Karim El Souessi

Die Angst vor dem Tod überwinden


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Seins statt. Das Mysterium des Seins enthüllt sich, offenbart seine Schönheit in der (körperlich verdichteten) Form und wandelt sich wieder zu etwas Unsichtbarem. Ist der Hauptsinn menschlicher Geburt, wie Goethe es ausdrückt, dass wir „zum Sehen geboren, zum Schauen [des Unwandelbaren] bestellt“ sind?

      „Transpersonal“ bezieht sich auf einen Bereich jenseits der engen Grenzen des persönlichen Ich-Erlebens. Diese Perspektive ist besonders hilfreich beim Umgang mit der Vergänglichkeit. Dabei geht es nicht allein um ein ‚Erspüren’ eines unvergänglichen Seins, sondern um die Überschreitung unserer begrenzten Vorstellungen von Vergänglichkeit, indem wir uns als Teil eines Ganzen wahrnehmen.

      „Wenn keine Wolke über dem Berge hängt, durchdringt das Mondlicht die Wellen des Sees“, heißt es in einem Zen-Dialog.29 Als der Mönch diese Wahrheit nicht nur mit dem Verstand begriff, sondern sie ihn im Herzen berührte, erfuhr er Erleuchtung. Das große Suchen und Zweifeln kam zum Ende.

      Die Auseinandersetzung mit der Vergänglichkeit ist ein wichtiger Bestandteil aller Kulturen. Im indischen Kulturraum finden sich Unterweisungen zur Vergänglichkeit bereits in den Upanishaden (entstanden vermutlich zwischen 2000 und 100 v. u. Z.) wie in der Katha Upanishad, die einen Dialog zwischen dem jungen Naciketas und dem Tod beschreibt, den er zu seinem Guru (Lehrer) wählt.

      An diese alte Tradition knüpfte Buddha an, der stets betonte, dass die Vergänglichkeit ein wichtiger Lehrmeister sei. Auf Anweisungen Buddhas bezieht sich daher eine buddhistische Form der Sterbemeditation, die der indische Meister Atisha um das Jahr 1000 u. Z. in Tibet einführte.30

      Für die vorbuddhistische Praxis des Yoga Nidra besteht bereits das Grundproblem der Angst vor Vergänglichkeit in unserer Identifizierung mit unserer materiell-körperlichen Form, mit ihren Empfindungen, Gefühlen, Gedanken sowie in der Vorstellung, ein eigenständiges Ich zu besitzen. Die Übung des Yoga Nidra zielt deshalb darauf ab, allmählich einen Perspektivenwechsel zwischen Ich-Erleben und Ich-Beobachtung zu erreichen, indem man durch zahlreiche Wiederholungen lernt, sein eigenes Erleben gleichsam ‚von außen’ zu betrachten und dann als Teil des energetischen Schöpfungskörpers. Die gewonnene Distanz und Einbettung in die Energie des Ganzen soll helfen, die Verhaftung an den vergänglichen Organismus zu verringern. Zu diesem Zweck – als Hilfe zur Desidentifikation mit dem Ich und zur Vorbereitung auf den eigenen Tod – findet sich in diesem Buch eine Yoga-Nidra-Anleitung (Kap. 11) und die buddhistische Sterbemeditation (Kap. 12 und 15).

      Ähnlich wie auch andere meditative Praktiken ermöglicht die Yoga-Nidra-Übung eine nicht wertende Grundhaltung gegenüber Körperempfindungen, Gefühlen, Gedanken und der Ich-Vorstellung. Loslösung und Ent-Identifikation leiten einen transpersonalen Prozess ein, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verlust der körperlich-geistigen Integrität hat, wie sie der Tod von uns fordert. Denn dabei geht es letztlich um die Lösung von Dingen, die uns ohnehin nur dem Namen nach gehören, wie es der thailändische Theravada-Buddhist Ajahn Chah (1918-1992) treffend ausdrückte. Entdeckt man Vergänglichkeit um sich herum, kann sich ein innerer Frieden ausbreiten. Wenn ein welkes Blatt vom Baum fällt oder ein Insekt seine letzten Zuckungen vollzieht, kann ein Augenblick mystischer, transpersonaler Stille entstehen, ein Zur-Ruhe-Kommen im Sein. Wenn wir die alltäglichen Zeichen von Vergänglichkeit an uns selbst und um uns herum klarer beobachten, eröffnen sich uns neue Dimensionen, die über unsere Ich-Grenzen hinausführen. Der persische Mystiker Bayasid Bistami (803-875) formulierte es poetisch:

      Unter meinem Gewand ist nichts als Gott;

      ich streifte mein Ich ab wie eine Schlange,

      die ihre Haut abstreift.

