haben? Vielleicht gibt der argentinische Dichter Jorge Luis Borges, der im Alter von 85 Jahren das folgende Gedicht schrieb, eine Antwort darauf:
AUGENBLICKE
Wenn ich mein Leben
noch einmal leben könnte, im nächsten Leben,
würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen.
Ich würde nicht so perfekt sein wollen,
ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich gewesen bin,
ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen.
Ich würde nicht so gesund leben.
Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen,
Sonnenuntergänge betrachten,
mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen,
die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten;
freilich hatte ich auch Momente der Freude,
aber wenn ich noch einmal anfangen könnte,
würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt,
aus diesen besteht nämlich das Leben;
nur aus Augenblicken, vergiss nicht den jetzigen!
Wenn ich noch einmal leben könnte,
würde ich vom Frühlingsbeginn an
bis in den Spätherbst hinein
barfuß gehen.
Und ich würde mehr mit Kindern spielen,
wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie …, ich bin 85 Jahre alt und weiß,
dass ich bald sterben werde.55
Dieses Gedicht macht deutlich, wie sehr der herannahende Tod die Zeit immer kostbarer werden lässt, „wie ein Tag, unterweilen eine Stunde im Preis hochgeschraubt ward, wenn der Sterbende mit dem Tode marktete…“56
Der amerikanische Psychotherapeut Sheldon Kopp empfiehlt in seinem Buch „Triffst Du Buddha unterwegs“57, sich selbst einen – wie er formuliert – ‚eschatologischen Waschzettel’ zu schaffen, der vielleicht in Form einer Auflistung wie bei Kopp, vielleicht aber auch in Form eines Gedichtes wie oben, das auflistet, was für Sie im Leben bis in die letzten Stunden vor Ihrem Sterben wichtig ist. Angehörige, Sterbende und Begleiter können sich damit besser vor Augen halten, auf welche Dinge sie besonders achten wollen. Hier ein paar Vorschläge aus meinem eigenen Waschzettel:
• Tu nur eine Sache zu einer Zeit.
• Tu das, was du tust, mit ganzem Herzen.
• Atme wenigstens einmal tief durch, ein Seufzer, und halte inne, bevor du loslegst, etwas zu tun.
• Bedenke: Der jetzige Augenblick ist alles, mehr gibt es nicht.
• Tu das, was du tust, so gut du kannst.
• Bewahre dir ein inneres Lächeln.
• Mach dich nicht zum Opfer, indem du in Selbstmitleid badest.
• Stopfe die Zeit nicht mit Aktivitäten voll. Geistiges Entleeren bringt das Wesentliche zum Vorschein.
• Lass das Grübeln über gestern und morgen, lerne aber aus den Fehlern.
• Drei Angelegenheiten gibt es: meine, deine, seine. Ob die Erde sich dreht, ist seine, die des andern – nicht die deine. Sei deshalb nicht überverantwortlich.
• Hetze nicht durch die Zeit. Sie läuft schneller als du.
• Hafte nicht an Dingen, leidenschaftlichen Gefühlen und verpassten Gelegenheiten.
• Alle Dinge vergehen schnell. Du bist nur eine Sternschnuppe in der Zeit und kannst nichts festhalten.
• Du bist nur, was du bist. Alle, die edler sein wollen, als sie können, verfallen der Neurose. Es wäre besser, wenn es ihnen möglich gewesen wäre, schlechter zu sein (nach S. Freud). Steh also zu dir.
• Sei im Wesentlichen einfach und klar.
• Achte auf deine Inspiration, folge deiner Intuition.
• Was kommen wird, ist noch nicht da und entspricht dann sowieso nur selten der Realität.
• Hoffnung und Befürchtung besetzen den klaren Geist und vernebeln das Sein.
• Erleuchtung hin oder her – man muss trotzdem Holz hacken und Wasser holen.
• Wenn du gefrühstückt hast, dann geh und wasch deine Ess-Schalen.58a
• Einatmen, ausatmen – frage dich, wer da atmet.
• „Ein Samurai entscheidet in sieben Atemzügen. Langes Überlegen stumpft den scharfen Rand der Entscheidung ab.“58b
• Das eigentliche Leben ist jenseits von Denken und Nichtdenken.
• Übe dich in Bescheidenheit und Demut.
• „Sei weise und wuchere mit dem Augenblick. Nur einmal machst du diese Reise. Lass eine Segensspur zurück.“ (Spruch der Salesianer)
• Sei beweglich wie fließendes Wasser.
• Sei im Geben großzügig. Gib, was dir möglich ist, aber wisse um deine Grenzen.
• Sitze so viel wie möglich in stiller Meditation. Im Sitzen setzt sich auch der Geist und die Klarheit tritt einfach hervor.
• „Du musst nicht alles erzählen, was wahr ist. Aber das, was du sagst, sollte wahr sein.“ (Konfuzius)
• „Fürchte dich nicht.“ (Jesus)
• Vergiss die Liebe nicht! Unbefleckt offenbart sie die Schönheit des Seins in jedem Augenblick.
8 | Der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit |
„Das Aufleuchten der Gewissheit des eigenen Todes bedeutet, sich zu vergegenwärtigen, dass mit dem Tod endgültig alles vorbei ist und dass das Lebensende eine Grenze darstellt, jenseits derer keine Möglichkeit mehr besteht, zu handeln, etwas zu korrigieren oder einen Fehler wiedergutzumachen. Alle Projekte und Zukunftsplanungen finden ihr jähes Ende.“59
Mitunter haben wir keine Zeit, uns auf unseren Tod einzustellen, er überrascht uns völlig unerwartet, inmitten irgendeiner Tätigkeit. So wie plötzlich eine Krankheit über uns hereinbricht, genauso kann uns der Tod ereilen. Tatsache ist, dass der Augenblick des Todes nicht vorausgeschaut und eingeschätzt werden kann. Wie vieles andere entzieht er sich unserem Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle. Treffend meint die Psychoonkologin Sabine Lenz in einem Bericht über eine krebskranke Frau, die ihr Leben und alles um sie herum im Griff hatte: „Sie hatte eine Krankheit bekommen, die mit unkontrolliertem Zellwachstum zusammenhing.“ Sie war an Kontrollverlust erkrankt.60
„Stirb jeden Morgen“, heißt es im Hagakure, dem Kodex der Samurai. „Stell dir jeden Morgen aufs Neue vor, dass du bereits tot bist. Halte dich jeden Morgen, wenn dein Geist friedvoll ist, ohne Unterlass für tot, denke über verschiedene Arten des Todes nach, stelle dir deinen letzten Augenblick vor, wie du von Pfeilen, Kugeln und Schwertern in Einzelteile zerfetzt wirst, von einer Woge weggespült wirst, in ein rasendes Feuer springst, von einem Blitz erschlagen wirst, in einem großen Erdbeben untergehst, von einer schwindelerregenden Klippe stürzt, an einer tödlichen Krankheit leidest oder plötzlich tot umfällst.“61 Dieser Text ermahnt den Samurai, eine geistige Einstellung zu entwickeln, die seine Bereitschaft, den Tod in jedem Augenblick mit in das Leben einzubeziehen, möglich machen soll.
Es wäre schön, wenn Sterben einem festen