Damals war ich sehr jung, doch ich kam, weil ich das Leben und das Leid, das ich bereits erlebt hatte, besser verstehen wollte.
Wir erlebten noch mehr Leid, als wir auf die Extreme des indischen Klimas und die dortigen Tropenkrankheiten trafen. Später unterhielt sich eine der Frauen, die mehrere Jahre in Indien gewesen war, mit einem Arzt des Stadtkrankenhauses von Barre, Massachusetts, wo wir die Insight Meditation Society gegründet hatten. Sie beschrieb die furchtbare Hitze in Neu-Delhi, wo die Temperaturen auf weit über 40 Grad ansteigen können. Einmal mußte sie im Sommer ihr Visum verlängern und war gezwungen, in der unvorstellbaren Hitze von einer Regierungsbehörde zur nächsten zu gehen. Sie erzählte dem Arzt, sie habe sich in diesem Sommer besonders schwach gefühlt, da sie kurz zuvor Gelbsucht, Amöbenruhr und Würmer gehabt habe. Ich sehe den Arzt noch vor mir, der sie völlig entsetzt ansah und sagte: »Sie hatten all diese Krankheiten und wollten Ihr Visum erneuern? Was hatten Sie vor? Hofften Sie auf Lepra?« Auf den ersten Blick war unser Indien-Aufenthalt wirklich eine Geschichte von Krankheiten, Unannehmlichkeiten und der heroischen (oder närrischen) Entschlossenheit, weiterzumachen. Doch ich weiß, daß die inneren Erfahrungen, die meine Freundin damals machte, trotz aller körperlicher Leiden, von denen sie sprach, die reine Magie waren. Unsere Zeit in Indien, fern aller üblichen sozialen Konventionen und höflichen Reaktionen, erlaubte jeder und jedem von uns einen völlig neuen Blick auf sich. Durch die Meditation wurden sich viele zum ersten Mal ihrer Fähigkeit bewußt, Gutes zu tun, und wir spürten Jubel, als wir eine völlig neue Verbundenheit mit allen Lebewesen entdeckten. Dieses Wissen würde ich für nichts eintauschen – kein Geld, keine Macht über andere, keine Trophäen und keine Auszeichnungen.
Damals saß ich unter dem Bodhi-Baum, wo der Buddha Erleuchtung erlangte, und wünschte mir, das Geschenk der Liebe zu leben, das der Buddha gelebt und verkörpert hatte. Die brahma-viharas – Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut – sind das Geschenk, und die Möglichkeit, sie auszuüben, ist das Vermächtnis des Buddha. Wenn wir diesem Weg folgen, lernen wir, heilsame Eigenschaften zu fördern und unheilsame loszulassen.
Die Ganzheit, die wir auf diesem spirituellen Weg entwickeln, entsteht, weil wir die heilsamen geistigen Gewohnheiten und Einflüsse, aus denen Liebe und Achtsamkeit entstehen, ebenso erkennen wie die unheilsamen, die unser irriges Gefühl von Trennung verstärken. Der Buddha sagte dazu:
Gebt auf, was unheilsam ist. Ihr könnt das Unheilsame aufgeben. Wäre es nicht möglich, sagte ich nicht, daß ihr es tun sollt. Brächte euch dieses Aufgeben Schaden und Schmerz, sagte ich nicht, daß ihr es aufgeben sollt. Doch da es euch Nutzen und Glück bringt, sage ich, gebt auf, was unheilsam ist. Pflegt das Gute. Ihr könnt das Gute pflegen. Wäre es nicht möglich, sagte ich nicht, daß ihr es tun sollt. Brächte euch diese Pflege Schaden und Schmerz, sagte ich nicht, daß ihr es tun sollt. Doch da euch diese Pflege Nutzen und Glück bringt, sage ich, pflegt das Gute.
Wir geben die unheilsamen Eigenschaften, die Leiden verursachen, nicht auf, weil wir sie fürchteten oder verachteten, und auch nicht, weil wir uns dafür verachteten, daß sie in unserem Denken entstehen konnten. Das Unheilsame läßt sich nicht aufgeben, indem wir das vertraute Gefühl von Getrenntsein einfach ärgerlich beiseite fegen. Es geschieht vielmehr, indem wir lernen, uns und alle Lebewesen wirklich zu lieben. Im Licht dieser Liebe können wir die Bürde klarer erkennen, und wir beobachten, wie sie einfach von uns abfällt.
Statt verbissen an Eigenschaften wie Zorn, Angst oder Anhaftung festzuhalten, die uns und anderen schaden, können wir sie fallenlassen wie eine beschwerliche Last. Unheilsame Reaktionen, die wir gewohnheitsmäßig mit uns umhertragen, sind uns eine Bürde. Sobald wir einsehen, daß wir diese Reaktionen nicht brauchen, können wir sie aufgeben.
Das Gute pflegen bedeutet, die strahlende Macht der Liebe wiederzuerlangen, die in uns allen verborgen liegt. In einem erwachten Leben werden wir die begrenzenden Auffassungen, die wir von unseren Möglichkeiten haben, grundsätzlich revidieren. Wenn wir sagen, daß wir das Gute pflegen, dann heißt das, daß wir uns eine offene Sicht davon zu eigen machen, was für uns möglich ist, und durch die Meditation können wir in den Erfahrungen, die wir in jedem Moment machen, diese visionäre Erkenntnis pflegen.
