Elsa Tamez

Flucht und Neuanfang


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Teil des Landes wohnen; sie können in Goschen bleiben. Und wenn unter ihnen tüchtige Leute sind, dann vertraue ihnen die Verantwortung für meine eigenen Herden an.«

      Josef brachte auch seinen Vater Jakob zum Pharao. Jakob begrüßte den Herrscher mit einem Segenswunsch.

      Der Pharao fragte ihn nach seinem Alter und Jakob erwiderte: »Hundertunddreißig Jahre lebe ich jetzt als Fremder auf dieser Erde. Mein Leben ist kurz und leidvoll im Vergleich zu dem meiner Vorfahren, die heimatlos wie ich auf dieser Erde lebten.«

      Jakob verabschiedete sich vom Pharao mit einem Segenswunsch.

      Wie der Pharao befohlen hatte, ließ Josef seinen Vater und seine Brüder in der Gegend von Ramses, im besten Teil des Landes, wohnen und gab ihnen dort Grundbesitz. Er sorgte auch dafür, dass seine Angehörigen Brot zugeteilt bekamen, jede Familie nach ihrer Kopfzahl.

      Nun war also das Israel-Volk nach Ägypten gekommen und lebte in der Provinz Goschen. Sie waren fruchtbar, vermehrten sich und wurden sehr zahlreich.

      Jakob lebte noch siebzehn Jahre in Ägypten und erreichte ein Alter von 147 Jahren. Als er sein Ende nahen fühlte, ließ er seinen Sohn Josef rufen und sagte zu ihm: »Wenn du gut zu mir sein willst, dann leg deine Hand zum Schwur zwischen meine Beine. Erweise mir Güte und Treue und begrabe mich nicht in Ägypten! Lass mich im Tod mit meinen Vorfahren vereint sein: Bring mich von hier weg und begrabe mich dort, wo sie begraben sind.«

      Josef versprach ihm: »Ich werde deinen Wunsch erfüllen.«

      »Schwöre es mir!«, sagte Jakob, und Josef schwor es ihm. Darauf verneigte sich Jakob anbetend auf seinem Bett.

      Flucht vor dem Hunger

      Hunger und Armut gehören heutzutage zu den häufigs­ten Gründen, die Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat bewegen. Nach Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) leiden 870 Mil­lionen Menschen an Hunger. Mit anderen Worten: Einer von acht Menschen geht jeden Abend mit leerem Magen schlafen. Die meisten von ihnen leben in armen Ländern, vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika. Viele Menschen ziehen auf der Flucht vor dem Hunger von einem Teil des Landes in einen anderen oder aus ländlichen Gebieten in die Städte. Andere kämpfen darum, in ein Nachbarland oder in ein noch weiter entferntes Land zu gelangen, wenn sich dort bessere Lebensbedingungen bieten.

      Die Menschen, die wegen Hunger auswandern, haben genauso wie diejenigen, die wegen Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Dürren oder vor Gewalt fliehen, mit Problemen und Widerständen zu kämpfen. Was können sie mitnehmen? Was sollen sie mit dem ­wenigen Besitz tun, den sie noch haben? Wer kann ihnen helfen, in dem neuen Land eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen? Wenn sie ohne gültige Pässe einreisen, laufen sie Gefahr, betrogen, misshandelt oder in ihr Herkunftsland zurückgeschickt zu werden. Außerdem erleben viele Migranten nach der Ankunft in einem fremden Land zunächst große Einsamkeit. Die Sitten und Bräuche sind ungewohnt und sie sprechen die Sprache nicht. Wenn sie Glück haben, treffen sie auf andere Menschen aus ihrem Herkunftsland. Häufig fühlen sich die Einheimischen – seien sie Staatsangehörige dieses Landes oder nicht – von den Neuankömmlingen bedroht. Doch nach einer Weile leben sich die Migranten meistens ein, finden Arbeit. Sie sind dann in der Lage, für ihren Unterhalt selbst aufzukommen und sogar der Familie, die sie zurückgelassen haben, Geld zu schicken. Die Jahre vergehen und manche entscheiden sich, für immer zu bleiben. ­Andere ziehen es vor, nach Hause zurückzukehren und mit dem zurückgelegten Geld dort eine Existenz aufzubauen.

      Doch nicht alle Einwanderer erreichen ihre Ziele. Oder sie haben eine Zeit lang Erfolg, aber er ist nicht von Dauer. Das Land, in dem sie sich aufhalten, wird vielleicht von ­einer Wirtschaftskrise getroffen und sie müssen nach Hause zurückkehren. Sie kommen mit leeren Händen zurück und müssen wieder bei null anfangen.

      In der Bibel gibt es zwei Beispiele hierfür, die ähnlich und doch unterschiedlich sind: das Buch Rut und die kurze Erzählung von der Frau aus Schunem (2Könige 8,1-6). Die Migranten im Buch Rut müssen wieder ganz von vorne anfangen, als sie zurückkehren, während es der Frau aus Schunem gelingt, nach ihrer Heimkehr ihren Besitz zurückzuerhalten.

