Thomas Frankenbach

Somatische Intelligenz


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von Ernährungsinformationen durch die Medien wurde Essen und Trinken zunehmend ein Bereich des Wissens und immer weniger eine Angelegenheit des Spürens. War vor 100 Jahren Essen und die Frage nach einer gesunden Ernährung noch zu wesentlich größeren Anteilen eine Bauchfrage, so wurde sie durch die zunehmende Bedeutung der Massenmedien und die damit einhergehenden Informationskampagnen zur Ernährung mehr und mehr in den Kopf verlagert.

      Sprechen wir weiterhin nur vom Apfel, so ist es nach 30-jähriger Ernährungsaufklärung mittlerweile etabliertes Standardwissen: Wenn Äpfel gewaschen und nicht übermäßig mit Pestiziden behandelt wurden, gilt es als gesund, sie mit Schale zu essen. Ein Trend, dem die Mehrheit auch Folge leistet, ohne dass dies zu gesundheitlichen Schäden führt. Manchen Menschen kann es jedoch schaden.

      Ist der Apfel mit seiner schutzstoffreichen Schale nun gesund oder nicht? Dies lässt sich nicht einfach pauschal beantworten, sondern immer nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Menschen mit seiner individuellen Konstitution und seinen jeweiligen Lebensumständen.

      Und das gilt sinngemäß für alle anderen Lebensmittel. So gibt es – wissenschaftlich belegt – eine Reihe Menschen, die mit der Umstellung auf eine naturgemäße Kostform ihren Gesundheitszustand deutlich verbessern konnten, während andere von einer solchen Umstellung ganz und gar nicht profitierten und sogar zum Teil mit einer Zustandsverschlechterung zu kämpfen hatten. Kurz-, mittel- oder zum Teil erst langfristig war in den meisten Fällen nur das der Gesundheit zuträglich, was wirklich gut vertragen wurde.

      Pflanzen und ihre natürlichen Mechanismen zur Selbstverteidigung

      Seit den späten 1970er-Jahren kam es über die Medien zunehmend zu Ernährungsratschlägen: Im Sinne der nun immer populärer werdenden Vollwertkampagne gehörte dazu auch das klassische Apfelmit-Schale-Essen. Dieser Sichtweise liegt eine (zum Teil romantisch verklärte) naturistische Weltsicht zugrunde, die davon ausgeht, dass die Inhaltsstoffe, die die Frucht vor aggressiven, bedrohlichen Umwelteinflüssen wie Wetter und Fraßfeinden schützen, auch dem Menschen guttun (aber: Sind wir nicht selbst für viele Früchte Fraßfeinde?). Im echten Leben ist diese Überlegung jedoch manchmal schlichtweg falsch. Nicht jedem bekommt die Kost, die aufgrund ihrer Naturbelassenheit in der oft undifferenzierten öffentlichen Ernährungsaufklärung als besonders gesund angepriesen wird. Und für manche Menschen sind diese Empfehlungen obendrein sogar gesundheitsschädigend.

      Im Prinzip stellt so gut wie jede essbare Frucht Abwehrstoffe her, mit denen sie sich gegen bedrohliche Außeneinflüsse, wie Wetter, Mikroorganismen oder Fraßfeinde, zu schützen versucht. Da aber die Pflanze und ihre Frucht, anders als Tier und Mensch, nicht vor Bedrohungen flüchten oder mit Muskelaktivität dagegen ankämpfen können, ist die Existenz und die Wirksamkeit dieser Stoffe für die Pflanze hochgradig überlebenswichtig, und zwar als Gift zur Selbstverteidigung. Problematisch mitunter auch für Menschen: Mittlerweile sind uns in der landläufig als gesund bezeichneten Kost eine Reihe natürlich vorkommender Stoffgruppen bekannt, die nicht je dem Menschen bekommen und die manchmal sogar schwere Schäden hervorrufen können.

      Kartoffeln und das Problem der Alkaloide

      Auch in der Schale der Kartoffelknolle befindet sich eine besonders hohe Konzentration natürlicher Schutzstoffe. Neben verschiedenen Vitaminen, Mineralien und sekundären Pflanzenstoffen enthalten die Schale der Kartoffel sowie grüne Stellen und Triebe eine weitere, besonders effektive, giftige Waffe, um sich vor den besonders aggressiven Einflüssen unterirdischer Fraßfeinde und Schädlinge zu schützen: die Pflanzenalkaloide. Alkaloide sind mit dem Gift Strichnin verwandte Substanzen. Ihre Hauptvertreter in der Kartoffel sind das Solanin und das Chaconin, die auch beim Menschen höchst unangenehme und gesundheitsschädigende Wirkungen hervorrufen.

      Noch vor 100 Jahren waren Solaninvergiftungen, medizinisch auch Solanismus genannt, mit Übelkeit und Benommenheit, Berührungsempfindlichkeit, Nierenversagen bis hin zu Todesfällen weit verbreitet. Zumindest bei moderneren Zuchtfrüchten sind inzwischen die Solaninkonzentrationen in der Kartoffel weit niedriger. Dennoch fühlen sich auch heute viele Menschen nach dem Genuss gekochter, jedoch ungeschälter Kartoffeln unwohl, oder sie haben von vornherein eine Abneigung gegen Kartoffelgerichte – außer die Kartoffeln wurden gebraten oder frittiert, wodurch das Solanin zu größeren Anteilen unwirksam gemacht wird. Die Möglichkeit, dass es sich in solchen Fällen bei den Betroffenen nicht um dekadente Verwöhnung, sondern um eine höchst vitale, somatische Intelligenzleistung handelt, muss dabei dringend bedacht werden.