Diese Erkenntnis ist immer für uns verfügbar; es ist unerheblich, wie lange wir schon in dem Gefühl von Beschränkung gefangen sind. Wenn wir einen dunklen Raum betreten und das Licht anmachen, spielt es keine Rolle, ob der Raum einen Tag, eine Woche oder zehntausend Jahre lang dunkel gewesen ist – wir drehen das Licht an, und es ist hell. Sobald wir mit unserem Potential, zu lieben und glücklich zu sein – mit dem Guten –, Verbindung aufnehmen, wird es hell. Das Üben von brahma-vihara ist der Weg, das Licht anzuzünden und brennen zu lassen. Es ist ein Prozeß tiefer spiritueller Wandlung.
Diese Wandlung vollzieht sich, wenn wir den Weg tatsächlich gehen: dessen Wertvorstellungen und Theorien in die Praxis umsetzen, zum Leben erwecken. Wenn wir danach streben, das Unheilsame aufzugeben und das Gute zu pflegen, tun wir dies in der Überzeugung, daß es uns wirklich gelingen wird. „Wäre es nicht möglich, sagte ich nicht, daß ihr es tun sollt.“ Wenn wir diesen Satz des Buddha im Gedächtnis behalten, folgen wir dem Weg in der sicheren Gewißheit, unser einzigartiges Potential für Liebe und Wahrheit auch leben zu können.
Der Weg beginnt, indem wir unsere Einheit mit anderen Lebewesen durch Großzügigkeit, Nicht-Verletzen, rechte Rede und rechtes Handeln pflegen. Auf der Grundlage dieser Eigenschaften läutern wir unseren Geist durch meditative Sammlung. Dabei erfahren wir die Wahrheit und das Leid, das durch Trennung verursacht wird, ebenso wie das Glück, uns mit allen Wesen verbunden zu wissen. Diese Erkenntnis gipfelt in der „vollkommenen Befreiung des Herzens“, wie der Buddha es ausdrückte. Die Erfüllung des spirituellen Weges ist es, die wahre Natur des Herzens und des Glücks zu verstehen. Brahma-vihara zu praktizieren ist sowohl der Weg dorthin als auch der natürliche Ausdruck eines solchen Verstehens.
Meine eigene intensive Beschäftigung mit den vier brahma-viharas begann 1985 in Birma. Unter Anleitung von Sayadaw U Pandita, einem Theravada-Meditationsmeister, widmete ich mich den ganzen Tag lang der Ausbildung und Pflege von Liebe, Mitgefühl, selbstloser Freude und Gleichmut. Es war eine außergewöhnliche Zeit! In der geschützten Atmosphäre der Klausur klärten und festigten sich die brahma-viharas so sehr, daß sie nach der Klausur nie wieder verblaßten, sondern wirklich zu meiner Heimat wurden. Natürlich verliere ich gelegentlich den Kontakt zu ihnen, jetzt aber führt mich meine Sehnsucht nach Glück immer wieder zu ihnen zurück.
In diesem Buch erläutere ich die Meditationsübungen, die ich in Indien das erste Mal praktizierte und später in Birma systematisch erlernte. Seit meiner ersten Begegnung mit dem Buddhismus zeigten mir alle meine Lehrerinnen und Lehrer auf ihre je eigene Art die Segnungen der Liebenden Güte und vermittelten mir ein Gefühl für deren grenzenlose Möglichkeiten. Dieses Buch entstand aus der tiefen Verehrung für meine Lehrerinnen und Lehrer. Wenn ich hier die Meditationstechniken erläutere, dann in grenzenloser Dankbarkeit dafür, daß ich sie erlernen durfte, sowie in dem Wunsch, daß andere davon profitieren mögen.
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Die revolutionäre Kunst, glücklich zu sein
Sei nur verbunden.
E. M. Forster
Wir können weit reisen und viele verschiedene Dinge tun, doch unsere intensivsten Glücksgefühle entstehen nicht, indem wir neue Erfahrungen anhäufen. Sie entstehen, wenn wir Unnötiges loslassen und wissen, daß wir immer zu Hause sind. Das wahre Glück ist nicht weit, es braucht nur eine radikale Veränderung des Blickwinkels unserer Suche.
Ein Teilnehmer unserer ersten Klausur erfuhr dies auf sehr eindrucksvolle Weise. Bevor wir das Insight-Meditation-Society-Zentrum hatten, mußten wir für lange Klausuren Räume mieten. So kam es, daß unsere erste Klausur in einem Kloster mit einer schönen Kapelle stattfand. Um sie in eine Meditationshalle zu verwandeln, wo wir auf dem Boden sitzen konnten, entfernten wir alle Sitzbänke und stapelten sie in einem großen Nebenzimmer. Da es nicht genügend Schlafplätze gab, mußte einer der Meditierenden für die Dauer der Klausur in einer Ecke dieses Hinterzimmers schlafen.
Im Verlauf der Klausur hatte er immer stärkere körperliche Beschwerden und Schmerzen, was ihn ärgerte und