seit Ende der 1970er-Jahre pflegt Herr Meier einen Lebensstil, den wir landläufig als ›gesund‹ bezeichnen würden: Er trinkt keinen Alkohol, treibt regelmäßig Sport und nimmt keinerlei Medikamente. Als Student kam Herr Meier mit der damals sich bildenden Ökologie- und Friedensbewegung in Kontakt, die ihn nachhaltig beeindruckte und zu einer Lebensweise inspirierte, die er im Großen und Ganzen bis heute beibehalten hat. Auch in Sachen Ernährung: Wenn machbar, bezieht Herr Meier sein Essen aus ökologischer Landwirtschaft. Er legt Wert auf wenig Fleisch, auf Vollkornbrot und Rohkost. Morgens gibt es Frischkornbrei oder Müsli. Äpfel isst er mehrmals täglich ungeschält, weil sich direkt unter der Schale angeblich die meisten Schutzstoffe wie Vitamine, Mineralien und sekundäre Pflanzenstoffe befinden.
Wegen eines umgeknickten Knöchels stattet Herr Meier seinem Hausarzt einen Besuch ab. Der Arzt macht, da Herr Meier schon einmal da ist, ein Blutbild, das ihm erhöhte Leberwerte attestiert, obwohl er weder Alkohol trinkt noch Medikamente nimmt. Ein erster Tastbefund wie auch die direkt folgende Ultraschalluntersuchung ergeben eine Vergrößerung der Leber, sodass der Hausarzt den Patienten zu einer Gewebsentnahme in die Uniklinik überweist. Dort diagnostiziert man eine Fettleber.
Über die Ursache herrscht Unklarheit, bis sich herausstellt, dass es sich bei dem in der Leber abgelagerten Fett um natürliches Apfelwachs handelt, dem Fett also, das die Apfelschale bildet. Es hat die Funktion, den Apfel vor Austrocknung und Aufweichung zu schützen.
Herr Meier, nach der Diagnose auf seine Ernährungsgewohnheiten angesprochen, berichtet von seiner vollwertorientierten Form der Ernährung und von seinem seit Jahrzehnten reichhaltigen Apfelkonsum. Auf die Frage, wie ihm denn in all den Jahren die ungeschälten Äpfel bekommen seien, erwähnt Herr Meier, die Äpfel hätten nach dem Essen »oft noch den ganzen Tag mit ihm gesprochen«; sie seien ihm – obgleich doch so »gesund« – oft ausgesprochen schlecht bekommen.
An diesem Punkt kommt Herrn Meier und den Ärzten ein Verdacht: Ist es möglich, dass Herrn Meiers Körper durch das Gefühl des Unwohlseins jahrzehntelang zu signalisieren versuchte, dass er die Äpfel mit Schale nicht möchte? Wenn ja, dann hätte sich Herr Meier jahrzehntelang über diese Botschaft seines Körpers hinweggesetzt.
Könnte es sein, dass wir mehr auf die permanente mediale Expertendominanz zum Thema Ernährung hören als auf unser Bauchgefühl, unsere innere Stimme in Sachen Nahrungsauswahl? Dass wir die Signale unseres Körpers einfach ignorieren?
Lassen Sie uns, um eine Antwort zu finden, einen gedanklichen Sprung machen in die Jugendzeit unserer Groß- und Urgroßeltern, in eine Zeit, die zumindest auf dem Land noch nicht durchdrungen war von permanenter Ernährungsaufklärung und einem riesigen Markt für Gesundheitsprodukte und -ratgeber.
Damals, 1906, wurde in einem Dorf im Taunus mein Großvater August Frankenbach als eines von elf Geschwistern geboren. Sein Vater hatte ein Zimmereigeschäft. Verglichen mit heute, herrschte Armut. Und so erforderten die Verhältnisse, dass mein Großvater bereits mit zwölf Jahren fest im elterlichen Betrieb mitarbeiten musste. Eine seiner täglichen Aufgaben war es, den Arbeitern die Tender mit frischem Essen an die Plätze zu bringen, an denen Holz gemacht und gezimmert wurde. Fünf Kilometer über Wald- und Flurwege, allein hin und zurück, waren nichts Ungewöhnliches für den Jungen. Er brachte also mehrere Stunden am Tag ganz mit sich allein in Wald und Wiesen zu; ohne Smartphone, Internet und Kinderfernsehen, ohne Werbung und Videospiele. Sie können sich vermutlich ausmalen, welch günstige Auswirkungen dieses Freisein von Medienflut und Hochfrequenz auf das Körperbewusstsein der Menschen dieser Zeit hatte.