      Daher sollte die in der Naturkostszene weit verbreitete Auffassung, Kartoffeln gehörten mitsamt Schale gegessen, mit Vorsicht genossen werden. Gleiches gilt für den Tipp, das Kochwasser der Kartoffeln aufgrund seiner reichhaltigen, aus der Kartoffel übergegangenen Konzentration an Vitalstoffen nicht wegzuschütten, sondern für die Zubereitung anderer Speisen weiterzuverwenden. Schließlich sind während des Kochens auch Solaninanteile aus der Kartoffel in den Sud übergegangen.

      Gehen wir beim Thema Solanin nochmals in die Zeit unserer Groß- und Urgroßeltern zurück, so zeigt sich uns folgendes Bild: Den meisten kinderreichen Familien sicherte damals die tägliche Kartoffel- und somit Kalorienration das Überleben. Auch bei meinen Großeltern kamen regelmäßig Brat- und Pellkartoffeln auf den Tisch. Aufgrund des Kinderreichtums der Familien und der dadurch notwendigen hohen Portionszahlen bei einer gleichzeitig hohen anderweitigen Arbeitsbelastung war die durchschnittliche Hausfrau zeitlich in aller Regel nicht in der Lage, täglich für 15 Personen Kartoffeln zu schälen. Dies hätte einfach zu viel Zeit gekostet. So wurden die Kartoffeln lediglich gewaschen, von besonders solaninreichen Trieben und grünen Stellen befreit, in den Kochtopf geworfen und gegart. Zum Mittag- oder Abendessen gab es dann Pellkartoffeln mit Butter. Die Familienmitglieder, denen die Schale mit den Alkaloiden keine Probleme bereitete und denen die Kartoffeln so schmeckten, verzehrten sie ganz, während jene, denen die Kartoffel ohne Schale besser bekam, sie vor dem Essen schälten. Ähnlich wie beim Apfelverzehr lernten also früher bereits die kleinen Kinder, ihr Essen nach dem Kriterium der Bekömmlichkeit bestmöglich vorzubehandeln, bevor sie es aßen.

      Und wie wurden zur Zeit unserer Ahnen die Kartoffeln gelagert? Dunkel, kühl und möglichst so, dass keine Druckstellen entstanden. Dann bekamen sie den Menschen nämlich besser. Der Grund dafür war: Werden Kartoffeln zu lang dem Licht ausgesetzt oder gedellt, kommt es zu einem deutlichen Anstieg des Solaningehalts in Schale und Trieben. Auch bei diesem Sachverhalt spielt die Somatische Intelligenz unserer Altvorderen vermutlich eine entscheidende Rolle. Sie ist der Grund für die traditionelle Bearbeitung und Behandlung der Nahrung. Aufgrund ihrer körperlichen Erfahrung wussten sie, wie ihnen ihr Essen am besten bekam. Und so richteten sie ihre Lagerungs-, Zubereitungs- und Verzehrgewohnheiten daran aus. Nicht zufällig zeichnet sich die traditionelle oder gutbürgerlich genannte Hausmannskost durch eine sehr geringe Reiz- und Abwehrstoffdichte sowie durch ihre für viele Menschen besonders gute Verträglichkeit aus.

      Außer in der Kartoffel finden sich auch in anderen Nachtschattengewächsen nennenswerte Mengen an Pflanzenalkaloiden. So etwa in Tomaten – besonders, wenn sie grün sind – sowie in Auberginen und Paprika. Schon beim einmaligen Verzehr von einem Pfund unreifer Tomaten kann es zu schwerwiegenden Symptomen von Solanismus kommen. Dies mag im Sinne Somatischer Intelligenz ein Grund dafür sein, dass manche Menschen eine Abneigungen gegen diese Früchte haben oder nach dem Verzehr schon geringer Mengen eine schlechte Bekömmlichkeit wahrnehmen und sich einfach nicht wohlfühlen.

      Zahnschäden durch Rohkost

      Obwohl Obstrohkost von Vertretern der Naturkost und von praktisch allen etablierten Ernährungsverbänden als gesundheitsfördernd empfohlen wird, müssen wir im Einzelfall abwägen, ob rohes Obst gesundheitlich wirklich uneingeschränkt so vorteilhaft ist, wie immer propagiert wird. Zweifellos gibt es viele Menschen, denen ein hoher Anteil Frischkost kurz- wie langfristig gesundheitliche Erleichterung, Linderung und sogar Heilung von Krankheit bringen konnte. Allerdings darf man aus diesem Sachverhalt keine pauschale Empfehlung für die Allgemeinheit ableiten.

      Meine Erfahrung in der klinischen Ernährungsberatung hat mir immer wieder gezeigt, dass etwa hohe Mengen Obst oder anderer Rohkost bei bestimmten Menschen zwar kurzfristig zu einer enormen Zustandsverbesserung beisteuern; die gleiche Kost trug jedoch bei anderen bereits mittelfristig nicht mehr zu einer