und mehr geschehen ist. Auch in der Psychotherapie sind Richtungen wie die Psychoonkologie entstanden, die das Sterben bewusst mit einbeziehen. Der bekannte Psychotherapeut Irvin D. Yalom ist einer von vielen, die die Vergänglichkeit zum Gegenstand des therapeutischen Prozesses machen. „Lebe immer mit dem Tod auf der linken Schulter“ ist beispielsweise eine seiner Hinweise, um der Vergänglichkeit in der Arbeit mit seinen Patienten mehr Raum zu geben.6 Etwas ironisch behauptet der Autor Tizio Terzani7, der einen Bericht über seinen Weg hin zum Sterben verfasst hat, dass die eigentliche Krankheit – hinter den mehr als 40.000 beschreibbaren Krankheiten – die Sterblichkeit ist. Statt zu hoffen, dass im Sterbeprozess der Tod möglichst rasch kommt und alles schnell vorbei ist, wollen wir mit diesem Buch alte Wege neu beschreiten. Den Tod könnte man auch als Höhepunkt des Lebens begreifen, als kunstvolle Wende oder Übergang, als Heraustreten aus dem Irdischen oder, wie der französisch-indische Mystiker Henri Le Saux (bekannt als Abhishiktananda, 1910-1973) meinte, als eine Befreiung von irdischen Ketten. Sterbemeditation ermöglicht uns eine bessere Vorbereitung und eine positivere Haltung zum Sterben. Statt den Tod auszuklammern und zu verdrängen, beziehen wir ihn in unser Leben ein. Sind wir nicht bereits mit der Geburt Sterbende?
Das Buch beinhaltet nicht nur Reflexionen über den Tod und das Sterben, sondern auch praktische Hilfestellung im Umgang mit Sterbenden für ihre Angehörigen und Freunde. Sich in die Rolle eines Sterbenden zu versetzen und zu überlegen, wie man selbst behandelt werden möchte, kann helfen, eine bessere Sterbebegleitung anzubieten.
Wann steht es für uns an, im Einklang mit dem Sein den Übergang, den Wandel, den ‚Heimgang’ zu erkennen, dem es zu folgen gilt? Geht es um das Sterben der Persönlichkeit, dann gehört zum Sterbeprozess, sich von den Anhaftungen an dieses Ich zu lösen und ich-bezogene, personale, vielleicht auch konfessionelle Grenzen zu überschreiten.
Die Frage, die sich stellt, ist: Wer stirbt in Wirklichkeit? Die kleinsten, elektromagnetischen Teilchen, aus denen die Welt besteht, verschwinden ebenso wieder im Raum, wie sie daraus entstehen, verdichten sich zu Formen und lösen sich wieder auf. Sind nicht alle Erscheinungen, wie es Rudolph Steiner ausdrückte, nichts anderes als geronnenes Licht; unausdenkbares Licht, wie es Torei Zenji in seinem Bodhisattva-Gelübde bezeichnet? Gibt es daher Sterben überhaupt? Gibt es einen Seelenkörper, der sich im Verlauf unzähliger Kreisläufe des Werdens und Vergehens letztendlich im Ozean des Seins auflöst?
Was ist Leben? Was ist Schöpfung? Mit welcher Vorstellung kann ich mich ihr nähern? Welche Bedeutung hat die Glaubensvorstellung? Behindern Religionen und Glaubensvorstellungen den Blick auf die wahre Schöpfung? Verdecken die Formen das Ungeformte, das Ungeborene?8 Gibt es etwas Unwandelbares, was trotz aller Vergänglichkeit bleibt?
Ein Zen-Meister sagte einst sinngemäß: „Religionen sind wie Finger an der Hand. Sie können nur zum Mond zeigen.“ Die islamische Mystikerin und als Heilige verehrte Rabi’a al Adawiyya (717-801) soll ausgerufen haben: „Gebt mir einen Eimer Wasser, um die Feuer der Hölle zu löschen, und Feuer, um den Himmel zu verbrennen, damit die Verblendungen der Menschen verschwinden.“9 Der Sufi-Meister und Baumwollkämmer Husain ibn Mansur al-Hallâj (Halladsch, 857-922), der kühnste Vertreter der frühen islamischen Mystik, wurde hingerichtet für seine Aussage: „Ich bin der, den ich liebe, und der, den ich liebe, ist.“10 Wäre das auch heute noch Blasphemie?
Dazu zwei Verse aus dem 16. Jahrhundert von Johann Gottfried Scheffler, genannt Angelus Silesius, Arzt, Priester und zuletzt Mystiker:
Im Eins ist alles eins;
kehrt Zwei zurück hinein,
so ist es wesentlich
mit ihm ein einges Ein. (V, 6)
Wer hätte das vermeint!