Neuzeitliche Reizdichte versus Körperintelligenz
Nachdem mein Großvater mit über 40 Jahren aus Krieg und Gefangenschaft heimgekehrt war, bepflanzte er das Familienanwesen mit Massen von Apfelbäumen. Ich kann mich gut erinnern, wie oft ich ihn mit einem Apfel in Hand, Mund oder Tasche antraf: Im Garten sitzend, im Hof beim Warten auf die nach Hause kommenden Arbeiter des Betriebs, den er mit meiner Großmutter und meinen Eltern zusammen führte, oder abends an der Seite meiner Oma und bei der Tagesschau: Regelmäßig hatte er Äpfel bei sich. Und immer ein Utensil, ohne dessen vorherigen Einsatz er so gut wie nie Äpfel aß: nämlich ein Taschenmesser. Damit schälte er jeden Apfel. Seit seiner Kindheit. Hätten Sie August Frankenbach gefragt, weshalb er seine Äpfel schält, hätte er Ihnen nicht geantwortet: »Wegen der Pestizide«, oder: »Wegen der Bakterien auf der Schale.« Er hätte gesagt: »Weil ich meine Äpfel so besser vertrage.«
Als 13-köpfige Landfamilie waren die Frankenbachs schlichtweg auf alles Essbare angewiesen, das sich ihnen bot. Wollte man die Kinder durchbekommen, konnte man auf die Äpfel als Sattmacher nicht verzichten. Vertrug ein Familienmitglied die Äpfel im Ganzen nicht, so war es angehalten, sie so zu bearbeiten und von unbekömmlichen Anteilen zu trennen, dass sie schließlich verträglich wurden. Ernährungsberatung im heutigen Sinne gab es keine. Stattdessen war man geübter, auf die Signale des Körpers zu achten und gegebenenfalls bestimmte Anteile von Früchten, die individuell nicht bekömmlich waren, zu meiden. Dazu bedurfte es allerdings einer ausgeprägten Fähigkeit, das eigene Bauchgefühl in Bezug auf die verwendete Nahrung zu erspüren. Eine Fähigkeit, die die Menschen damals leichter erlernten als wir.
Untersuchungen aus der Stressforschung belegen, dass mit zunehmender Reizdichte durch Außeneinflüsse – wie wachsende Anforderungen am Arbeitsplatz, Zeitökonomie, Telekommunikation, Internet, Fernsehen und Freizeitstress – die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, zum Erspüren der eigenen Bedürfnisse abnimmt. Ein Risiko, dem sich die Menschen auf dem Land vor 100 Jahren nicht stellen mussten. Und dadurch wussten sie nicht selten besser, sich gut zu ernähren, als heutige, vermeintlich gut informierte Bildungsbürger.
Jeder Mensch ist anders, und jeder isst anders
Jeder Mensch ist anders. Jeder verträgt etwas anderes. So gab es auch immer schon Menschen, die einen Apfel am liebsten mit Schale, manchmal sogar mit Stumpf und Stiel aufaßen. Und es ging bzw. geht ihnen gut dabei. Andere hingegen mögen ihn lieber geschält: manchmal intuitiv, unbewusst; manchmal, weil sie wissen, dass sie ihn anders nicht vertragen – und wie wir sehen konnten, aus gutem Grund . Denn nicht jeder Körper kommt mit den Inhaltsstoffen von jedem Essen gleich gut zurecht.
Vielleicht kennen auch Sie ältere Menschen, die es bei den Äpfeln so hielten oder so halten wie mein Opa. Vielleicht aus dem gleichen Grund: Sie haben es sich meist schon im Kindesalter angewöhnt, den Apfel zu schälen, weil sie ihn so besser vertragen oder weil sie zwar Lust auf einen Apfel haben, intuitiv aber nicht auf die Schale.
Besonders gut können wir solche Indizien für körperliche (oder: somatische) Intelligenz an Kindern beobachten. Kleinkinder sind noch zu jung, um zu erklären, was sie möchten, und um die allgegenwärtigen Ernährungsempfehlungen zu verstehen. Oft wissen sie dennoch intuitiv, was sie wollen und was nicht. Vielleicht kennen Sie selbst Kinder, die für ihr Leben gern Äpfel mit Schale genießen, und andere, die sie nur ohne deren reichhaltige Schutzhülle essen. Und das womöglich aus triftigem Grund.
Ernährungsaufklärung und Körpergefühl
Anstatt auf die individuelle Bekömmlichkeit dessen zu achten, was sie essen, vertrauen immer mehr Menschen den gängigen, oft verallgemeinernden Empfehlungen der Ernährungsaufklärung. Danach sind fünf Portionen Obst und Gemüse, Vollkorn statt Weißmehl und Äpfel mit Schale denen ohne vorzuziehen. Dabei mehren sich die Zeichen dafür, dass sich selbst bei gesunden Menschen die Ernährungsbedürfnisse individuell deutlich voneinander unterscheiden können.
Dass nicht jeder Mensch alles verträgt, kann unterschiedliche Ursachen haben und sich unterschiedlich äußern. Im Falle einer Nahrungsmittelunverträglichkeit oder -intoleranz etwa ist der betreffende Mensch nicht in der Lage, ganz bestimmte Nahrungsbestandteile zu verdauen oder über den Stoffwechsel zu verwerten, weil ihm zum Beispiel die hierzu erforderlichen Enzyme fehlen. In anderen Fällen wiederum können bestimmte Inhaltsstoffe einer Nahrung beim einen toxische Wirkungen hervorrufen, während einem anderen die gleiche Dosis keinerlei Probleme bereitet.
Nicht nur Wissen, auch Spüren ist wichtig
Waren in den 1970er-Jahren Naturköstler noch eine exotische Minderheit, so bilden – dank über drei Jahrzehnten Aufklärung – die Vollwertgrundlagen sogar mittlerweile die