Fabian Wollschläger

Die Quelle in dir


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      »Was existiert jenseits dieser Mauern?«

      »Alles, was ihr Architekt sich vorstellen kann.«

      »Kannst du sie niederreißen?«

      »Nein.«

      »Warum nicht?«

      »Nur der, der sie errichtet hat, kann sie auch niederreißen.«

      Unsere Vorstellungskraft ist kein kreatives Können, sondern unsere Art zu denken. Mit jedem Atemzug benutzen wir unsere Vorstellungskraft, denn wir brauchen sie, wie wir die Luft zum Atmen brauchen. Sie ist der Stoff, aus dem jeder Gedanke gewoben wird. Die Frage nach unserer Vorstellung von Gott ist die Frage nach unserer Denkweise von Gott, so, wie unsere Gedanken über ein Leben nach dem Tod, unsere Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod sind. Unsere Gedanken formen sich aus unseren inneren Vorstellungen. Sie sind nicht nur elektrische Impulse, die als Wellen durch unser Gehirn strömen. Die Bilder unserer Vorstellungskraft sind die Sprache, in der unser Bewusstsein spricht.

      Eine Vorstellung von der Realität und die »wahre« Realität sind nicht gegensätzlich, sondern identisch. Für uns existiert keine Realität außerhalb unserer Vorstellungen, weil wir nur unsere Vorstellungen wahrnehmen können. Was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, ist unsere Vorstellung von der Wirklichkeit.

      Wir sehen die Realität nicht erst durch die Reflexion des Sonnenlichts. Ihre Bilder entstehen, wenn wir das ewige Licht unseres Bewusstseins auf sie lenken. Deswegen können fiktive Filme reale Gefühle in uns auslösen. Unser Gehirn unterscheidet nicht zwischen Fiktion und Realität, weil wir nicht ihre Wesen, sondern lediglich die Vorstellung ihrer Wesen wahrnehmen und verarbeiten können. Würden wir die Welt nur mit unseren Sinnen wahrnehmen, wüssten wir nicht einmal, wer wir sind. Auch unser Ego ist bloß die Vorstellung unseres Egos. Unsere fünf Sinne sind nur Werkzeuge, um die Bilder unserer Vorstellungen auszumalen. Sie vermitteln uns den Eindruck, wir würden erleben, was außerhalb von uns ist – unsere Familie, unsere Freunde, unsere Wohnung, unser Arbeitsplatz und unser Leben. Doch nichts davon haben wir jemals außerhalb von uns erlebt. Jedes Detail unseres Lebens existiert als Vorstellung in uns.

      Wenn wir beide uns zum ersten Mal begegnen, beginnen wir, uns einander vorzustellen. Alles, was wir sind, sind die Vorstellungen von uns in unserem Bewusstsein.

      Unsere Vorstellungskraft kann uns sowohl in ein begrenztes Gefängnis der Vergänglichkeit sperren, als auch in den grenzenlosen Raum unserer Unendlichkeit führen.

      Wenn wir uns nur nach außen wenden, verhaften wir uns in der Endlichkeit. Der Körper, das Haus und die Erde, auch die Identität, die wir gerade bewohnen – alles, was wir äußerlich wahrnehmen, sind begrenzte Räume, die vergehen. Die Beschränkung unserer Vorstellungskraft auf äußere Vorstellungen ist mit Leid verbunden. Unser Körper nähert sich mit jeder Sekunde, in der wir leben, dem Tod. Häuser und Planeten zerfallen, und selbst Identitäten währen niemals ewig. Begrenzen wir unsere Realität auf die Vorstellungen unserer Außenwelt, entwickeln wir Leiden und Ängste, denn die äußere Welt ist begrenzt.

      Im Gegensatz zu unserer Außenwelt sind die Vorstellungen unserer Gedankenwelt unendlich. Durch innere Vorstellungen können wir aus dem Raum unseres Körpers hinaustreten und von der Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft reisen. Erinnerungen und Visionen sind Vorstellungen, in denen wir uns von dem »Hier und Jetzt« trennen und uns an jeden Ort zu jeder Zeit begeben können. Raum- und Zeitreisen sind keine Hollywoodfantasien, in denen wir uns dematerialisieren, um von Scotty hochgebeamt zu werden oder zurück in die Zukunft zu reisen.

      Wenn wir uns in unserer Vorstellung von den äußeren Grenzen der Materie und der Gegenwart getrennt haben, existiert unser materieller Körper in der Gegenwart, während wir uns mit unserem Bewusstsein von der Enge dieser Dimensionen befreien, um überall zu jeder Zeit sein zu können. Diese Reisen treten wir unbewusst jeden Tag zahllose Male an. Von der Wahl unserer Kleidung am Morgen, bis zu dem Entschluss am Abend, ein Buch über die Quelle in dir zu lesen. Wir vergleichen die Gegenwart mit der Vergangenheit und treffen auf Basis unserer Erinnerungen eine Entscheidung für die Zukunft.