Aus Finsternis kommt Licht,
das Leben aus dem Tod,
das Etwas aus dem Nicht. (IV, 140)11
Dieses Buch versteht sich als Fragment im Sinne des Arztes und Philosophen Julien Offray de la Mettrie: „Wie es keine fertigen Wahrheiten gibt, gibt es auch keine abgeschlossenen Texte. So dürfen noch die falschesten Hypothesen als glückliche Irrtümer gelten.“12
Mein Dank gilt den vielen Lehrern auf meinem Weg, darunter den Zen-Meistern und Lehrern, Pater AMA Samy, Pater Lassalle, Pater Victor, Pater Lutze, der Sanbo-Zen-Schule mit Yamada Ryoun Roshi und Kubota Roshi, den Lehrern der koreanischen Zen-Tradition und den tibetischen Lehrern für die jahrelange Schulung.13
Für die kritische Hilfe und Unterstützung bei der Durchsicht und Fertigstellung des Manuskripts möchte ich mich herzlich bedanken bei: Helga Braun (Lektorat), Holmer Becker, Klemens Jackisch, Ralf-Peter Lösche (Lektorat/Gestaltung).
1 | „Kein Selbst, keine Probleme“ |
Mit diesem etwas provokanten Ausspruch will der buddhistische Wald-Mönch Ajahn Chah deutlich machen, dass ein Ich ohne Ich-Verhaftung keine Probleme mehr hat. Aber dagegen könnte man auch wie der demenzkranke Vater in Arno Geigers Roman „Der alte König in seinem Exil“14 einwenden: „Das Leben wäre ohne Probleme auch nicht leichter.“
Nach zen-buddhistischen Vorstellungen werden wir als ein Niemand geboren, werden zu einem Jemand, um am Ende des Lebens wieder zu einem Niemand zu werden. Ein Dōka-Gedicht des japanischen Zen-Meisters Ikkyū Sōjun (1394-1481) drückt es so aus:
Wir essen, verdauen, schlafen und stehen auf;
Das ist unsere Welt.
Alles, was uns danach zu tun noch übrig bleibt,
Ist zu sterben.15
Nichts Besonderes also – selbst wenn wir zu Jemand geworden sind, sind wir aufgerufen, diesem Jemand keine übermäßige Bedeutung beizumessen, damit wir am Ende unseres Lebens erkennen, wie es der japanische Zen-Meister Dogen (1200-1253) ausdrückte, „dass die Augen waagrecht, die Nase senkrecht sitzen“. Dogen schreibt weiter: „Von niemandem in die Irre geführt, kam ich mit leeren Händen zurück. Ich kam ohne eine Spur des Buddha-Gesetzes zurück und lasse der Zeit ihren Lauf.“16
Ich möchte diesem Jemand, der ich selbst bin, nicht allzu viel Bedeutung beimessen. Da es aber um sehr persönliche Themen wie Tod und Sterben geht, möchte ich Ihnen doch einige Erlebnisse aus meinem Leben erzählen, die mich geformt haben und die Grundlage meiner Weltsicht bilden.
Mein Vater war eingebürgerter US-Amerikaner ägyptischer Abstammung, meine Mutter Deutsche. Ich wurde 1961 geboren und wuchs überwiegend in Deutschland auf. Meine Erziehung war von engen muslimischen und christlichen Wertvorstellungen geprägt, auch wenn das Religionsverständnis meiner Eltern eher ein oberflächliches war. Diskussionen gab es über Schweinefleisch, Jesus als einzigen Sohn Gottes, die Jungfräulichkeit Marias, die Heilige Dreifaltigkeit, den Ramadan und vieles mehr. Meine außerhäusliche Erziehung verlief überwiegend katholisch, ich war auch lange als Messdiener tätig, verließ die Kirche aber mit 23 Jahren, weil buddhistische und mystische Texte mich stärker anzogen. Auch der frühe Tod meiner Eltern und der Unfalltod meiner Schwester mit 20 Jahren haben mich geprägt: Beide Ereignisse konfrontierten mich drastisch mit der Vergänglichkeit und der Frage, welchen Sinn das Leben hat. Bei meinem Vater musste ich selbständig entscheiden, die künstliche Beatmung abzustellen. Nach ägyptischem Brauch wusch ich den Leichnam, wickelte ihn in Leinentücher ein und richtete im Grab Kopf und Körper nach Mekka aus. Das half mir, Abschied von ihm zu nehmen.
Meditation sowie ein Nahtod-Erlebnis mit 33 Jahren führten mich dazu, den Sterbeprozess anders zu begreifen. Drei Lichtgestalten begleiteten mich durch eine Art Tunnel in ein gleißend helles Licht, bis eine Stimme rief: „Es ist noch nicht Zeit!“ Da ließen sie mich los, so dass der Seelenkörper wieder in den physischen Leib eintrat.
Wie die buddhistische Madhyamaka-Tradition (Schule des Mittleren Weges) halte ich es für möglich, dass es eine gewöhnliche Wirklichkeit, im Sanskrit Nirmana-kaya (Körper der Verwandlung, irdischer Körper) und eine ultimative oder absolute Wirklichkeit (Dharma-kaya, Körper der großen Ordnung) gibt. Aus feinstofflichen Bereichen könnte es durchaus eine Wiedergeburt in den irdischen Körper