      Dann sah ich mein Wesen an

      und es zeigte sich, dass ich Er war.31

      Daher fordert der islamische Mystiker Jelaladdin Rumi dazu auf, beim Dahinscheiden nicht zu trauern, sondern eher froh zu sein:

      „An meiner Grabstätte schreit nicht: ‚Weh, du bist fort!’, denn für mich ist das die Zeit froher Begegnung. Wenn ich ins Grab gesenkt werde, ruft mir keine Abschiedsworte nach. Ich habe dann den Vorhang zur ewigen Gnade durchschritten.“32

4Andere werden älter – ich nicht

      Selbstironisch schreibt ein alternder Mann im Internet33: „Die Menschen meiner Altersgruppe haben sich verändert. Sie sehen alle viel älter aus als ich. Kürzlich traf ich einen Schulkameraden, der so gealtert war, dass er mich nicht mehr erkennen konnte. Vieles ist heute anders als früher. Es ist zweimal so weit zum Park und nun ist auch noch ein Berg dazwischen. Es kommt mir so vor, als würde man die Treppen heute steiler machen.

      Und ich habe längst aufgegeben, zum Bus zu rennen, der fährt jetzt schneller weg als früher. Zeitung lesen fällt jetzt auch schwerer, weil sie die Schrift verkleinert haben. Es hat auch keinen Sinn, jemand zu bitten, mir etwas vorzulesen, denn sie sprechen alle so leise, dass ich sie kaum verstehe. Auch die Klamotten sind neuerdings so eng geschneidert, besonders um die Hüften herum. Es fällt mir immer schwerer, mich zu bücken, um meine Schuhe zu binden.

      Die Wartezimmer beim Arzt sind mir fast so vertraut wie mein Wohnzimmer. Vor wenigen Wochen hat ein Arzt zu meinem Nachbarn, der nur zwei Jahre älter ist als ich, gesagt, in seinem Alter lohne sich die Operation nicht mehr. Aber eines freut mich und zeigt mir, dass ich doch noch nicht so alt bin: Ich bin unverändert kontaktfreudig und lerne jeden Tag neue Menschen kennen. Einige von denen sagen allerdings, sie würden mich schon lange kennen!“

      Ist der Mensch erst einmal erwachsen, wiegt er sich gern in dem Glauben, dass es ewig so weitergeht. Das liegt unter anderem daran, dass die Entwicklung der Persönlichkeit bis etwa zum 35. Lebensjahr weitgehend abgeschlossen ist. Im Gehirn ist diese Ich-Funktion vor allem in den Regionen hinter den inneren Augenbrauen lokalisiert. Diese neuronalen Netzwerke machen das Erleben einer eigenständigen Person möglich. Der Mensch erfährt sich als mehr oder weniger stabile Einheit, die sich durch Lebenserfahrung weiter ausformt. Das Gehirn ist, so der Neurowissenschaftler Gerhard Hütter34, eine zeitlebens offene Struktur, die sich im Laufe des Lebens ändert, weiterentwickelt, aber wie andere Körperstrukturen auch dem Alterungsprozess unterworfen ist und Leistungseinbußen erfährt. Anders als bei genetisch determinierten Lebensformen, wie z. B. Insekten, biologisch determinierten, wie Vögel und Säugetiere, die nur in bestimmten Lebensabschnitten lernen, kann das Gehirn eines Menschen bis zum Lebensende lernen, selbst wenn es degenerative Veränderungen bis hin zur Demenz aufweist und dadurch die normale Kommunikation beeinträchtigt. Selbst ein dementer Mensch kann die Frage nach der Freude am Leben noch bejahen. Je trainierter allerdings das Gehirn, so der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, desto länger bleibe die Denkleistung und das Bewusstsein, ein Ich zu besitzen, erhalten.35 Stabile Ich-Funktionen stellen in gewisser Weise ein Dilemma dar: Einerseits sind sie essenziell für die geistige Entwicklung und das Funktionieren in der Gesellschaft, andererseits aber können sie auch die Verhaftung an ein Ich oder Ego verstärken und das Loslassen im Sterbeprozess erschweren.

      Der Mensch erlebt den Alterungsprozess durch das Schwinden der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit, der Beweglichkeit und der Kondition. Besonders im Vergleich mit anderen kann er erkennen, dass seine körperlichen und geistigen Kräfte nachlassen und sich seine Ansichten über das Leben verändern. Dem Meditationslehrer Larry Rosenberg wurde sein Alter – er war etwas über 60 Jahre alt – erstmals bewusst, als jemand ihm einen Sitz in der U-Bahn anbot, wo doch sonst immer er derjenige war, der anderen seinen Platz angeboten hatte.

      Wie ist es bei Ihnen? Wann ist Ihnen zum ersten Mal wirklich aufgefallen, dass Sie zu den Älteren gehören?

      Das Nachlassen unserer Energien und – langfristig betrachtet – das Sterben ist mitten unter uns, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Die Anti-Aging-Industrie will uns mit zahllosen Angeboten glauben machen, dass dem nicht so sei. In der Geschichte der Kosmetika und Medikamente wurden schon immer ‚böse’ Stoffe gefunden, die angeblich zum Altern beitragen, und neue Substanzen und ‚Therapien‘ entwickelt, die davor schützen sollten. Abgesehen von Substanzen, die nachweislich gesundheitliches Leid verringern, und solchen, die erwiesenermaßen die Gesundheit schädigen (Rauchen, Alkohol, Drogen) – wäre es nicht besser, das Altern