       Rut und Noomi

      Im Folgenden geht es um eine Frau, die zweimal ihre Heimat verließ und beide Male mit leeren Händen aufbrach. Ihr Name ist Noomi. Wegen einer Hungersnot wanderte sie mit ihrer Familie nach Moab aus. Eine Dürre hatte die Ernte zerstört. Doch Noomi erging es schlecht: Ihr Mann starb bald darauf, später starben auch ihre beiden Söhne. Sie fühlte sich völlig allein und verlassen. Und dazu waren auch ihre beiden Schwiegertöchter Witwen. Drei Witwen – eine furchtbare Tragödie!

      Damals war der Tod des Ehemanns und der Söhne für eine Frau eine Katastrophe, denn Frauen zählten nicht viel. Es waren die Männer, die verantwortlich dafür waren, die Familie zu ernähren und sich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Nun fand sich Noomi also allein in einem fremden Land wieder. Glücklicherweise sprachen die Leute dort eine der semitischen Sprachen von Kanaan, die dem Hebräischen ähnlich war, sodass sie sie ohne große Schwierigkeiten lernen konnte. Zudem waren ihre Schwiegertöchter gute Menschen. Sie liebten Noomi wie ihre eigene Mutter. Aber wie so viele Einwanderer wollte Noomi nach Hause zurück. Als sie hörte, dass die Hungersnot vorbei war, beschloss sie daher, mit ihren Schwiegertöchtern heimzukehren. Ihr Volk wiederzusehen, sich zuhause zu fühlen, zu ihren alten Gewohnheiten zurückzukehren – das war für Noomi eine Wende zum Guten. Doch dann würden ihre Schwiegertöchter, die ebenfalls Witwen waren, Fremde sein! Noomi verstand ihre Situation sehr gut. Kurz nach ihrem Aufbruch bat sie daher die Schwiegertöchter, umzukehren und zu den eigenen Eltern zurückzugehen. Sie stellte sich vor, dass sie ihr Leben wieder ­aufbauen konnten, indem sie eine neue Familie in ihrer eigenen Kultur gründeten.

      Vielleicht hatten die Schiegertöchter gehofft, einen von Noomis Verwandten heiraten zu können, denn das war in diesen Kulturen so üblich. Wenn ein Ehemann starb, sollte die Witwe einen seiner Brüder oder nahen Verwandten heiraten, um dem Verstorbenen Kinder zu verschaffen. Aber Noomi wusste, dass das Leben in Betlehem für sie als Fremde hart werden würde. Eine der Schwiegertöchter wollte Noomi jedoch nicht verlassen. Sie hieß Rut und war eine bemerkenswerte, kluge und fleißige Frau. Sie traf die mutige Entscheidung, in dem Land zu leben, das nicht ihr eigenes war.

      Am Ende wurde die Stadt Betlehem durch die Einwanderin aus Moab gesegnet. Ja, Rut wurde schließlich sogar zur Urgroßmutter von König David und damit auch eine Urahnin von Jesus. (Rut 1–4)

      Es war die Zeit, als das Volk Israel noch von Richtern geführt wurde. Weil im Land eine Hungersnot herrschte, verließ ein Mann aus Betlehem im Gebiet von Juda seine Heimatstadt und suchte mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen Zuflucht im Land Moab. Der Mann hieß Elimelech, die Frau Noomi; die Söhne waren Machlon und Kiljon. Die Familie gehörte zur Sippe Efrat, die in Betlehem in Juda lebte.

      Während sie im Land Moab waren, starb Elimelech und Noomi blieb mit ihren beiden Söhnen allein zurück. Die Söhne heirateten zwei moabitische Frauen, Orpa und Rut. Aber zehn Jahre später starben auch Machlon und Kiljon, und ihre Mutter Noomi war nun ganz allein, ohne Mann und ohne Kinder.

      Als sie erfuhr, dass der HERR seinem Volk geholfen hatte und es in Juda wieder zu essen gab, entschloss sie sich, das Land Moab zu verlassen und nach Juda zurückzukehren. Ihre Schwiegertöchter gingen mit.

      Unterwegs sagte sie zu den beiden: »Kehrt wieder um! Geht zurück, jede ins Haus ihrer Mutter! Der HERR vergelte euch alles Gute, das ihr an den Verstorbenen und an mir getan habt. Er gebe euch wieder einen Mann und lasse euch ein neues Zuhause finden.«

      Noomi küsste die beiden zum Abschied. Doch sie weinten und sagten zu ihr: »Wir verlassen dich nicht! Wir gehen mit dir zu deinem Volk.«

      Noomi wehrte ab: »Kehrt doch um, meine Töchter! Warum wollt ihr mit mir gehen? Habe ich etwa noch Söhne zu erwarten, die eure Männer werden könnten? Geht, meine Töchter, kehrt um! Ich bin zu alt, um noch einmal zu hei­raten. Und selbst wenn es möglich