapher des Dreiecks in der Tat das Gegenteil meint. Es gibt in Hinblick darauf eine Wirklichkeit mit drei Facetten – nicht drei unterschiedliche Bereiche mit getrennten Realitäten. Eine Münze hat zwei Seiten und eine Kante, aber wir sehen das Ganze der Münze, indem wir die differenzierten* Teile akzeptieren. Wenn das Ganze als Energie- und Informationsfluss gesehen wird – eine Sichtweise, die für viele Menschen neu ist –, dann zeigt sich die wechselseitig verbundene Natur des Gehirns, der Beziehungen und des Geistes als ein zusammenhängender Bezugsrahmen.

      Dies ist also ein Dreieck, das den Energie- und Informationsfluss darstellt. Die Pfeile der Beeinflussung, die man auf diesem Dreieck einzeichnen kann, weisen in alle Richtungen: der Geist wird sowohl von den Beziehungen als auch vom Gehirn beeinflusst; Beziehungen werden vom Geist und vom Gehirn beeinflusst; das Gehirn wird vom Geist und den Beziehungen beeinflusst. Bitte beachten Sie, dass dieses Dreieck aus der Perspektive der Interpersonellen Neurobiologie* unsere Grundlage der Wirklichkeit umfasst – den Ausgangspunkt, um tief in die Natur der subjektiven und objektiven Aspekte unseres Lebens einzutauchen. Wir sind der Ansicht, dass der emergente Prozess des Geistes in das Dreieck eingebettet ist und sich diese drei Elemente des Energie- und Informationsflusses nicht voneinander trennen lassen: Es sind drei Facetten einer Wirklichkeit. Das ist kein Dualismus (oder „Trioismus“). Es ist vielmehr ein „Monismus“, weil wir eine Wirklichkeit