      Die Unendlichkeit unserer Vorstellungskraft durch Raum- und Zeitreisen hat wie jede andere Fähigkeit unseres Bewusstseins sowohl eine Licht- als auch eine Schattenseite. Entweder benutzen wir ihr unendliches Potenzial bewusst für uns oder sie wirkt unbewusst gegen uns.

      Einerseits befreit uns die Raum- und Zeitlosigkeit vom unbestimmten Reaktionismus der Gegenwart und schenkt uns die Freiheit, durch reflektierte Erfahrungen der Vergangenheit aktiv eine visionsgeleitete Zukunft zu erschaffen. Wir können durch den Lernprozess auf Wissen zurückgreifen, das wir uns in der Vergangenheit angeeignet haben, um es in der Gegenwart anzuwenden und unsere Zukunft zu gestalten. Ebenso ermöglichen Vergangenheit und Zukunft unser rationales Handeln, und auch unsere Intuition greift auf unterbewusste Erfahrungen der Vergangenheit zurück, um die Gegenwart zu bewerten.

      Andererseits kann die Fähigkeit der mentalen Raum- und Zeitreisen auch gegen uns wirken, wenn es zu einem unbewussten Zwang wird. Unser Gehirn assoziiert die Gegenwart immer mit der Vergangenheit, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen einer neuen und unseren alten Erfahrungen zu analysieren und so der neuen Erfahrung eine Bedeutung zu verleihen. Nicht nur in der Hirnforschung, auch in Psychologie und Pädagogik ist diese Funktion des Gehirns als das »Gesetz der Assoziation« bekannt. Demzufolge können wir die Gegenwart nur durch die Brille unserer Vergangenheit erkennen. Die Summe der Erfahrungen, die wir als unser Leben bezeichnen, existiert nur als Vorstellung unserer Vergangenheit. Wenn wir unsere Gegenwart auf der Basis unserer Vergangenheit deuten, um unsere Zukunft zu erschaffen, dann wird gestern zu morgen. Statt uns bewusst weiterzuentwickeln, stagnieren wir unbewusst. Unsere Vergangenheit wird zu unserer Zukunft.

      Auch die Schmerzen, unter denen wir in der Gegenwart leiden, sind eine Reaktion auf ein Ereignis aus unserer Vergangenheit. Wenn wir unter einer ungewollten Trennung von unserem Partner leiden, dann leiden wir an einem Ereignis, das in der Vergangenheit geschehen ist. Wir ketten uns an ein vergangenes Erlebnis und holen es mit jeder schmerzhaften Erinnerung von der Vergangenheit zurück in unsere Gegenwart. Wir entkoppeln die Vergangenheit von ihrer Vergänglichkeit und verleihen ihr so Ewigkeit. Doch Vergangenheit und Vergänglichkeit sind jenseits unserer inneren Vorstellungen eins. Die Vergangenheit ist vergangen, unwiderruflich erloschen. In der gegenwärtigen Außenwelt existiert sie nicht mehr. Deswegen vergehen mit der Gegenwart auch die Ereignisse, die uns Leid zufügen.

      Doch unsere Realität bewegt sich niemals jenseits unserer Vorstellungskraft, sondern immer und ausschließlich in ihr. Wenn wir durch unsere Vorstellungskraft zurück in die schmerzhafte Vergangenheit reisen, erschaffen wir eine illusionäre Trennung zwischen Vergangenheit und Vergänglichkeit und holen dadurch die Vergangenheit zurück in unsere Gegenwart. Ob wir uns nach dem Tod eines Angehörigen zurück in die Vergangenheit zu ihm flüchten, um bei ihm zu sein oder ob wir einen Streit mit unserem Partner rückwirkend reflektieren, um für uns die Frage nach Recht und Unrecht zu klären. Unser Leid lebt durch uns weiter, weil wir die Gegenwart immer wieder mit der Vergangenheit assoziieren und so unseren Schmerzen Ewigkeit verleihen.

      Nichts und niemand hat uns jemals wirklich innerlich verletzt. Weder die Vorurteile eines Arbeitskollegen noch das Desinteresse unserer Eltern. Jeder Schmerz, von einem emotionalen Splitter bis zum psychischen Tod, entsteht einzig und allein durch uns, indem wir uns durch unsere Vorstellungskraft von der Gegenwart abwenden und zurück in die Vergangenheit reisen, um vergangenen Schmerz wiederzubeleben.

      Nur wer die Unendlichkeit seiner Vorstellungskraft bewusst betreten und verlassen kann, wird das Pendel dieser Gabe anhalten, damit es nicht mehr unkontrolliert zwischen Fluch und Segen hin- und herschwingt. Wir alle tragen ein eigenes Universum in uns. Begrenzen wir unsere Vorstellungskraft, begrenzen wir unser Universum. Wird unsere Vorstellungskraft grenzenlos, wird unser Universum grenzenlos. Wenn wir lernen, die Macht unserer Vorstellungen für uns einzusetzen, können wir innerlich ganze Welten erschaffen, die sich äußerlich manifestieren.

      Unsere Vorstellungskraft dient als Beweis für das, was möglich ist. Jedes menschliche Bauwerk unserer Erde, jede atemberaubende Geschichte und jede Verwirklichung des vermeintlich Unmöglichen begann mit einem